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EU: Positionssuche im Powerplay

Published On: 4. November 2022 10:08

Westeuropa hat alle Warnungen vor dem russischen Imperialismus ignoriert und dafür die Quittung erhalten. Der Fehler darf sich, so lautet der Konsens, im Umgang mit Peking nicht wiederholen. Der Wind gegenüber China hat gedreht, auch in Deutschland, wo man die Augen besonders hartnäckig vor der Realität verschloss. Nicht untypisch fällt man dort vor der Kanzlerreise von einem Extrem ins andere.

Bevor man jedoch auf einen neuen Konflikt zusteuert, sollte man seine Stärken und Schwächen analysieren.

Henry Kissinger hat das Mitte der neunziger Jahre mustergültig getan. Die USA standen damals im Zenit ihrer Macht, dennoch beurteilte er die Aussichten seines Landes skeptisch: „Geopolitisch betrachtet, ist Amerika eine Insel weitab der riesigen Landmasse Eurasiens. Die Beherrschung einer der beiden Hauptsphären Eurasiens – Europas also und Asiens – durch eine einzige Macht ist eine gute Definition für die strategische Gefahr, der sich die Vereinigten Staaten einmal gegenübersehen könnten.“

Ein Vierteljahrhundert später ist die Gefahr Realität. China schickt sich an, mit den USA gleichzuziehen. Das erklärt die amerikanischen Ängste. Die Konstellation verdeutlicht aber auch, was Europa von Amerika unterscheidet.

Seit je streiten Militärs und Gelehrte darüber, was der Schlüssel zur Weltherrschaft ist: die Kontrolle der Meere oder jene des eurasischen Superkontinents? Großbritannien und die USA gründeten ihren Vorrang auf die Marine. Amerika dominiert bis heute die See: den Atlantik, den Pazifik und den Indischen Ozean.

Nun strebt China nach der Herrschaft über beides, Land und Meer, den Pazifik wie Eurasien. Diese Möglichkeit beschäftigt Washington mehr als jeder Handelsstreit. China besitzt inzwischen die größte Kriegsmarine der Welt. Der zahlenmäßige Umfang ist nicht entscheidend, wohl aber das Tempo, mit dem Peking aufrüstet.

China: Wirtschafts- und Militärmacht

Wirtschaftliche Stärke übersetzt sich in militärische Macht. So ist das Verteidigungsbudget des Lands größer als die Militäretats seiner Nachbarn Indien, Japan, Südkorea und Taiwan zusammen. Die chinesischen Streitkräfte sind bereits in der Lage, die US-Navy aus einem Teil des Pazifiks auszusperren.

Im Spannungsfall wird Peking versuchen, ein bis Japan reichendes Areal unpassierbar zu machen. Die amerikanischen Verbündeten Südkorea und Japan wären dann auf sich allein gestellt, Taiwan ohnehin.

Zur Expansion auf dem Meer kommt die Expansion in Eurasien. Die Geopolitik des Superkontinents wird in den nächsten Jahrzehnten die politische Arena bestimmen. Diese gewaltige Landmasse umfasst so gegensätzliche Regionen wie Europa, den Nahen Osten und Zentralasien, weshalb sie nicht als Einheit wahrgenommen wird.

Die Globalisierung hat indes den Faktor Zeit schrumpfen lassen; Menschen, Waren und Ideen überwinden die Distanzen schneller denn je. Hier wächst zusammen, was schon immer zusammengehörte. Der Superkontinent beherbergt mit der EU, Russland und China drei der vier wichtigsten politischen Player. Dort leben 70 Prozent der Weltbevölkerung. Sie generieren 70 Prozent des globalen Bruttoinlandprodukts.

Der Koloss ist zu groß, um von einer Macht dominiert zu werden. Dennoch versucht China, Fakten zu schaffen. Die chinesische Staatsfirma Cosco erwirbt Anteile an Häfen in ganz Europa, nun auch in Hamburg. Sie kontrolliert den kasachischen Güterbahnhof Korgas, der eine Drehscheibe des eurasischen Eisenbahnverkehrs werden soll. China modernisiert Schienenverbindungen bis nach Duisburg, um Transportzeiten und Kosten zu verringern.

Plant China die Verdrängung der USA?

Aus amerikanischer Optik erscheint es so, als plane China die große Verdrängung der USA im Pazifik wie in Eurasien. Die Europäer haben Mühe, sich in dem Powerplay zu positionieren. Sie können sich nicht auf eine Position der Äquidistanz zurückziehen, denn sie teilen mit den USA zu viele Werte und Interessen.

Doch der Grundkonsens westlicher Demokratien bedeutet keine sklavische Gefolgschaft. Die Europäer befinden sich gegenüber Peking in einer anderen Situation. Sie sind keine pazifische Macht, China stellt für ihre Sicherheitsinteressen keine direkte Bedrohung dar.

Die USA sehen sich durch China im Pazifik herausgefordert, haben aber sichere Landgrenzen zu Kanada und Mexiko. Für Europa verhält es sich genau andersherum. Hier lauert die Bedrohung nicht in der Ferne, sondern vor der Haustür: in Russland, dem Nahen Osten und im Maghreb, der Endstation des großen afrikanischen Flüchtlingstrecks.

Europa teilt mit China zudem den Superkontinent. Dies bedeutet automatisch eine Vielzahl von Verbindungen, die sich nur zu einem hohen Preis kappen lassen. Die deutsche Vorzeigebranche schlechthin, die Autoindustrie, verkauft 40 Prozent ihrer Fahrzeuge in China. Eine wirtschaftliche Abkopplung ist keine gute Idee, genauso wenig wie ein Verbot chinesischer Investitionen in Infrastruktur wie in Häfen.

In der Digitalwirtschaft haben die USA noch eine Vormachtstellung, Peking strebt aber nach Autarkie. Auf diesem Kampffeld sind die Europäer Zuschauer. Für sie stellt sich die Frage der Sicherheit bei Anbietern aus beiden Ländern.

Mangelnde Geschlossenheit der EU-Staaten

Früher empörte sich Europa über die Überwachungsmethoden der US-Geheimdienste. Heute wird die Debatte einseitig mit Bezug auf China geführt. Am klügsten ist, nicht alle Eier in einen Korb zu legen.

Was also kann Europa tun? Militärisch ist es ein Zwerg. Europas Macht liegt im Binnenmarkt, der sich auch für politische Zwecke einsetzen lässt. Das allerdings erfordert Geschlossenheit – eine Tugend, die nicht zum Grundbestand der EU gehört.

Olaf Scholz reist nicht als Emissär der EU nach China, sondern als deutscher Kanzler. Berlin und Paris zanken gerade inbrünstig; in Brüssel ist daher wieder Blockade statt Einigkeit angesagt. Ungarn und Italien ließen sich ohnehin schon bereitwillig von China instrumentalisieren. In der Außenpolitik ist die EU keine Union, sondern ein Hühnerhaufen.

Scholz macht das, was vor ihm jeder deutsche Regierungschef seit Helmut Schmidt in China getan hat. Er spielt die Stärke der Wirtschaftsgroßmacht aus, ohne Rücksicht auf die EU-Partner. Diese verfolgen genauso ihre nationalen Sonderinteressen, weshalb Peking die Europäer leicht gegeneinander ausspielen kann.

Realpolitik und wertegeleitete Außenpolitik

Politiker und Medien reden oft über Sanktionen gegen China. Werden diese inflationär angedroht, verlieren sie rasch an Wert. Moralische Entrüstung ist kein Selbstzweck.

Realpolitik heißt gegenüber China, sich nicht auf Hongkong und die Rechte der Uiguren zu konzentrieren, denn beides betrachtet Peking als innere Angelegenheit. Es lässt sich daher nicht von Sanktionen abschrecken, so wenig wie nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz. Wertegeleitete Außenpolitik richtet gegen eine Weltmacht wenig aus.

Worum es sich mit Peking zu streiten lohnt, sind andere Themen: die Öffnung des chinesischen Markts oder die Souveränität von Staaten wie Vietnam oder Indonesien. Europa hat alles Interesse daran, dass Asien nicht durch Peking gleichgeschaltet wird.

Der Brennpunkt in dieser Konfrontation ist Taiwan, wo der EU ohnehin nichts anderes bleibt als sich dem amerikanischen Geleitzug anzuschließen. Alles andere wäre gegenüber dem Garanten europäischer Sicherheit ein Affront.

Europas Hauptproblem ist Russland

Europa sollte sich jedoch in der Debatte um Taiwan nicht am Säbelrasseln von US-Generälen und -Politikern wie Nancy Pelosi beteiligen. Das europäische Hauptproblem heißt Russland. Es gleichzeitig mit Peking wie Moskau aufnehmen zu wollen, zeugte von Größenwahn. Zumal China Putin eher symbolisch unterstützt und keine Waffen liefert. Bliebe Peking im Ukraine-Krieg halbwegs neutral, wäre dies eine Niederlage für den Kreml und ein strategischer Erfolg für den Westen.

In der Ukraine kann der forsche Kommunist Xi Jinping betrachten, was passiert, wenn Kriege auf ideologischer Verblendung statt auf einer klaren Strategie beruhen. China wird weiter in sein Militär investieren und abwarten.

Die kritische Phase beginnt für Taiwan wohl erst im nächsten Jahrzehnt. Bis dahin kann sich Europa wappnen, Russland zurückdrängen und die Abhängigkeit von chinesischen Lieferketten reduzieren.

Das bedeutet keine umfassende Eindämmungspolitik, von der in Washington manche träumen. Für Europa aber ist auch diese Aufgabe groß genug. Man sollte sich jedenfalls hüten, wegen eines Russland-Syndroms infolge der sträflichen Naivität im Umgang mit Moskau nun auch ein China-Syndrom zu entwickeln.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 4.11.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung

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