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Maria spricht nicht mehr Russisch

Published On: 7. November 2022 10:11

KARENINA: Dieses Gespräch zeichnen wir auf Englisch auf. Warum?

Maria Petrowa: Ich bin aus Charkiw. Ich habe mein ganzes Leben lang immer russisch gesprochen. Alle meine Freunde, meine Verwandten, meine Eltern sprachen russisch. In Charkiw sprechen alle russisch. Sogar jetzt noch. Nach der Invasion im Jahr 2014 war ich 14, und ich verstand überhaupt nicht, was da passiert war. Ich habe jetzt erst begriffen, dass die ukrainische Sprache stirbt.

Ich möchte das nicht unterstützen. Die ukrainische Sprache ist sehr schön, und ich möchte sie sprechen. Ich möchte, dass meine Kinder ukrainisch sprechen. Gerade jetzt in diesem Moment, wo ich versuche, russisch zu denken und zu sprechen, fühle ich mich unwohl. Ich fühle, dass es die Sprache eines Aggressors ist. Das ist nicht meine Sprache. Ich weiß nicht, wie das passiert ist. Ich habe einfach umgeschaltet.

Die ukrainische Sprache stirbt

Russland versucht, ein Land zu zerstören, das nicht mehr Teil der Sowjetunion ist, das selbständig sein will. Es versucht, seine Kultur, seine Sprache und seine Menschen zu vernichten. In der Sowjetunion wurden ukrainische Bücher verbrannt. Und jetzt leben wir so, dass wir zwar Ukrainisch verstehen, aber trotzdem russisch sprechen.

Die russische Propaganda sagt, ein Grund dafür, dass Putin diesen Krieg angefangen hat, sei, dass die Menschen, die in der Ukraine russisch sprechen, drangsaliert würden. Aber es war genau andersherum. In der Ukraine wurden die Leute drangsaliert, die ukrainisch sprachen. „Aus was für einem Kuhkaff kommst du denn? Wieso sprichst du denn ukrainisch?“

Wenn man in Charkiw ukrainisch gesprochen hat, kam immer die Frage: Warum? Weil alle russisch sprachen. Die Leute fragten immer nach, weil sie wissen wollten, ob jemand etwa nicht aus Charkiw ist, oder ob er eine bestimmte politische Einstellung hat, und deshalb spricht er ukrainisch.

Ich denke, im gesamten Ostteil der Ukraine war das so, also in Charkiw und im Donbas. In Kiew, glaube ich, sprechen die Leute zur Hälfte russisch und ukrainisch.  Je näher man der Westukraine kommt, desto stärker herrscht das Ukrainische vor. Lwiw ist rein ukrainisch-sprachig. Im Charkiwer Fernsehen gab es, je nach Sender, Ukrainisch und Russisch. Aber das war kein Problem, weil ja alle beide Sprachen verstanden.

Ich wohnte und arbeitete in Charkiw

In Charkiw wohnte ich allein. Jetzt bin ich gerade 22 Jahre, ich habe 2020 einen College-Abschluss im Fach Klavier und Dirigieren gemacht, mit der Befähigung zum Unterrichten. Danach fing ich an, darüber nachzudenken, was ich arbeiten kann.

Ich gab Privatunterricht und habe kleine Orchester dirigiert. Aber diese Jobs brachten mir in der Ukraine nicht genug Geld ein. Also überlegte ich, was ich noch machen könnte. Ich mag Kaffee und Wein, deshalb nahm ich einen Job in einer Bar an. An der Uni weiterstudieren wollte ich nicht, denn nach neun Jahren an der Musikschule hat man alles gelernt, was man braucht, eine höhere Ausbildung ist nicht unbedingt nötig. Am Konservatorium, an einer Musikhochschule kann man höchstens noch neue Kontakte knüpfen und neue Leute treffen, aber mehr auch nicht.

Mein Vater ist Designer. Er macht Masken und Accessoires aus Leder im Steampunk-Stil. Meine Mutter hat schon einige Berufe in ihrem Leben ausprobiert. Sie war Werbetexterin und Fotografin. Jetzt ist sie Astrologin.

Sie haben sich getrennt, als ich vier Jahre alt war. Aber wir haben ein gutes Verhältnis. Ich habe eine Stiefmutter und einen jüngeren Bruder aus der zweiten Ehe meines Vaters, der ist jetzt zwölf Jahre alt. Außerdem habe ich noch eine ältere Schwester, die ist 24; wir haben dieselben Eltern.

Der 24. Februar: Ich rechnete nicht mit Krieg

Ich wohnte in meiner eigenen Wohnung, die ich von meiner Großmutter geerbt hatte. Einige Wochen vor dem Einmarsch haben alle darüber gesprochen, weil wir wussten, dass Truppen und Panzer an die Grenze verlegt wurden. Jeder wusste das.

Trotzdem dachten viele, so wie ich auch, dass nichts passieren würde. Ich glaubte es nicht. Obwohl mein Vater zwei Wochen vor dem Krieg meine Stiefmutter mit ihrem Sohn nach Lwiw schickte und mich fragte, ob ich auch weg will, wenigstens nach Lwiw. Aber damals verstand ich nicht, wozu.

Am 24. Februar wachte ich früh um sechs Uhr auf. Die erste Bombe auf Charkiw traf den Funkmast, deshalb fiel das Internet in meiner Wohnung aus. Mobiles Internet funktionierte auch nicht. Ich hatte tief und fest geschlafen und wusste nicht, was los war. Meine Wohnung liegt im Bezirk Sloboshansk in der Nähe des Flughafens, und es ist wohl ein reines Wunder, dass sie immer noch unversehrt ist. Ich hörte die Bomben, es war gar nicht so laut. Aber es war zum ersten Mal in meinem Leben, dass ich Bomben fallen hörte.

Ich wollte erst überhaupt nicht weg. Ich dachte, wenn ich bleibe, wird alles gut. Dass der Krieg nicht lange dauern würde. Wir sind doch im 21. Jahrhundert, im Jahre 2022. Vielleicht dauert das alles ja nur eine Woche und dann ist es vorbei? Ich dachte, ich kann einfach abwarten.

Die Erde unter den Füßen bebte

Dann rief mich mein Vater an und sagte, ich solle meine Sachen packen, die wichtigen Papiere und alles, und mich fertig machen, er hole mich ab. Also packte ich meine Sachen, das Nötigste. Ich wollte es nicht glauben, aber ich packte sogar ein paar Sommersachen ein.

An diesem Abend hatte ich noch nicht wirklich begriffen, was da geschah. Ich saß einfach in der Küche und rauchte, ich hatte keine Lust zu essen oder zu trinken, auch nicht zu schlafen. Das war eine Extremsituation, in der der Körper nichts machen will. Sich nur auf die Nachrichten konzentrieren und ständig aufs Telefon schauen.

Dann rief mich ein Freund an und sagte, sie hätten einen Platz im Auto frei, und sie wollten in den Westen fahren. Damals erzählte man sich schon, dass es passieren könne, dass unterwegs jemand das Auto stoppt und ausraubt. Die Ausgangsperre hatte schon begonnen, deshalb verbrachten meine Freunde und ich die Nacht in einer Metrostation.

Es war sehr kalt dort, beängstigend, es gab viele Menschen. Dann zogen wir in das Haus von dem Freund mit dem Auto um, aber an diesem Morgen fuhren wir nirgends hin, weil wir Angst hatten.

Wir begannen nach Zügen zu schauen, die nach Lwiw fuhren und gingen zum Bahnhof. Zwei oder drei Stunden standen wir bei Schnee auf dem offenen Bahnsteig, mit schweren Taschen. Ständig hörte man Durchsagen, es käme bald ein Zug, aber des kam keiner. Schließlich kam doch ein Zug, aber niemand durfte rein.

Dann fielen Bomben in der Nähe des Bahnhofs, wir hörten die Detonationen, sie kamen immer näher und wurden immer lauter. Dann spürten wir plötzlich, wie die Erde anfing zu beben. Die Menschen gerieten in Panik. Manche suchten im Bahnhofsgebäude Deckung, andere liefen zur Metro, manche liefen nur herum und schrien. Das war der 25. Februar.

Die folgende Nacht verbrachten wir wieder in der Metro, weil das einer der sichersten Orte war. Am 26. Februar gingen mein Freund und ich wieder zum Bahnhof, wir verbrachten den ganzen Tag dort, um irgendeinen Zug zu bekommen. Ein Zug fiel aus, der nächste war überfüllt, und erst nach Beginn der Ausgangssperre, als nicht mehr so viele Menschen dort waren, erwischten wir endlich einen Zug, in den wir hineinkamen. Wir wußten nicht einmal, wo er hinfuhr. Der Schaffner hatte einfach gesagt, er fahre nach Westen. Wir fuhren auf der Plattform.

Nach 22 Stunden kam der Zug in Lwiw an. Ich hatte keinen bestimmten Plan, was ich weiter machen sollte, aber dort waren immerhin schon mein Vater und meine Schwester, es gab einen Platz, wo wir bleiben konnten.

Wien, Berlin, Studium

Mein Vater sagte mir, ich solle nach Europa fahren, nach Wien, das war die erste Station, wo wir jemanden kannten – meine Stiefmutter war schon dort. Drei Tage später war ich in Wien. Ich war mit einem Bus gefahren, an der Grenze hatte es nur drei bis vier Stunden gedauert, das war sehr gut. In Wien blieb ich auch etwa drei Tage.

Dann sagte mein Vater, ich solle nach Berlin fahren, wo er Freunde hat, die mir helfen konnten. Ich bekam ein kostenloses Ticket von Wien nach Berlin. Ich war vorher noch nie in Europa gewesen. Ich wusste nur, dass in Berlin eine Freundin meines Vaters lebt, und dass sie mir helfen würde. Sie ist Ukrainerin, auch aus Charkiw. Sie half mir, eine Unterkunft zu finden, wo ich die ersten zwei Monate verbrachte. Ich konnte noch kein Englisch, das habe ich erst in Berlin gelernt. Dann fand mein Gastgeber für mich ein kostenloses Programm für Einwanderer an der Berlin International University of Applied Sciences.

Jetzt gehe ich jeden Tag auf den Campus, ich studiere UI/UX Design. Ich bekomme Unterstützung vom Arbeitsamt, das zahlt auch die Miete für meine Unterkunft.

Ich habe keine Erwartungen an Berlin oder an Europa, ich brauche einfach einen sicheren Ort. Es ist gut, dass ich hier bin. Hier gibt es sehr viele gute Orte und gute Menschen.

Ich habe niemanden getroffen, der gesagt hätte, er befürworte diesen Krieg. Ich weiß nicht, wie ich in so einer Situation reagieren würde. Einerseits könnte ich sehr wütend werden. Aber auf der anderen Seite, warum soll ich mich mit so jemandem auf einen Konflikt einlassen? Das hat doch keinen Sinn. Ich lese nicht einmal besonders viel ukrainische Nachrichten. Im Moment brauche ich Zeit, um über mich selbst nachzudenken. Was ich machen kann.

Ich besuchte Freunde in der Ukraine

Meine Mutter ist jetzt in München, sie hat zwei oder drei Wochen nach Kriegsbeginn den Beschluss gefasst, wegzugehen. In Charkiw konnte man auch kaum bleiben, die Stadt wurde täglich bombardiert.

Seit ich in Berlin bin, war ich zweimal zu Besuch in der Ukraine. Ich war zehn Tage in Lwiw und hab meine Freunde getroffen. Ich will zurück in die Ukraine. Aber jetzt wäre für mich die ideale Option, eine Fernarbeit zu finden, die nicht an einen bestimmten Ort gebunden ist.

Ich würde gern weiter Musik machen. Ich spiele jetzt Klavier, es gibt eins in meiner Wohnung. Ich spiele Klassik, Bach, Beethoven, Chopin, Haydn, Debussy, Liszt. Aber ich würde auch gern Techno ausprobieren.

Ich habe hier ein paar Freunde, die auch aus Charkiw hergekommen sind. Fünf Mädchen, die ich noch von vor dem Krieg kenne, sind hier. Das ist sehr gut, ich habe einen Freundeskreis, Gesellschaft, Unterstützung. Ich denke, ohne sie wäre es schwierig. Einige von ihnen haben angefangen, ukrainisch zu sprechen, andere nicht. Aber ich spreche mit ihnen nur ukrainisch. Wenn jemand aus der Ukraine ist, spreche ich ukrainisch mit ihm. Wenn jemand aus Russland ist oder anderswoher, dann englisch.

Vielleicht ändert sich irgendwann mal wieder was, dann spreche ich vielleicht auch wieder russisch. Im Augenblick kann ich nur lesen, Informationen aufnehmen. Aber nicht antworten.

Ich glaube, viele Ukrainer hassen die Russen. Alle Russen. Weil die offiziellen Nachrichten in Russland sagen, 70 Prozent der Russen würden den Krieg befürworten. Ich spüre auch, dass ich nicht mit Russen zusammenarbeiten will. Ich will sie nicht mit meinem Geld unterstützen: Musik auf Spotify hören oder russische Blogger anschauen. Das mache ich nicht. Leider musste ich einige russische Musiker aus meiner Playlist löschen, deren Musik mir gefiel. Aber ich will Russland nicht unterstützen.

Ich glaube, in der Ukraine gibt es auch Propaganda, die diesen Hass anheizt. In mir gibt es diesen Hass. Aber ich will niemanden hassen. Ich will niemanden töten. Das ist immer noch eine sehr komplizierte Frage. Einerseits denkt man, dass sie es sich ja nicht ausgesucht haben, wo sie zur Welt gekommen sind. Aber andererseits unterstützen sie das. Und ich frage mich immer wieder, was ich fühlen soll, wie ich mit ihnen kommunizieren soll. Jetzt versuche ich einfach Abstand davon zu bekommen, um das zu verstehen.

Mit Maria Petrowa sprach Tatiana Firsova am 9.9.2022. Die Transkription übernahm Anastasiia Kovalenko, aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa.

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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