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Mit Kultur gegen den Komplex

Published On: 7. November 2022 13:35

Die ukrainische Kultur als eigenständiges Phänomen entstand, als die Ukraine ihre Unabhängigkeit erlangte. Zu Beginn waren nur sehr wenige Künstler begierig darauf, sich selbst und ihre Weltanschauung zu präsentieren. In der abgeschlossenen Atmosphäre der Sowjetunion hatte sich die Kultur auf propagandistische Motive zu beschränken, und Versuche, vom vorgegebenen Ideal abzuweichen, wurden entweder sofort unterbunden, oder sie entwickelten sich klandestin in Nischengruppen.

Auf diese Weise entstand der ukrainische Folk. Die sowjetische Propaganda priorisierte die Volksmusik, um das Nationalgefühl zu steigern, jegliche Neigung in Richtung westlicher Werte zu unterbinden und die Kontrolle über die Freiheit des Volks zu behalten. Aber während eben dieses Volk in ukrainischer Volkstracht auf die Bühne ging, begann es auch, seine Volksmusik neu zu denken und band auf einmal Jazzmotive ein.

Das geschah in den Städten. Auf dem Land war – und ist es in vielerlei Hinsicht immer noch – die Musikkultur volkstümlich.

Folklore in Popmusik und Jazz

Ich wurde fünf Jahre nach der Unabhängigkeit der Ukraine geboren, und unbeeinflusst vom Geschmackstrend zur westlichen Kultur sang ich mit meiner Großmutter Volkslieder zur Bandura oder zur Sopilka oder begleitet von einem lokalen A-capella-Chor. Die Liebe zur Folklore kann man in der Arbeit vieler moderner ukrainischer Musiker beobachten. Aber das Lebenstempo verändert sich, und die langen Volkslieder mit teilweise 16 Strophen will heute niemand mehr hören.

Deshalb entstehen neue Versionen, nicht isoliert von der Folklore-Tradition, sondern auf ihrer Grundlage. Der ukrainische Folk dringt in alle Genres ein, von der modernen Popmusik über Jazz und Hip-Hop sogar bis in den Hard-Rock.

DahaBrakha, ONUKA, Alina Pash, Go-A, Kalush und viele andere ukrainische Gruppen verwenden in ihrer Musik volkstümliche Motive und Instrumente. Die Bandura als Instrument ist wieder sehr populär geworden, aber ihr Spiel verweist nicht mehr in die Vergangenheit, sondern sie wird für die Gegenwart neu interpretiert.

Flucht in den Tanz?

Im Jahr 2014 begannen die europäischen Medien, über die Ukraine zu berichten. Zuerst über die Ereignisse auf dem Maidan, dann über die Kultur der neuen Tanzpartys. Das heißt über die Raves. Die Medien setzten den Aufschwung der Rave-Kultur in Beziehung zu der tragischen Situation in der Ukraine, sie verstanden sie als Flucht in den Tanz.

War es tatsächlich eine Flucht oder eine klare Bewegung in Richtung Europa?

Die Frage bleibt offen. Aber unbezweifelbar ist, dass die Menschen in der Ukraine mit Hilfe der elektronischen Musik versuchen, nicht nur die Grenzen der klassischen Musikwahrnehmung, sondern des gesamten kulturellen Geschehens zu verschieben.

Vor dem Maidan litten die Menschen in der Ukraine an einer Art nationalem Komplex, dass etwas Ukrainisches nicht gut sein kann. Aber als dann wegen der Revolution einige Zeit lang ausländische Musiker sich nicht in die Ukraine trauten, erspürten die Ukrainer endlich die Qualität der heimischen Musik. Das war der Anstoß auch für ukrainische Musiker, mehr zu experimentieren und mehr Musik in der Ukraine zu produzieren.

Um besser zu verstehen, warum die Elektroszene in der Ukraine innerhalb so kurzer Zeit so viele Transformationen durchgemacht hat, wandte ich mich an den Musiker, Komponisten und Lektor Andriy Kyrychenko. Er wurde in Charkiw geboren und erforscht diese Musikrichtung seit 1998. Es dauerte lange, bis Andriy antwortete; er ist derzeit in der Ukraine, in Kiew, und wegen der ständigen Luftalarme hatte er einfach nicht die Muße zu schreiben.

Hier ist Andriys Antwort: „Nach der Annexion der Krim und dem Anfang des Kriegs im Osten der Ukraine kam es zu tektonischen Verschiebungen in der gesamten Struktur des Markts für elektronische Musik. Die Migration innerhalb des Lands erzeugte eine starke Konkurrenz, die erwartungsgemäß die Preise für die Miete der Anlagen etc. günstiger machte, eine professionelle Kaderschmiede in der Event-Sphäre generierte, die Eintrittsschwelle erhöhte und die Entwicklung der Karrieren beschleunigte.

2014 brachte einen wahren Boom in der elektronischen Szene. Kiew nutzte diese neuen Möglichkeiten, die der Zustrom von Enthusiasten bescherte, am besten für sich aus, es entstanden viele Clubs und Event-Szenen: CLOSER, der Kunst-Raum Mezzanine, Otel‘, Plivka, Kontrapunkt, Ephir, die Festivals Next Sound, Brave! Festival, Stritschka, AMI Jazz, Black Factory, Rhythm Büro und CXEMA zogen nicht nur das Publikum der Hauptstadt an, sondern Menschen aus allen Winkeln des Lands, auch aus dem Ausland.

Neben den Kiewer Festivals gibt es noch Atom in Shitomir, Plan B in Charkiw, Konstrukzija in Dnipro und Gamselit in Ternopil. Die Größe dieser Festivals und die ständig besser werdende Qualität machen es möglich, dass die Organisatoren ihr Publikum immer wieder mit interessanten, manchmal auch – im guten Sinn – schockierenden Line-ups überraschen konnten.

Ende der Zehner-Jahre kam ein Gefühl der Übersättigung auf, die Szene begann zu mutieren, sie segmentierte sich und bildete Interessengruppen. Ein paar Arrivierte wurden nostalgisch nach den Zeiten, in denen sich die Szene in einem engen visuellen und ideellen Kontext formulierte und die Face control extrem streng war.

Gleichzeitig entstand ein Trend zur Öffnung, die LGBT- und Queer-Bewegung. Aber das hat eher mit einer sexuell-neutralen Gesellschaft zu tun, in der die Türen für jeden offen waren und die sexuelle Orientierung keine Rolle spielte, weil es vor allem darum ging, Spaß an der Musik zu haben und nicht mit seinen biologischen Besonderheiten hausieren zu gehen.

Die elektronische Musik hatte eben gerade bei ihren Hörern die Fähigkeit zu bewußtem Konsumieren herangebildet, da kam plötzlich Covid. Die Isolation und die permanenten Einschränkungen haben den Markt und die Szene in Schräglage gebracht.

Wir hatten uns noch gar nicht richtig auf das allmähliche Ende der Pandemie eingestellt, als im Februar 2022 der nächste Schlag kam, in Gestalt der Invasion durch die Russische Föderation. Die Künstler, die die Ukraine verließen, fingen an, dem Land engagiert materiell zu helfen, durch Fundraising von Partys und Tourneen. Dabei sind viele immer noch aktiv.“

Klassische Musik und Jazz

Parallel zur Techno-Szene entwickeln sich in der Ukraine die klassische Musik und der Jazz. in der Kiewer Sophienkathedrale, einem National-Reservat mit tausendjähriger Geschichte – findet jedes Jahr das moderne Festival der Hohen Kunst „Bouquet Kyiv Stage“ statt. Das ist ein multidisziplinäres Festival, das seine Gäste für ein paar Tage ganz in eine Atmosphäre von Jazz, Elektronik, Klassik, moderner Kammermusik, symphonischer und experimenteller Musik versinken lässt. Es treffen sich dort ukrainische und ausländische Künstler, veranstalten audiovisuelle Performances, Filmvorführungen, Literatur- und Theater-Events.

2022 haben die Organisationen diese Tradition beibehalten und das Festival zu den Klängen der Luftalarmsirenen mit einem gekürzten Programm absolviert.

Das moderne Theater und der Gogol-Train

An die Neuinterpretation der Musik schließt sich auch das moderne Theater an. Dieses Phänomen kam in der Ukraine während der Perestroika in den Wilden Neunzigern auf. Zu dieser Zeit entstand das Zentrum für Moderne Kunst DACH, der erste private Theaterraum in der Ukraine. Heute ist DACH ein Laboratorium für die Erkundung des modernen Theaters. Die oben genannte Gruppe DahaBrakha, die seit langem weit über die Grenzen der Ukraine hinaus bekannt ist, und das Freak-Cabaret Dakh Daughters entstanden aus den Events von DACH, aus den Schauspieler-Initiativen und der Selbstorganisation dieses Raums.

Auf den Brettern des DACH kam auch das Wanderfestival GogolFest ans Licht. Dies fand seit 2018 in Mariupol statt, und in jedem Frühjahr fuhren Hunderte Menschen aus allen Ecken der Ukraine dorthin. Für dieses Festival wurde ein spezieller Art-Zug geschaffen, der die Teilnehmer nach Mariupol brachte, was den Raum für Dialog, Zusammenarbeit und die Kunst erweiterte.

Die Organisatoren schlossen einen Partnerschaftsvertrag mit dem Ministerium für Infrastruktur, und mit Unterstützung staatlicher Institutionen wurden acht Waggons des Zugs bemalt. „Gogol Train“ ist als ein Großprojekt kultureller Mobilität konzipiert, das es den Menschen leichter macht, zu reisen und Kulturveranstaltungen in unterschiedlichen Regionen des Lands zu besuchen.

Tanztheater: Spontan und emotional

Neben dem modernen, dem klassischen und dem experimentellen Theater in der Ukraine gibt es auch ein Tanztheater. Die Geschichte des ukrainischen Tanztheaters ist eine Serie von Spontanereignissen, die in den ersten Jahren der Unabhängigkeit begannen und symbiotisch weiterexistieren.

Seit einem Jahrzehnt entwickeln sich Praktiken der Interaktion in der Bewegung, und die Choreographie ist nicht mehr das zentrale Element des Tanzes. Im Zentrum stehen jetzt die Emotion und die Reaktion des Tänzers auf diese Emotion.

Die Kunst hat sich im Krieg verändert

Wie hat sich die Kunst in der Ukraine während des Kriegs verändert? Sie hat sich verändert. Und das ist schon ein Anzeichen ihrer Überlebensfähigkeit. Die Ukrainer bauen sich jetzt auf, sie haben weniger Angst, sich zu zeigen, sie befreien sich von der fremdbestimmten irrigen Annahme von der eigenen Unvollständigkeit und Unzulänglichkeit.

Gleichzeitig aber verteidigen sie mit Blick in die Zukunft und mit Elan ihre Vergangenheit – die Museen, Denkmale, Bibliotheken, Galerien, Kirchen, die gerade brennen und von Bomben zerstört werden.

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