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Völkerhass ist niemals nützlich

Published On: 8. November 2022 6:06

Vor drei Jahren veröffentlichte ich einen Roman, dem die deutsche und internationale Presse, soviel Unbescheidenheit sei erlaubt, bescheinigt hat, dass er den stalinistischen Terror auf eindrückliche Weise erlebbar mache. Die erste Übersetzung von „Metropol“ kam in Russland heraus – was nicht heißen soll, dass diese Art von Literatur in Russland besonders beliebt wäre. Sogar in Vietnam erschien das Buch. Und natürlich in mehreren westeuropäischen Ländern. Jedoch in keinem osteuropäischen Land, in keiner ehemaligen Sowjetrepublik, obgleich ich eigentlich gedacht hätte, dass der Stalinismus dort Thema sei.

Mein Roman spielt zur Zeit des großen Terrors. Eine der Hauptfiguren ist Wassili Wassiljewitsch Ulrich, Vorsitzender Richter der Schauprozesse, der tatsächlich innerhalb von drei Jahren 31 456 Todesurteile unterschrieb. Allerdings war er, wie sein Name verrät, Lette. Nicht Russe.

Bevor ich fortfahre, fühle ich mich zu einem Bekenntnis verpflichtet: Ich bin Halbrusse. Nicht freiwillig, versteht sich. Sondern weil mein Vater 1933 aus Hitlerdeutschland in die Sowjetunion floh, wo er sich nach dem Überfall Deutschlands plötzlich im Ural, in der sogenannten Arbeitsarmee wiederfand; faktisch unter GULag-Bedingungen überlebte er mit knapper Not, heiratete in der anschließenden Verbannung eine Russin.

Ich kam mit zwei Jahren nach Deutschland. Ich hatte nie einen russischen Pass. Vermutlich hätte ich das Recht zu behaupten, dass ich Deutscher bin. Trotzdem habe ich, wenn ich mich hier zu Wort melde, das Gefühl, ich dürfe die „Schande“ meiner Geburt nicht unterschlagen.

Das Gefühl der Unterschlagung hatte ich früher schon gelegentlich, wenn ich mit Osteuropäern zusammentraf, die mich als „reinen“ Deutschen wahrnahmen. Das war kein Nachteil, denn alles Deutsche stand hoch im Kurs. Von den Verbrechen der Deutschen war erstaunlicherweise kaum die Rede. Stattdessen – und ich weiß, dass mancher Ostdeutsche ähnliche Erfahrungen gemacht hat – spülte die Schnapsseligkeit gelegentlich Sprüche hoch, die man vor Schreck lieber gleich vergaß, um nicht in Konflikt mit seiner antifaschistischen Erziehung zu geraten.

Die Russen dagegen wurden in vielen Teilen Osteuropas gehasst. Aber ist das nicht verständlich – nach jahrzehntelanger Besatzung, nach Schauprozessen und Deportationen?

Nichtrussische Akteure in der UdSSR

Es ist keine Erfindung des Autors, dass der Vorsitzende Richter der großen Moskauer Schauprozesse ein Lette war. Aber auch Andrej Wyschinski, der Staatsanwalt, der die Prozesse in Wirklichkeit leitete, war nicht eigentlich Russe, sondern der in Odessa geborene Sohn eines polnischen Katholiken. Stalin war bekanntlich Georgier. Und überhaupt wimmelte es im Apparat von nichtrussischen Akteuren.

Es war ja vor allem das NKWD, das Stalins Terror verwirklichte. Es verhaftete, folterte, erschoss, organisierte die Deportation von Millionen Menschen. In dem von Memorial herausgegebenen Handbuch „Wer leitete das NKWD“ findet man, nach Jahren aufgelistet, die nationale Zusammensetzung der Leitung dieser berüchtigten Geheimpolizei.

Aber was schließt man daraus, dass 1936, zum Auftakt des großen Terrors, fast 39 Prozent davon Juden sind (die in der Sowjetunion als Nationalität geführt wurden)? Der Terror: eine jüdische Verschwörung? Nur, was bedeutet es, dass ihre Anzahl bis 1941 auf 5,5 Prozent schrumpft? Während umgekehrt die Zahl der Ukrainer von fünf auf fünfzehn Prozent steigt?

1941 sind die Russen mit 64 Prozent in der Überzahl, proportional etwas über ihrem Bevölkerungsanteil in der Sowjetunion; allerdings sind im Zentrum der Macht, in Stalins neunköpfigem Polit­büro zu dieser Zeit nur drei Russen vertreten. Ein Mitglied ist Armenier, und vier, nämlich Schdanow, Woroschilow, Kaganowitsch und Chruschtschow, stammen aus der Ukraine. Und nie ist, nebenbei gesagt, die Sowjetunion länger von einer „Nationalität“ regiert worden als von den Ukrainern Chruschtschow und Breschnew. Was sollen solche Zahlen? Was für einen Sinn hat dieser ethnische Blickwinkel?

Es ist unbestreitbar, dass das Zarenreich ein russisches Imperium war, ein Kolonialreich, auch wenn Migration und Expansion der Rus von Kiew aus verschiedene Gesichter und Phasen hatten. Nach Osten hin: der Kampf gegen Tataren und Osmanen. Ein Gebiet wie das Estlands wurde im Nordischen Krieg dem schwedischen Imperium abgerungen. Das erste unabhängige kosakische Hetmanat in dem Territorium, das man Ukraina (altrussisch für „Grenzland“) nannte, unterstellte sich 1648, nachdem es sich von Polen befreit hatte, der Oberherrschaft und dem Schutz des russischen Zaren. Der Rest könnte komplizierter nicht sein. Am Ende stand zweifellos ein Völkergefängnis, ein zentralistischer Einheitsstaat, in dem das russische Element alles dominierte.

Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der Geschichte, dass ausgerechnet die Bolschewiki eine föderalistische Struktur schufen, die – formal – der Selbstbestimmung der Völker Ausdruck gab. Davon darf man sich nicht irritieren lassen. In Wirklichkeit war ihre Nationalitätenpolitik, schlicht gesagt, verlogen. Denn na­türlich sahen die Revolutionäre die Lö­sung aller Probleme nicht in der nationalen Befreiung, sondern in der Befreiung der Arbeit vom Kapital; wer das nicht versteht, hat vom Bolschewismus nichts verstanden.

Der Kommunismus war, wie Hannah Arendt in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ schreibt, eine Bewegung, die sich internationale Ausmaße und Bedeutung zuschrieb. Lenin und seine Leute glaubten fest an die unmittelbar bevorstehende Weltrevolution, die alle Proletarier der Welt befreien und vereinen würde. Selbstverständlich dachten sie nicht daran, die bereits vom Joch des Kapitalismus befreiten Gebiete des Reichs wieder dem Kapital preiszugeben, sondern versuchten, in Europa und der Welt den großen revolutionären Brand zu entfachen.

Die UdSSR war keine Diktatur der Russen

Bekanntlich hat der Brand nicht stattgefunden. Es war Stalin, der die angebissene Weltrevolution auf den Kurs „Sozialismus in einem Land“ brachte. Tatsächlich war er dafür auf fatale Weise der richtige Mann. Ein ehemaliger Priesterschüler, orthodox, halbgebildet, gerissen, geplagt von Minderwertigkeitsgefühlen gegenüber den eloquenten kosmopolitischen Genossen. Ausländer verdächtigte er, war überdies Antisemit; er schlug großrussische Töne an, mobilisierte Gründungsmythen, um den Zusammenhalt des nunmehr entstandenen bolschewistischen Imperiums zu stärken – und damit seine persönliche Macht.

Stalins Verbrechen sind kaum zu zählen. Er ließ die alte Garde der Kommunisten vernichten (die ihrerseits nicht zimperlich gewesen war). Er rächte sich an den abgefallenen baltischen Völkern. Er versuchte Finnland wiederzuerobern. Er ließ die deutsche Minderheit unterdrücken, die Krim-Tataren deportieren und vieles mehr. Aber er ließ genauso auch Russen foltern, erschießen, deportieren, wie sich mit Zahlen belegen lässt.

So befanden sich 1939, nach der großen Verhaftungswelle, 810 000 Russen im GULag – naturgemäß mehr als Häftlinge aller anderen Ethnien, aber auch, wenn man die Zahl ins Verhältnis zum Bevölkerungsanteil setzt, mehr als zum Beispiel Ukrainer, nämlich 0,81 gegenüber 0,64 Prozent der jeweiligen Bevölkerungsstärke – man verzeihe mir diese kalte Rechnung. Aber weder das russische Volk noch irgendein anderes hat Stalin gewählt oder eingesetzt oder sonst wie befugt zu tun, was er getan hat. Und nichts von dem, was Stalin tat, tat er als Russe, nicht im Auftrag des russischen Volkes, nicht zu dessen Vorteil.

Der nationale Blick geht einfach am Wesen der Sache vorbei. Das Beispiel Holodomor ist inzwischen so aufgeladen, dass man sich kaum getraut, an Tatsachen zu erinnern. Selbstverständlich war der langjährige Krieg der Bolschewiki gegen die Bauern (der schon unter Lenin begann!) eines der widerwärtigsten Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts. Es fand seinen Höhepunkt in Stalins Versuch, eine entmenschlichte Politik der Industrialisierung auf Kosten der vermeintlich reaktionären Bauernklasse durchzuprügeln. Die Getreideabgaben, mit Waffen erzwungen, führten zum Er­liegen der Produktion. Die Zwangskollektivierung wuchs sich, statt die Lage zu verbessern, zu einer Mord- und Totschlagaktion gegen sogenannte Kulaken aus (am Ende wurde jeder, der noch irgendetwas erwirtschaftete, zum Kulaken).

Die Kata­strophe nahm ihren Lauf. Von Kiew bis Orenburg, von Tbilissi bis Samarkand hungerten die Menschen, am schwersten gerade in den landwirtschaftlich-bäuerlichen Gebieten. Die meisten der womöglich bis zu sieben Millionen Opfer des Holomodor – nämlich an die drei Millionen – waren Ukrainer! Aber auch im weit weniger bevölkerten Kasachstan starben eineinhalb Millionen Menschen, es starben Russen im fruchtbaren Kuban, sogar in Georgien wurde gestorben.  Wie gelingt es einem Historiker, aus dieser Tragödie ein exklusives nationales Opferanrecht abzuleiten?

Der Stalinismus war keine Diktatur der Russen über Ukrainer oder Balten. Er war die Diktatur eines Psychopathen, gegründet auf das verheerende bolschewistische Konzept einer Parteidiktatur, die beanspruchte, eine Diktatur des Proletariats zu sein: Das ist, ohne hier eine weitere Analyse anzustrengen, der Kern des Stalinismus. Und auch wenn ich die nachstalinistische Sowjetunion deutlich von den Terrorjahren unterscheiden will: Der Gedanke ist nicht leicht zu ertragen, dass der verkrüppelte Sowjetkommunismus die halbe Welt in seinen Bann schlug, dass er Anhänger, Freunde fand; dass er Osteuropa und Ostdeutschland nicht nur unterwarf, sondern sich dort auf Mitläufer, Karrieristen und sogar ehrliche Gläubige stützen konnte – wie auch in allen ehemaligen Sowjetrepubliken.

Der russische Überfall

Das hört man nicht gern in den ehemals kommunistischen Ländern. Leichter ist es, alles auf den Russen zu schieben. Der Russe ist böse, gefährlich, primitiv. Dreißig Jahre lang haben die Osteuropäer uns vor ihm gewarnt: Seine Reden sind Lügen, seine Angebote vergiftet. Mit ihm könnte es keine Kooperation geben, denn in Wirklichkeit hätte er nichts anderes vor als seine Nachbarvölker zu überfallen und zu unterjochen.

Aber hatten sie nicht recht? Denn der Überfall auf die Ukraine ist, wer wollte das bezweifeln, kein sowjetischer, sondern ein russischer Überfall.

Heißt das, dass die jahrzehntelangen Ressentiments gegen die Russen berechtigt gewesen sind? Wird die ethnisch zugespitzte Geschichtsdarstellung nachträglich wahr? Waren Hass und Abweisungen vorausfühlend und angemessen, weil Russland sowieso von Anbeginn den Krieg geplant hätte? Und jetzt, wo Krieg ist: Helfen wir den Ukrainern nicht wenigstens, ihn zu gewinnen, indem wir sie in den überkommenen Projektionen bestärken? Gibt es einen berechtigten Nationalismus? Einen nützlichen Völkerhass?

Ich hätte niemals geglaubt, dass im gelehrigen Deutschland, wo inzwischen schon die Frage nach der Herkunft eines Menschen als rassistisch gilt, russische Speisekarten attackiert werden könnten. Dass deutsche Moderatoren die Sympathie eines Botschafters für einen profaschistischen Judenmörder  verzeihlich finden könnten. Dass in deutschsprachigen Zeitungen die Werke von Tolstoi bis Brodsky in toto als Literatur der Mörder und Vergewaltiger angeklagt werden könnte, wie es die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko in der Neuen Zürcher Zeitung tut, weil diese Literatur den Boden für die Morde von Butscha bereitete habe. Dass Russland von einer deutschen Buchmesse ausgeschlossen wird; dass hier zugleich ein Friedenspreis vergeben wird an jemanden, der die Russen samt ihrer Kultur als „Unrat“ bezeichnet, und der – und darauf kommt es mir an – in der Paulskirche mit standing ovations bedacht wird. Nicht einmal die deutsche Kultur und Literatur ist, während die Nazis in Europa und der Welt wüteten, auf solche Weise generalverdächtigt worden.

Das Russland-Bild der 1950er sitzt tief

Die ukrainisch-russische Schriftstellerin Natascha Wodin hat in ihrem autobiografischen Buch „Sie kam aus Mariupol“ beschrieben, wie sie als Kind von Zwangsarbeitern in Deutschland von ihren Klassenkameraden gehetzt worden ist, weil – in glatter Verkehrung der historischen Schuld – „der Russe“ deren Väter massakriert hätte. Man hat geglaubt, das Russenbild der 50er-Jahre gehöre seit der Entspannungspolitik und spätestens seit Gorbatschow der Vergangenheit an. Es scheint tief zu sitzen. Fast glaubt man mitunter, so etwas wie Er­leichterung darüber zu spüren, dass die Vorurteile gegen die Russen so falsch nicht waren; dass endlich, 77 Jahre danach, die Zeichen der Schuld an der Stirn eines anderen erscheinen.

Ich übertreibe? Man sehe sich die Tagesschau vom 28. April 2022 an. Sie berichtete ausführlich vom „Marsch der Lebenden“ in Auschwitz. Nur wenige Überlebende marschierten noch mit, dafür ukrainische Geflüchtete. Eine vierzehnjährige Ukrainerin (die Tagesschau merkt an, dass sie Jüdin sei), die eine große ukrainische Fahne vor dem „Arbeit macht frei“-Tor in Auschwitz-Birkenau schwenkt, wird effektvoll in Szene gesetzt und darf anschließend vor der Kamera sagen, dass sie sich mit dem Holocaust beschäftigt habe, und dass der Genozid, der damals passierte, im Prinzip das Gleiche wäre wie das, was die Russen jetzt in ihrer Heimat täten.

Dass eine betroffene Vierzehnjährige das sagt, ist eine Sache. Eine andere, ob und in welcher Art die Tagesschau das sendet. Vier deutsche Schriftsteller, darunter ich, haben gegen diesen breit ausgestellten Auschwitzvergleich eine Programmbeschwerde angestrengt. Unsere Bedenken wurden vom ARD-aktuell-Chefredakteur in sieben Zeilen weggewischt: Der Beitrag spiegle „eine dort geäußerte Meinung wider“ und sei zumutbar, weil ein Holocaust-Überlebender die Sache später richtigstelle.

Tatsächlich bekommt kurz vor dem Ende des insgesamt anderthalbminütigen Beitrags ein sechsundneunzigjähriger KZ-Über­lebender noch sechs Sekunden Zeit, um mit bebender Stimme auf Englisch zu sagen, dies hier (Auschwitz) sei eine „komplett andere Geschichte als die Ukraine“. Für ihn (den Überlebenden), erklärt der Sprecher, sei Auschwitz mit nichts zu vergleichen.

Nicht nur für ihn, liebe Tageschau. Die Nazis haben sechs Millionen Juden ermordet. Und vierzehn Millionen sow­jetische Zivilisten, um nur zwei Zahlen zu nennen. Hier geht es – und nicht nur wegen dieser Zahlen – um ein singuläres Verbrechen von unvorstellbarem Ausmaß, dessen Relativierung in Deutschland zu Recht verpönt und verboten ist.

Im Übrigen habe ich nie gehört, dass ein Auschwitzvergleich seitens jüdischer Menschen oder Organisationen gutgeheißen oder gar angestellt worden ist. Aber abgesehen davon, man sich mit solchen Vergleichen auf eine Stufe mit den Unbelehrbaren und Fühllosen stellt, sind sie – gefährlich.

Das Narrativ des Großen Bösen

Denn ob gewollt oder nicht: Das Narrativ des Großen Bösen blockiert jeden Diskurs. Unmöglich, Interessen zu analysieren oder Widersprüche aufzuzeigen, ohne als Menschenverächter dazustehen; oder von einer Vorgeschichte auch nur zu sprechen, ohne in den Verdacht der Kollaboration oder gar des Antiamerikanismus zu geraten.

Selbst dieser Text wird vermutlich als Versuch der Relativierung oder als Verrat an der Ukraine gelesen werden, obwohl er sich einer Analyse des Konflikts vollständig enthält. Hier geht es einzig um den Diskursrahmen. Putins Schuld steht vollkommen außer Frage! Die Frage, um die ist hier geht, ist vielmehr, was es bewirkt, die Ukraine zu einem neuen Auschwitz zu machen und Putin einen neuen Hitler.

Über Auschwitz lässt sich nicht verhandeln. Mit einem neuen Hitler gibt es keinen Vertrag. Mit einem Volk, das bis in seine Nationalliteratur verrottet ist, gibt es keine Möglichkeit der Verständigung. Innerhalb dieser Wahrheit gibt es nur den Kampf bis zum Sieg, koste es, was es wolle. Und je länger diese Form von Gruppenzwang anhält, desto schwieriger wird es, da wieder herauszukommen. – Falls man das überhaupt will.

Ein europäischer Politiker hat es immerhin versucht, gleich zu Beginn des Kriegs: Wolodymyr Selensky! Nämlich als er Russland am 8. März, unmittelbar nach dem Überfall, Verhandlungen über dessen Forderungen anbot (insbesondere ukrainische Neutralität, Anerkennung der Krim als russisches Staatsgebiet, Autonomie für den Donbass). Es war wahrscheinlich der gefährlichste Moment seines Lebens.

Aber allein diese unglaubliche, diese heldenhafte Geste zeigt, dass eine Erweiterung der Perspektive denkbar ist, denkbar war. Unterstützt hat ihn damals niemand, im Gegenteil. Unterstützt wurde und wird die Fortsetzung des Kriegs, und zwar bis zum ukrainischen Sieg. Erst dann soll verhandelt werden. Worüber?

Ja, vielleicht ist es möglich, Russland in einem mehrjährigen Krieg zu zermürben. Vielleicht ist es möglich, diesen zweifellos völkerrechtswidrigen, brutalen Krieg mit militärischen Mitteln und unter vielen Opfern zu beenden (für die Putin die Verantwortung trägt). Vielleicht wird er ja gestürzt.

Obgleich man sich fragen muss, von wem: von der russischen Bevölkerung? Von jenen Menschen, deren Literatur wir als menschenfeindlich beschimpfen? Die für Holodomor und Roten Terror kollektiv verantwortlich sind? Die wir seit Jahren sanktionieren? Oder doch eher von seinen Generälen? Ich weiß es nicht. Ich irre mich gern. Ja, vielleicht ist ein Sieg möglich. Hoffentlich wird es kein Pyr­rhus-Sieg. Danach sieht es allerdings schon jetzt aus, sowohl für Europa als auch – und vor allem – für die Ukraine.

Eugen Ruge, geboren 1954 im russischen Soswa, ist Schriftsteller. 2011 erhielt er für „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ den Deutschen Buchpreis. Zuletzt erschien 2019 sein Roman „Metropol“ (Rowohlt).

Dieser Beitrag ist ursprünglich leicht gekürzt erschienen in: Frankfurter Allgemeine, 3.11.2022. Wir danken Eugen Ruge für die Erlaubnis, seinen Text auch auf KARENINA zu veröffentlichen.

Eine Replik von Gerd Koenen finden Sie ebenfalls auf KARENINA.

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