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Sie haben das Land in zwei Hälften zerrissen

Published On: 14. November 2022 14:20

Mein Vater wurde mit acht Jahren Waise. Vater und sein jüngerer Bruder haben die Schule besucht, sie lebten in einem Dorf namens Welika Fosnja. Das Dorf gibt es heute noch. Meine Mutter wurde in der Siedlung Waskowitschi geboren, auch in der Region Schytomyr. Sie wohnten in Schytomyr. Mein Großvater mütterlicherseits war ein erblicher Melamed.

Mit zwölf Jahren hatte mein Vater schon die Schule abgeschlossen und ging unter die Leute. Und so kam mein Vatersname zustande. Sie hatten einen Dorfpolizisten, der meinem Vater ein Papier ausstellen sollte, damit er auf gesetzlicher Grundlage durch das Land reisen konnte. In der Siedlung nannte man Vater Wolka, sein jüdischer Name war Schlomo Welwl, aber er gebrauchte ihn nie. So wurde er als Wladimir registiert. Meine Mutter hieß Ethel, aber sie wurde als Etja registriert. Man hat dort alles vereinfacht.

Meine Eltern waren ihr ganzes Leben lang zusammen, 45 Jahre, bis mein Vater starb. Vater sagte immer zu uns: „Wer eure Mutter mit 16 Jahren nicht gesehen hat, der hat nie eine schöne Frau gesehen.“ Meine Eltern heirateten am 22. August 1922.

Der Krieg 1941: „Ljalja, steh auf, es ist Krieg!“

Ich habe nie in der Oblast Schytomyr gelebt, ich wurde 1936 in Kiew geboren. Als der Krieg ausbrach, war ich gerade seit einer Woche fünf Jahre alt. Mein Bruder war zehn, meine Schwester 18 Jahre alt. Es war ein Sonntag, der 22. Juni, ein strahlend sonniger Tag, die zehnten Klassen hatten an dem Tag ihre Abschlussfeier. Meine Schwester Ljalja hatte gerade die Schule beendet. Ich erinnere mich noch wie heute, wie ich vom Schrei meiner Mutter aufwachte: „Ljajla, steh auf, es ist Krieg!“

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Seit Februar 2022 sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine und zahlreiche russische Oppositionelle nach Deutschland geflüchtet. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Jedes Jahr im Sommer waren wir auf unsere Datscha gefahren, aber aus irgendeinem Grund fiel das 1940 aus. Und ich weiß noch, wie ich nun vor Freude hüpfte und sprang, als ich sah, dass Mutter Reisevorbereitungen traf: „Hurra, wir fahren auf die Datscha!“ rief ich. Aber die „Datscha“ – unsere Evakuierung – dauerte ganze zweieinhalb Jahre. Alle sagten, nur zwei bis drei Monate, dann sind wir wieder zurück.

Also erlebe ich das jetzt zum zweiten Mal. Mein Sohn, er ist Mathematiker, nennt das das Gesetz der Symmetrie, weil wir vor 80 Jahren vor den einrückenden Deutschen nach Russland evakuiert wurden. Und 80 Jahre später habe ich meine zweite Evakuierung von Russland nach Deutschland mitgemacht.

Die Evakuierungen 1941 und 2022

Man kann diese Erlebnisse nicht miteinander vergleichen.  Damals war ich noch klein, alles war für mich aufregend und spannend. Ich erinnere mich, wie meine Mutter damals unsere Sachen zusammenpackte, man verlud uns auf einen Lastwagen. Es war schon tief in der Nacht. Wir wurden irgendwo hingebracht und in Güterwaggons umgeladen.

Wie lange wir gefahren sind, weiß ich nicht mehr, vielleicht einen Monat. Wohin wir fuhren, wußte ich nicht. Es war sehr heiß, die Sonne schien. Wir hatten Durst, aber es gab kein Wasser. Wir hielten sehr oft an.

Ein Waggon war für das Militär. Ich erinnere mich, wie unser Zug von einem deutschen Flugzeug beschossen wurde. Ich erinnere mich, wie man uns Wasser brachte, das war intensiv gelb. Es kam aus einer Lehmquelle. Als ich das Wasser trank, dachte ich, ich hätte nie zuvor etwas so Leckeres getrunken.

Kaum war Kiew befreit, fing mein Vater an zu packen. Zurück fuhren wir laut und fröhlich. Wir wussten, dass unser Haus zerstört war, aber das hielt meinen Vater nicht ab.

Wir kamen am 1. März 1944 in Kiew an. In Darniza wurde noch gekämpft, dort, wo jetzt auf dem linken Ufer eine Stadt ist. Wir gingen vom Bahnhof aus zu Fuß durch die zentrale Hauptstraße, den Chreschtschatyk. Auf der linken Straßenseite türmten sich statt der Häuser Berge von Ziegelsteinen. Meine Schwester weinte im Gehen Rotz und Wasser. Die eine Seite der Straße war völlig zerstört. Nur drei zweistöckige Gebäude waren stehengeblieben.

Außer diesen zweieinhalb Jahren habe ich mein ganzes Leben lang in Kiew gelebt. Ich ging sofort in eine ukrainische Schule und habe dann an der polytechnischen Hochschule studiert. Ich bin Maschinenbauingenieurin der chemischen Industrie.

Am 23. Februar starb ihr Mann, dann begann der Krieg

Am 23. Februar 2022 starb mein Mann. Am 24. Februar sollte er eingeäschert werden. Mein Sohn wachte früh am Morgen auf, weckte mich und sagte: „Mama, steh auf, dieser Verrückte hat einen Krieg angefangen.“

Da haben wir wieder die Symmetrie. Meinem Mann war es die letzten Tage sehr schlecht gegangen, und die Kinder, unser Sohn und unsere Tochter, verbrachten die letzte Woche bei uns zu Hause.

Seit einer Woche war die Lage schon sehr angespannt gewesen, aber niemand glaubte es. Kiew brodelte, alles war wunderbar. Man hatte uns gesagt, am 16. Februar würde der Krieg anfangen. Als er dann nicht anfing, entspannten wir uns.

Der 23. Februar war ein ganz normaler ruhiger Tag. Aber am nächsten Tag wurde mein Sohn von Detonationen geweckt. An diesem Tag erfuhren wir, dass in Obolon (ein Bezirk von Kiew) ein Panzer gestoppt wurde.

Ich war schockiert. Mein Mann war gerade gestorben. Wir begriffen nicht, was wir tun sollten. Wir wussten damals nicht, dass man mit jedem Pass ausreisen konnte, ich besitze keinen biometrischen Pass. Niemand ahnte, mit welcher Geschwindigkeit sich die Ereignisse entwickeln würden. Niemand ahnte, dass es eine regelrechte Invasion geben würde. An so etwas hat niemand gedacht.

Am 24. Februar bot sich auf der Straße schon ein völlig anderes Bild. Die Stadt war leer. Die Leute holten Wasser in Sechsliterflaschen. Alle staatlichen Einrichtungen, die Banken und Apotheken waren geschlossen.

Der größte Fehler damals war, dass wir glaubten, wir könnten unser Leben noch planen. Wir hatten Tickets von Kiew nach Lwiw und von Lwiw nach Premysl, und für Sonntag hatten wir ein Hotelzimmer reserviert. Wir fuhren zu dritt. Wir hatten keine Angst. Es war eher ein Schockzustand.

Bevor das passierte, hatten wir noch in einem Restaurant reserviert, um uns von meinem Mann zu verabschieden. Aber es war niemand da, um ihn zu verabschieden. Kaum jemand kam. Das war am 24. Februar. Um 7 Uhr abends gingen wir auf den Chreschtschatyk, es war wunderbares Wetter, 16 Grad warm und kein Mensch auf der Straße, nur einige Männer, die Schlange standen, um sich für die Landesverteidigung einzuschreiben.

Tochter Vlada erzählt vom Chaos

Am nächsten Tag [nach dem Tod ihres Vaters, Red.] ging ich auf die Straße, um nachzusehen, ob die Apotheken geöffnet hatten. Es war beängstigend, eine klirrende Stille, bei der man immer denkt, dass gleich etwas passieren wird.

Es war nirgendwo ein Mensch, ich begegnete nur einem Kind auf einer Schaukel. Das war ein Bild wie in einem Film. Absolute Stille, nur das Quietschen der Schaukel. Wie eine Illustrierung des Endes aller Zeiten.

Man wusste nicht, was man tun sollte. Wir gingen nicht in den Schutzraum, weil Mama so schlecht laufen kann. Ich versuchte, das Schlafengehen so lange wie möglich hinauszuzögern; ich dachte, wenn ich einschlafe, verliere ich die Kontrolle über die Situation. Wirklich schlimm wurde es, als bekanntgegeben wurde, dass sie Kiew innerhalb von drei Tagen einnehmen wollten. Ich hatte Angst, dass es zu einer Belagerung kommt.

Wir waren ständig in allen möglichen Messengers unterwegs. Meine Mutter wurde von Verwandten und Freunden angerufen, mein Bruder aus Amerika, ich aus Berlin und von noch irgendwoher. Aber wir hatten doch Zugtickets für Sonntag, Sonntag wollten wir fahren, wir hatten doch alles geplant.

Mischa, mein Mann, sagte „Fahrt sofort!“ Aber wir fanden keine Fahrgelegenheit. Es gab kein Benzin. Es gab keine Autos. Und dann beschlossen wir „unter dem Druck der Öffentlichkeit“ doch, früher zu fahren. Zwei Stunden lang suchte ich ein Taxi. Und ich fand eines. Der Taxifahrer fragte: „Warum fahren Sie denn so spät? Alle sind längst weg.“

Als wir am Bahnhof vorfuhren, sahen wir, dass die Leute zu Fuß dorthin kamen.

Chaos am Bahnhof und ein verlorener Schuh

Wir gehen auf den ersten Bahnsteig, wo normalerweise der Zug nach Moskau feierlich abfährt. Eine entsetzlich große Menschenmenge. Alle warten auf einen Zug. Niemand erklärt irgendwas. Dann kommt ein Zug, und die Menschen fangen in heller Panik an, einander von hinten zu schieben und zu stoßen.

Ich schreie: „Hören Sie doch auf, hier ist eine alte Frau!“ Sie schreien mich an: „Halt den Mund!“ Mama stürzte, verlor einen Schuh. Sie verklemmte sich mit einem Arm und einem Bein in einem Geländer, davon hatte sie später noch einen riesigen blauen Fleck.

Aber irgendwie schafften wir es in den Zug. Zuerst brachten wir meine Mutter hinein, und dann zog mich Mischa, mein Bruder, im letzten Moment auch noch in diesen Zug. Ich hatte die ganze Zeit Angst, meine Mutter würde abfahren, und ich bliebe allein mit den Koffern auf dem Bahnsteig zurück.

Am Zug stand Lwiw, aber wir fuhren nach Winnyzja, einer Stadt im Zentrum der Ukraine. Dort war der pure Horror. Alles schrie auf dem Bahnsteig durcheinander. Jemand hatte seinen Hund verloren, ein anderer seine Koffer. Es war wie in einem Film über 1941. Und ständig Luftalarm.

Niemand wusste, wie es weitergehen sollte. Diese Ungewissheit war kaum zu ertragen. Man weiß nicht, was in der nächsten Sekunde passiert. Und es war schon Mitternacht, es gab keine einzige Laterne, aber einen unglaublichen Sternenhimmel.

Die Menschen waren furchtbar misstrauisch. Ein Mann wurde verdächtigt, ein Saboteur zu sein und zur Polizei gebracht. Und plötzlich kommt eine Frau in diesen vollkommen dunklen Bahnhof und schreit: „Lwiw, Lwiw, in drei Minuten fährt der Zug nach Lwiw.“ Diesmal half die Polizei meiner Mutter, sie trieb die Menschenmenge auseinander und brachte sie auf einen Sitzplatz.

Als wir an die Grenze kamen, standen dort schon Zelte mit Heizgeräten bereit, und man hatte Essen organisiert. Die polnischen Grenzbeamten waren sehr hilfsbereit. Ich war nervös, weil ich einen russischen Pass hatte. Die Grenzbeamtin rief ihre Vorgesetzte an und sagte: „Hier ist eine aus Russland, soll ich die rauslassen?“ Und dann kam die Antwort: „Ja, lass sie raus.“ Wir passierten die Grenze sehr schnell.

In Polen wurden wir in ein sogenanntes Verteilungszentrum gebracht. Dort gab es sehr viele freiwillige Helfer, die die Menschen in unterschiedliche Länder mitnahmen. Das war alles sehr gut organisiert. Wir warteten auf einen alten Freund aus meiner Kindheit, er holte uns mit dem Auto ab und brachte uns nach Berlin.

Jewgenija über das Leben in Berlin

Ich kann nicht sagen, dass er mir hier nicht gefiele, und dass ich zurück wollte. Ich kann nicht zurück wollen. Außer meiner Wohnung habe ich dort nichts mehr, ich bin dort allein. Aber dort ist mir alles nah und vertraut. Es ist immer noch gefährlich dort, und man weiß nicht, wann es vorbei ist. Hier fühle ich mich schlicht und einfach wie taubstumm. Ich brauche eine Begleitung, ich bin vollkommen hilflos und verloren.

Ich kann nichts Schlechtes sagen, die Menschen sind sehr freundlich. Alle lächeln. Sie sprechen mit mir. Aber ich verstehe nichts. Ich stehe da wie blöde. Ich lächele und verstehe nicht, was man zu mir sagt. Und das wird sich nicht ändern. Ich weiß ja, die Sprache, das ist nichts mehr für mich.

Ich war in einer ukrainischen Schule, ich spreche fließend ukrainisch. Kiew ist eine hauptsächlich russischsprachliche Stadt. Aber das hat sich jetzt sehr stark verändert. Ich spüre sehr genau, wenn jemand in seiner Muttersprache spricht oder nicht.

Aus irgendeinem Grund ärgert es mich, wenn die Menschen eine Sprache nicht richtig sprechen. Es gab bei uns keine Trennung in Russisch und Ukrainisch. Ja, jeder hatte so seine Eigenheiten, aber das gibt es immer und überall. Jedes Land hat seine Besonderheiten. Aber so eine Russophobie, wie diese Ukrainophobie, die sich in Russland breitmacht, die gab es bei uns nicht.

Es gab keine Grenze zwischen uns. Zwischen Russland und der Ukraine. Das war eine geplante Aktion, die im Jahr 2011 begonnen hat.

Die Menschen aus dem Donbass haben sehr gut verdient. Donezk und Dnipropetrowsk waren wissenschaftliche und kulturelle Zentren. In Donezk gibt es nicht nur Kohle. Das ist eine bedeutende Industrie- und Wissenschaftsstadt. Aber offensichtlich hat ihnen irgendetwas gefehlt.

Diese Banditen, die es in jeder Stadt gibt, haben die Macht im Donbass an sich gerissen, mit Hilfe irgendwelcher eingeschleuster Unruhestifter aus Russland. Das hat alles Russland organisiert. Und dann redeten die Leute auf einmal, in Donezk würden irgendwelche „Banderas“ durch die Straßen ziehen und Menschen umbringen. In Wirklichkeit waren das Russen. Das war alles sehr sorgfältig ideologisch vorbereitet.

In meinem Haus wurden zweimal Wohnungen an Menschen aus dem Donbass vermietet. Das waren sehr nette Leute, aber sie sagten nie, wo sie herkamen. Sie sagten, sie seien aus Dnipropetrowsk, damit man sie nicht schief ansah.

Die Kiewer hielten die Leute aus Donezk für Gauner, weil man sie als Flüchtlinge aufnahm und ihnen Wohnungen gab, und dann wurden diese Wohnungen von den Leuten verwüstet oder sie ließen Zettel zurück, da stand drauf: „Wir hassen euch trotzdem.“

Sie haben das Land in zwei Hälften zerrissen.

In der Westukraine sind die Menschen auch ziemlich derb. Aber wer Schuld hat, das ist, verzeihen Sie, allein Putin. Daran besteht kein Zweifel. Man kann immer den Bodensatz aufrühren. Das hat er gemacht. Die aus Donezk, die ich in Kiew kannte, waren ausschließlich intelligente, kultivierte und angenehme Leute.

Mit Jewgenija Wladimirowna Dorfmann und ihrer Tochter Lada sprach Tatiana Firsova am 6.10.2022. Die Transkription übernahm Anastasiia Kovalenko, aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa.

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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