‚russland-lebt-im-nebel,-und-dieser-nebel-ist-toxisch‘

‚Russland lebt im Nebel, und dieser Nebel ist toxisch‘

Published On: 28. November 2022 14:55

Ich bin aus Moskau. Ich habe zwei Ausbildungen: eine für den Sanitätsdienst, ich bin Rettungssanitäter und habe als Krankenpfleger im Kinderhospiz „Das Haus zum Leuchtturm“ gearbeitet. Außerdem habe ich noch eine geisteswissenschaftliche Ausbildung, ich habe 2008 meinen Abschluss am Literaturinstitut gemacht.

In der Nacht vom 26. auf den 27. September überquerte ich bei Werchni Lars die Grenze nach Georgien, und zehn Tage später war ich in Berlin. Meine Frau arbeitet für eine internationale NGO. Ihnen wurde die Verlegung nach Berlin angeboten; meine Frau und ich als ihr Ehemann bekamen ein D-Visum. Es war alles ziemlich kompliziert, und die Visa waren nur bis zum 1. Oktober gültig. Aber die Mobilisierung, die am 21. September begann, erhöhte die Panik.

Auf den ersten Blick fiel ich in keine Einberufungskategorie. Aber 2019 war ich in Verwaltungsarrest wegen der Proteste anlässlich der Nichtzulassung unabhängiger Abgeordneter zur Wahl der Moskauer Stadtduma. Ich wurde verhaftet, es gab eine Gerichtsverhandlung, ich wurde zu einer Geldstrafe von 10 000 Rubeln verurteilt. Die Leute, die am nächsten Tag verhaftet wurden, bekamen schon Haftstrafen, Arrest oder sogar Freiheitsstrafen von zwei bis drei Jahren.

Anscheinend war ich damals auf irgendwelchen Listen gelandet, denn von diesem Zeitpunkt an kam regelmäßig die Polizei zu mir nach Hause. Zu präventiven Gesprächen. Es kam immer derselbe Mann, und jedesmal erzählte er mir, man dürfe nicht auf die Straße gehen und nicht an ungenehmigten Veranstaltungen teilnehmen. Ich antwortete ihm, gemäß unserer Verfassung dürfen wir auf die Straße gehen und fertig.

Der 24. Februar: Wieder Polizeibesuche

Das wurde zum permanenten Kontext meines Lebens. Vor jeder Aktion, die von der Antikorruptionsstiftung (von Alexei Nawalny; Red.) oder von anderen oppositionellen Aktivisten angekündigt wurde, erschien die Polizei bei mir zu präventiven Gesprächen.

Nach Beginn des Kriegs am 24. Februar wurden diese Gespräche wieder aufgenommen, jetzt sehr regelmäßig. Sie kamen immer am Freitag- oder Samstagmorgen, jede Woche. Und jedesmal wurde der Ton bei diesen Gesprächen aggressiver. Beim letzten Mal fingen sie mich auf der Straße ab, als ich mit meinem Hund spazieren ging.

Im Endeffekt wurde es so dargestellt, dass ich ein Feind Russlands sei, und wegen solcher Leute wie mir habe es in der Ukraine einen Staatsstreich, den Maidan und die Wahlen gegeben. Und solche Leute wie ich würden den Staat von innen heraus aushöhlen.

Ich habe sie damals gefragt: „Vielleicht erschießen Sie mich gleich hier auf der Stelle?“ Und sie antworteten: „Bisher gab es noch nicht den Befehl dazu.“ Ich erschrak. Diese Bemerkung war eine Art Katalysator.

„Die Geschichte der Feigheit“

Meine Geschichte ist die Geschichte der Feigheit. Als in den Jahren 1991 und 1992 Proteste stattfanden, als die Sowjetunion zusammenbrach und Jelzin an die Macht kam, konnte ich nicht daran teilnehmen, mich interessierte das nicht. Ich dachte, das ist die Verantwortung meiner Eltern, es ist ihre Aufgabe zu kämpfen und ihre Position zu verteidigen. Aber jetzt habe ich selbst Kinder, und ich finde, dass ich in einem gewissen Sinne versagt habe.

Seit 2000 habe ich ständig an Protesten teilgenommen. Letztes Mal ging ich am 19. oder 20. September auf die Straße, bei Aktionen auf dem Alten Arbat. Und mir war klar: Auch wenn man mich bisher nicht verhaftet hat, dann wird es früher oder später mit Sicherheit passieren. Innerlich bereitete ich mich darauf vor, dass ich ins Gefängnis würde gehen müssen, weil ich nicht in diesen Krieg ziehen werde; ich werde mich weigern.

Ich habe verstanden, dass uns keine legalen Möglichkeiten zum Widerstand mehr geblieben waren. Man darf nicht auf die Straße gehen, individuelle Mahnwachen sind verboten, es gibt keine legalen Möglichkeiten mehr, sich diesem Wahnsinn zu widersetzen. Wenn man aber illegale Mittel einsetzt, wie viele Ukrainer das wohl wollen, und wie es wahrscheinlich die ganze Welt von uns erwartet, dann heißt das doch in gewissem Sinne, dass man wird wie Putin.

Meine Frau sagte, wir müssen weggehen. Da habe ich aufgegeben, und wir sind ausgereist.

„In Russland ist man es gewohnt zu erdulden“

Für mich ist das Wichtigste die Befreiung Russlands von seinem Trauma. Russland kann nicht ein anderes, glückliches, besseres, freies Land werden, solange es nicht dieses imperiale Trauma überwindet, das seit Jahrhunderten auf unserem Volk lastet.

Für mich ist wichtig, dass die Regierung wechselt, dass sie nicht für drei, fünf, zehn Legislaturperioden bleibt. Zwei Legislaturperioden höchstens – und tschüss.

In Russland gibt es sehr viele Menschen, und viele von ihnen besitzen ausgezeichnete Führungsqualitäten. Das ist die lokale Verwaltung, Dezentralisierung, Abkehr von imperialen Ambitionen; das ist die Arbeit im Inneren mit der Bevölkerung, das ist die Arbeit an der Vergangenheit, das ist politische Selbstreinigung, das Bekenntnis zu den Verbrechen aller Zaren, von Iwan dem Schrecklichen bis zu Putin. Man muss eine große psychotherapeutische Sitzung abhalten und die Psychotherapie in gewissem Sinne zur Norm machen. Und nicht das, was jetzt die Kirche sagt: Wenn du im Krieg fällst, werden dir alle deine Sünden erlassen. Das ist Obskurantismus. Das stammt aus den Zeiten der Kreuzzüge.

Seit ich die „Erzählungen aus Kolyma“ von Warlam Scharlamow gelesen habe und von Stalins Atombombe hörte, ist mir klar, dass wir gar nichts wirklich ausdiskutiert haben. Ich jedenfalls habe solche Diskussionen nie gehört. Das liegt eben daran, dass wir die Dinge nicht beim Namen nennen, dass wir unsere Fehler nicht eingestehen.

Genau so läuft es in Russland. Das ist aus meiner Sicht das Schlimme, das Fatale, dass es in Russland nicht üblich ist, über Probleme zu sprechen, dass es nicht üblich ist, an seinen Fehlern zu arbeiten. Üblich ist, einen Schuldigen zu suchen und alle Fehler einem Prügelknaben aufzuladen.

Die Menschen in Russland verstecken ihren Schmerz. Sie sind es gewohnt zu erdulden. Das habe ich bei den Rettungseinsätzen oft erlebt. Ich komme um fünf Uhr morgens irgendwo hin, finde einen schweren Herzinfarkt, ein akutes Lungenödem, akute Herzinsuffizienz. Ich frage: „Seit wann haben Sie die Schmerzen?“ „Seit gestern abend 11 Uhr“, kommt dann zur Antwort. „Jetzt ist es fünf Uhr morgens, warum haben sie das so lange ertragen?“ „Ich habe mich ans Fenster gesetzt und geatmet, ich dachte, es geht vorbei.“ Und das Herz ist schon irreparabel geschädigt.

So ist es überall: „Mein Kopf tut weh, ich kann nicht sprechen, mein Gesicht ist gelähmt.“ Seit wann? „Seit drei Tagen.“ Meiner Meinung nach liegt das zum Teil daran, dass die Leute ihr Leben nicht wertschätzen. Weil man sie ihr ganzes Leben lang gezwungen hat, alles durchzustehen, sich zu erniedrigen, irgendwelche Coupons, Bezugsscheine, die langen Wartezeiten, wenn man in der Sowjetunion ein Auto bekommen wollte.

Die einzige Ressource Russlands, das ist nicht das Öl, nicht das Gas, nicht Gold oder Diamanten; das sind die Menschen, die dort leben. Und wenn sie spüren würden, wie kostbar sie sind, dass sie unbezahlbar sind, lebendige Menschen, deren Leben wichtig ist für sie selbst, für ihre Familien, ihre Angehörigen, dann würden sie vielleicht ein anderes Verhältnis zu sich selbst bekommen. Darin besteht das Ergebnis einer Psychotherapie, das Leben wird klarer, der Nebel der Begriffe löst sich auf, und der Nebel der Beziehungen.

Russland lebt im Nebel. Und dieser Nebel ist toxisch, denn die vermoderten Ahnen, die in den Gruben gestorben sind, in Kolyma, diese ganze Geschichte droht sich zu wiederholen. Sie wiederholt sich schon. Weil im Großen und Ganzen davon nichts durchgesprochen und nichts diskutiert wurde.

Ich wollte nie aus Russland weggehen. Ich habe das gefühlsmäßig gemacht, aus Angst. Aber ich lebe mit diesem Gefühl. Ich komme schwer damit zurecht, meine Fähigkeiten werden dort mehr gebraucht. Ich weiß, dass ich da gebraucht werde, in Russland, von den Kindern, von den Menschen. Denn hier ist alles längst vorhanden und funktioniert, in Russland aber ist es gerade erst im Entstehen. Und wegen des Kriegs braucht man das wieder nicht, weil andere Dinge wichtiger sind.

Ich weiß nicht, was ich machen soll. Jetzt bin ich gerade dabei, zu akzeptieren, was mit mir passiert ist. Ich habe keine Pläne. Ich lebe davon, dass ich heute etwa Deutsch lernen muss, oder Futter für den Hund besorgen, oder das Essen für meine Frau kochen.

„Ich heiße Alchas und spreche russisch“

Ich heiße Alchas, aber ich spreche kein Abchasisch, deshalb kann ich nicht Abchase sein. Aber ich glaube, dass das meine Weltanschauung beeinflusst.

Über meinen Vater sehe ich die Geschichte der imperialen Kolonisation. Tatsächlich ist „Kolonisation“ ein ganz normales Wort. Viele Imperien haben andere kolonisiert. Bloß hat Russland keine Meere überquert, es hat einfach das Territorium um sich herum kolonisiert. Dort lebten Stämme, die nicht schlechter waren als die, die kamen. Deshalb verstehe ich es nicht, dass die Leute sagen: „Wir sind Russen.“

Was verstecken sie dahinter: häusliche Gewalt, Mißachtung des menschlichen Lebens, einen niedrigen Lebensstandard? Die Bauern in Russland lebten in fensterlosen Häusern voller Wanzen. Und diejenigen, welchen die Bauern gehörten und die Russen waren genau wie sie, konnten sie verkaufen, sie verprügeln und mit ihren Kindern machen, was sie wollten. Wir haben Petersburg auf Knochen errichtet. Was ist damit gemeint, wenn wir sagen: „Wir sind Russen“?

Ich spreche russisch. Das ist eine Form des Denkens. In meiner russischen Sprache gibt es Raum für Worte wir „Schwäche“, „Schuld“, „Fehler“, Vergebung“, „Liebe“, „Leid“, „Aufmerksamkeit“, „Respekt“. Die Leute sagen, Russland sei ein großes Imperium, der Gendarm Europas. Russen seien auf dem Schipka gestorben.

Ich war dort auf dem Shipka, in Bulgarien. Ich habe diese Kanonen gesehen. Ich brauchte 50 Minuten mit dem Auto über die Serpentinen bis dort hinauf. Aber wie sind diese russischen Soldaten dort hochgekommen, mit diesen Kanonen, gegen wen haben sie dort gekämpft und weshalb, was bekamen sie dafür? Diese namenlosen Gräber. Warum sind wir groß?

Das Russische ist alles Mögliche. Aber vor allem muss man verstehen, dass es nicht auf die Größe ankommt, sondern auf die Fähigkeit, seine Vergangenheit anzunehmen. Größe hat eine Kehrseite: die Millionen von namenlosen Toten, die in Sibirien in der Katorga oder im Gulag vermodert sind, die verkauften Dörfer, die ihren Herren entlaufenen Bauern, die blutigen Orgien von Iwan dem Schrecklichen und seinem Großvater.

Wir wissen nichts über uns. Manche sehen die Größe, manche sehen das Blut, manche sehen die Atombombe. Aber niemand will Sacharow sehen, der über den Preis der Wasserstoffbombe sprach und darüber, was man getan hat. Niemand will sich an die Tschechoslowakei erinnern, niemand will sich an Berlin erinnern, das durch eine Mauer geteilt wurde. Worüber reden wir? Wer sind wir? Was sind wir?

Ich sehe nicht, was uns daran hindert, Menschen der Welt zu werden statt Menschen der „russischen Welt“ zu sein: nichts außer unserem Dünkel und der Intoxikation, der Vergiftung durch die Größe.  Denn die „russische Welt“ stelle ich mir vor als ein muffiges enges Bauernhaus, Fußlappen, Ikonen, Kakerlaken, die mit ihren Fühlern in den Ecken sitzen, und an der Wand eine Peitsche.

Dieses Volk hat Angst, um Hilfe zu bitten

Alle diese Menschen, die dorthin zurückwollen oder diese blutige Banja veranstalten wollen, die brauchen dringend psychologische Hilfe. Sie leiden sehr. Weil dieses Trauma nicht weggeht, es transformiert sich bloß in eine idiotische Idee in uns.

Mir scheint, dass dieses Volk Angst hat, um Hilfe zu bitten. Denn wenn du um Hilfe bittest, gibst du zu, dass etwas mit dir nicht stimmt. In diesem Sinn befindet sich das Volk in dem Wahn, in den Putin alle in den 23 Jahren seiner Herrschaft versetzt hat, indem er permanent diese Maskulinität aufgeblasen und gedüngt hat, die Nichtswürdigkeit der Schwachen.

Eine Geschichte hat mich sehr erschüttert, die von dem Bau des Onkologischen Zentrums Dima Rogatschow in Moskau, am Ende des Lenin-Prospekts. Im russischen staatlichen Kinderkrankenhaus gab es eine onkologische Abteilung. Dort wurden viele Kinder aus ganz Russland behandelt. In den Regionen gab es keine solchen Zentren.

Eines Tages besuchte Putin dieses Krankenhaus, und ein Kind, eben dieser Dima Rogatschow, zog ihn in seine Box hinein, um ihm irgendetwas zu erzählen. Putin war damals vielleicht noch ein Mensch und hatte vielleicht sogar Gefühle. Er genehmigte das Geld und ließ dieses Zentrum bauen.

Die Ärzte aus der onkologischen Abteilung wechselten in dieses Zentrum und beschlossen, es nach diesem Jungen zu nennen, der inzwischen längst gestorben war, der nicht mehr geheilt werden konnte. Und das im 21. Jahrhundert. Diesem Zentrum, das nur aufgrund eines Zufalls gebaut wurde, gaben sie den Namen dieses Jungen.

Wäre Putin nicht zufällig an diesen Jungen geraten, und hätte dieser Junge nicht zufällig einen solchen Eindruck auf ihn gemacht, dann gäbe es das nicht. Ich finde, solche Geschichten dürften nicht geschehen. Das bedeutet doch, dass alles, was für die Verbesserung des Lebens der Menschen, des Volks, verwendet werden könnte, das hat er für sich selber verbraucht, für seine Paläste. Seit 23 Jahren nichts.

Categories: AllgemeinTags: , Daily Views: 1Total Views: 14