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„Kätzchen, steh auf, es ist Krieg“

Published On: 29. November 2022 5:26

Ich bin in Charkiw geboren. 2017 ging ich an die Universität und zog nach Kiew um. Ich habe an der Biologischen Fakultät der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität studiert. Als Teenager wollte ich immer Biologin werden. Aber dann verstand ich, dass das kein Beruf für mich ist. Als ich die Universität abgeschlossen hatte, fing ich an zu arbeiten, nicht in meinem Fach, sondern in einem anderen Bereich. Ich habe als IT-Managerin gearbeitet, das mache ich immer noch. In den letzten Jahren habe ich in Kiew gewohnt, meine Eltern in Charkiw.

Der 24. Februar: Wir suchten einen Luftschutzkeller

Der Krieg begann am Donnerstag um fünf Uhr früh. Es war ein normaler Arbeitstag. Ich habe geschlafen und bin aufgewacht, weil meine Freundin mich immer wieder anrief. Ich nahm den Hörer ab und hörte: „Kätzchen, steh auf, es ist Krieg.“

Alle befanden sich in Alarmzustand, aber ich glaubte nicht, dass der Krieg das ganze Land erfassen würde. Ich dachte, es wird nur ein paar kleine Scharmützel im Donbass geben, Komplikationen, Verschärfungen. Aber nicht einen Krieg mit der ganzen Ukraine. Ich erinnere mich, dass man Explosionen hörte, etwas blitzte am Himmel. Von meinen Bekannten schlief um sechs Uhr morgens niemand mehr.

Nach fünf Minuten war ich richtig wach und rief meine Mutter an. Vor dem Krieg hatte sie gesagt, sie wolle zur Datscha fahren, und die Datscha liegt direkt an der Grenze nach Russland. Ich habe sie überredet, nicht zu fahren. Ich bin sehr dankbar, dass sie nicht hingefahren ist, denn dort verlief die Frontlinie. Höchstwahrscheinlich gibt es unser Haus da schon nicht mehr, wegen der Schießereien.

Es war schrecklich. Freunde konnten zwei Stunden vor Beginn des Kriegs Hostomel verlassen. Ein wenig später wären sie da wahrscheinlich ums Leben gekommen.

Mein Nachbar und ich gingen los, einen Schutzkeller suchen. Die Menschen standen schon vor den Geschäften, vor den Bankautomaten. Manche fuhren weg. Unser Luftschutzkeller war verschlossen. Wir warteten eine Stunde, bis er aufgeschlossen wurde. Drinnen sah es aus wie in einem Keller, den man seit dreißig Jahren oder länger nicht mehr aufgemacht hat. Es gab dort viel Sand und Ziegelsteine.

Wenn wir reingingen, trug ich immer eine Maske, denn man konnte da kaum atmen. Viele saßen da mehrere Tage, ohne rauszugehen. Es gab dort viele Menschen. Ich hatte große Angst, dass dieses Haus von einer Rakete getroffen würde. Wenn es eingestürzt wäre, wären wir nicht mehr rausgekommen.

Eine Frau mit Kindern wollte in den Krieg ziehen

Wir haben sofort eine App installiert, mit der wir ohne Internet kommunizieren konnten. Wir verfolgten die Nachrichten. Wir nahmen Kontakt mit der Territorialverteidigung auf und fragten, ob sie Freiwillige brauchten.

Sie sagten, es würden schon Leute nach Hostomel geschickt, einer nach dem anderen, ohne irgendeine Ausbildung. Bei der Territorialverteidigung gab man den Leuten sofort Waffen und notwendige Ausrüstung und brachte ihnen schnell bei, wie man damit umgeht. Uns sagten sie, wenn wir keine Erfahrung haben, sollten wir lieber als freiwillige Helfer gehen, zu den bewaffneten Einheiten müsse man Erfahrung mitbringen.

Wir sahen, wie sie da eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern überredeten, nach Hause zu gehen. Die wollte ein Gewehr haben und an die Front ziehen.

Die ersten fünf Tage war ich in Kiew. Die Stimmung da war so, dass alle sich auf Straßenkämpfe vorbereiteten, sie suchten Material für Molotowcocktails zusammen. Auch meine Freunde gingen los, um welche zu bauen. Wir machten Pläne für den Fall, dass sie angreifen würden. Panzer fuhren durch die Stadt. Alle bereiteten sich auf das Schlimmste vor.

Bei der Territorialverteidigung standen die Menschen in einer Schlange. Manche schrieben sich als Freiwillige ein, andere halfen vor Ort, wieder andere brachten Konserven, Messer, alles mögliche und betätigten sich als freiwillige Helfer. Man hatte das Gefühl, als wäre die ganze Stadt mobilisiert.

Am dritten Tag blieben wir schon zu Hause, denn es war einfach unmöglich, ständig in den Luftschutzkeller zu klettern. Wir schleppten Teppiche dorthin, damit die Menschen nicht auf bloßem Sand sitzen mussten. Aber trotzdem, es war Februar und schrecklich kalt.

Russische Saboteure in der Stadt

Ich habe gleich am Anfang gesagt, man müsse die ersten paar Tage durchhalten, dann wäre klar, ob sie Kiew einnehmen. So kam es auch. Wegen Irpin, Butscha und anderen kleinen Orten um Kiew herum gelang ihnen das nicht. Man hörte ständig die Sirenen in der Stadt, Explosionen, Schüsse, Maschinengewehrsalven, dauernd flog etwas durch die Luft.

Ich konnte nicht einschlafen, weil ständig etwas explodierte. Damals bestand schon Ausgangssperre, wahrscheinlich machten die ukrainischen Militärs Jagd auf Saboteure. Damals redete man viel darüber, dass es in der Stadt Zielinformanten gab.

Ich habe russische Telegram-Kanäle überwacht. Solche, die russische Militärs von ihren ekligen Panzern aus führen. Auf einem Kanal sah ich einmal eine Aufnahme mit Fotos von der Stadtverwaltung in Charkiw, darunter stand: „Hier gibt es jetzt keinen Zivilisten mehr, dies ist jetzt ein militärisches Ziel, ein militärisches Objekt.“

Zwei Stunden später schlug eine Rakete dort ein. In dem Bezirk von Charkiw, in dem meine Mutter wohnt, hat man, wie ich weiß, auch den Stab der Territorialverteidigung ausspioniert und gezielt mit einer Rakete beschossen. Irgend jemand in der Stadt hat sie informiert.

An einem dieser Tage, ich weiß noch genau, es war um 8.30 Uhr morgens, war Luftalarm. Wir schliefen zu Hause, beschlossen aufzustehen, denn gewöhnlich war es gegen 4 Uhr, 5 Uhr morgens am schlimmsten, gegen 8 Uhr wurden sie ruhiger. Ich war von einer Explosion aufgewacht, die Sonne strahlte, und vom Fenster aus war nichts zu sehen. Eine halbe Stunde später stellte sich heraus, dass das Nachbarhaus getroffen wurde, eine Rakete war im Hochhaus nebenan eingeschlagen.

Das war der Treffer, der meiner Wohnung am nächsten kam. Wir wohnten in der Nähe von Schuljany, das ist einer der Flughäfen von Kiew. Vielleicht hatten sie dorthin gezielt, aber das Wohnhaus getroffen. Das war für mich die schlimmste Geschichte.

Über die Westukraine nach Frankreich

Anfangs habe ich nicht in Betracht gezogen, aus Kiew wegzugehen, aber ein Freund hat mich am sechsten Tag überredet. Ich weiß noch, ich hatte einen hysterischen Anfall, als mir klar wurde, dass ich weggehen muss. Ich hatte lange damit zu kämpfen.

Zuerst, also die ersten fünf Tage, fühlte ich mich physisch sogar besser, weil ich unter Adrenalin stand. Mein Organismus reagierte so. Aber dann fuhr ich zum Bahnhof, arbeitete ein wenig als Freiwillige, half, die Waggons mit humanitären Hilfsgütern auszuladen und kaufte mir ein Zugticket. Eigentlich wurden alle in die Züge gelassen, aber mit einem Ticket hatte man bessere Chancen.

Eine halbe Stunde vor Abfahrt waren die Waggons pickepackevoll. Ich hatte vor, nach Kamjanez-Podilskyj zu fahren, dort wohnten die Eltern guter Freunde aus Kiew. Sie hatten mir schon am ersten Tag geraten, wegzufahren. Als ich zum Zug kam, sagte der Schaffner, es gebe keinen Platz mehr. Ein paar Minuten lang hatte ich Panik, aber ich überwand sie und zeigte mein Ticket vor. Und dann ließ man mich rein. Der Schaffner sagte: „Steig ein, irgendwie wird es schon gehen. Ich hatte einen kleinen Koffer und einen kleinen Rucksack, aber manche Leute hatten katastrophisch riesige Säcke.

Nach mir kamen dann noch an die dreißig Personen in den Waggon, in den man eigentlich niemanden mehr rein ließ. Wir fuhren auf der Plattform. Man versuchte, dass wenigstens die Kinder irgendwie sitzen konnten, viele Leute standen einfach. Der Zug fuhr sehr lange – wegen der Geschwindigkeitsbegrenzungen. Er fuhr beinahe ohne Halt. Die ersten Stunden saß ich auf dem Boden. Dann stiegen ein paar Leute aus, und ich fand einen Platz. Zum Glück kamen an manchen Stationen freiwillige Helfer herein und teilten Wasser aus.

In Kamjanez-Podilskyj war es etwas ruhiger. Wir wohnten zu fünft zusammen mit meinen Freunden, und ich begann, online zu arbeiten. In meiner Firma eröffnete sich die Option, auf freiwilliger Basis unseren Mitarbeitern, ihren Familien und Freunden zu helfen, aus den gefährlichen Regionen auszureisen. Meine Arbeit war es, die Leute anzuschreiben, zu befragen, zu koordinieren und Transportmöglichkeiten zu finden.

Wir arbeiteten von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends. Fast alle meine Freunde arbeiteten als freiwillige Helfer, deshalb haben wir ein sehr großes Kontakt-Netzwerk aufgebaut. Wir halfen einander. Einen Monat lang hatte ich mit dieser Unterstützung zu tun.

Dann fuhr ich mit einer Freundin und deren Eltern nach Frankreich. Von Kamjanez-Podilskyj wurden wir bis zur rumänischen Grenze gebracht, wir zeigten unsere ukrainischen Pässe und überquerten sie sehr schnell. In Rumänien haben uns sofort freiwillige Helfer in Empfang genommen. Dort gab es zu Essen und ein Freiwilligenlager. Wir stiegen in einen Bus, fuhren bis zur nächstgelegenen Stadt, und dort hat man uns auf dem Bahnhof sehr schnell kostenlose Zugtickets ausgestellt.

Wir fuhren bis Bukarest. Dort übernachteten wir am Bahnhof in riesigen Feuerwehrzelten. Dann hatten wir einen Flug nach Paris. Bis nach Frankreich waren wir insgesamt einen Tag unterwegs.

In Paris, in einer Vorstadt, verbrachte ich eine Woche. Interessanterweise war die Großmutter meiner Freundin Ukrainerin, sie war nach dem Zweiten Weltkrieg nach Frankreich gekommen. Sie hatte einen französischen Soldaten geheiratet.

Ich hatte keine Lust, lange dort zu bleiben. Ich wußte nicht, wohin. Ich hatte Bekannte und Freunde in Berlin. Ich dachte, ich muss mir irgendwo eine Unterkunft suchen und mich einfach richtig ausruhen. Deshalb beschloss ich, nach Berlin zu fahren. Freunde halfen mir, eine Familie zu finden, die mich aufnahm. Zuerst wohnte ich kostenlos bei ihnen, jetzt habe ich ein Zimmer gemietet. Ich arbeite immer noch für meine Firma in der Ukraine. Ich bekomme von Deutschland kein Geld, weil mein Lohn in der Ukraine größer ist als diese Unterstützung.

Ich habe nicht vor zurückzugehen

Ich habe nicht vor, in die Ukraine zurückzugehen. Ich wollte schon lange in einem anderen Land leben. Berlin gefiel mir auch früher schon, deshalb bleibe ich erstmal hier. Ich habe angefangen, Deutsch zu lernen, zum Glück wohne ich bei einer deutschen Familie mit einem Kind, das kein Englisch kann.

Vielleicht gehe ich in ein paar Jahren in die Ukraine zurück. Aber ich habe vor, ab und zu meine Familie zu besuchen. Ich war im Juli schon einmal da. Meine Familie konnte ich noch nicht überreden, herzukommen. Meine Mutter, meine Großmutter und mein Stiefvater sind dort geblieben. Er ist in Charkiw zur Territorialverteidigung gegangen.

Mit Katerina Sotnikova sprach Tatiana Firsova am 29.8.2022. Die Transkription übernahm sie gemeinsam mit Anastasiia Kovalenko, aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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