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Die Erfindung der Experten – Zum 20. Todestag von Ivan Illich

Published On: 1. Dezember 2022 8:45

Am 2. Dezember 2002 ist Ivan Illich (1926–2002) in Bremen gestorben. Illich, katholischer Priester, der neben Theologie auch Philosophie und Geschichte in Rom studierte, gehört zu jenen hellsichtigen Köpfen, die bereits früh die Versprechungen der Moderne als Illusion erkannten, und radikale Kritik an den gesellschaftlichen Entwicklungen formulierte. Erziehung und Schulen, Medizin und Gesundheitswesen, Verkehrswesen und Energiewirtschaft, die gesamte Industrialisierung, sie führten in der praktizierten Weise nicht zu mehr Partizipation, Freiheit, Gesundheit und einem guten Leben für alle. Und heute steht sogar der gesamte Planet auf der Kippe.

In den 70er Jahren erzielten seine Bücher hohe Auflagen. „Entschulung der Gesellschaft“, „Selbstbegrenzung“, „Nemesis der Medizin“ und „Energie und Gerechtigkeit“ sind einige der Titel seiner „Pamphlete“, wie er sie später nannte. Es waren Provokationen, die in der Wissenschaft und den Medien weltweit eingehend rezipiert wurden. Als jedoch die gesellschaftlichen Emanzipationsbestrebungen schwanden, gab man ihm mitunter deutlich zu verstehen, seine Zeit sei abgelaufen. Seine prophetischen Warnungen sind jedoch höchst aktuell, umso wichtiger, an sein Vermächtnis zu erinnern.

Franz Tutzer verweist auf Giorgio Agamben, der in seinem Vorwort zu dem von Fabio Milana vor kurzem herausgegebenen ersten Band der italienischen Ausgabe der gesammelten Werke Ivan Illichs schreibt: „Wir sind in der Tat überzeugt, dass für das Werk Illichs erst heute das ‚Jetzt der Lesbarkeit‘, wie es Walter Benjamin genannt hat, gekommen sei.“ (Franz Tutzer: Ivan Illich – Radikale Kritik der Moderne, in: Die Furche 30.11.2022)

Illichs Kritik ist so umfangreich, so vielschichtig und schon gar nicht einem einzelnen Wissenschaftsfach zu zuordnen. Hier ein paar Aspekte, die zu den erschreckenden Verhältnissen der vergangenen Jahre besser nicht passen könnten.

Keine Wahrheitssuche ohne Gastlichkeit

Die Pädagogin Marianne Gronemeyer von der Stiftung Convivial, die sich um das Erbe Illichs kümmert, schreibt: „Mein Lehrer Ivan Illich, der als Lehrer Gastlichkeit wie kein anderer gepflegt hat, hat in seinen letzten Lebensjahren eher beiläufig darauf hingewiesen, dass Wahrheitssuche und das Ringen um Einsicht überhaupt nur in einem Klima der Gastlichkeit und der Freundschaft, um den gemeinsamen Tisch herum, stattfinden könne.“ Seine Bücher und Aufsätze, deren Inhalte er immer wieder weiterentwickelte und die Texte dementsprechend ergänzte, entstanden in regem Austausch mit anderen, in Gesprächszirkeln, in den sogenannten Living room consultations.

Erfindung der Experten

Ein zentraler Punkt in der Analyse und Kritik Illichs ist die – nicht zuletzt durch die Herrschaft der Experten – immer weiter fortschreitende Zurückdrängung der Autonomie des Menschen in der Moderne. Heute, an der Schwelle zum Transhumanismus ist sie bereits dabei, getilgt zu werden. Wie kam es dazu?

Ab dem frühen 17. Jahrhundert wurden – wie die Historikerin Martina Kaller beim Illich-Symposium in Wien ausführte – Missetäter nicht mehr kurzerhand gefoltert oder hingerichtet, sondern nun mussten sie ihre Schuld am eigenen Leib sühnen. Dazu wurden Gefängnisse und Erziehungsanstalten installiert. Mit der Entstehung des neuzeitlichen Staates traten die ersten Experten auf den Plan. Sie sollten Strategien für den Umgang mit „Sündern“ entwickeln und Konzepte, um für Zucht und Ordnung und die Rekrutierung von loyalen Untertanen zu sorgen. Die Erziehung in einem monopolisierten Schulsystem brachte aber – auch später in einem modernisierten – weniger Chancen zur Entfaltung der vielfältigen Fähigkeiten und Vorlieben junger Menschen, sondern wirkte vielmehr sowohl stark auf ihre Nivellierung als auch auf die Differenzierung in Erfolgreiche und Verlierer. Außerdem diente sie und dient heute genauso stark der Anpassung an die Herrschaftsverhältnisse.

Kaller hob auch hervor, dass die Wissenschaft für bestimmte Herausforderungen in der Regel mehrere Lösungsvorschläge anzubieten habe. Experten hingegen wollen uns meist nur eine – möglichst warenförmige – Lösung unterjubeln. Als Beispiele nannte sie die Corona-Impfung oder die E-Autos. Jedenfalls wurde unser Dasein im Laufe der Jahrhunderte zunehmend verwaltet und gemanagt. Und um wieviel mehr noch als 1988, als Illich dies konstatierte, werden wir heute von Experten und Expertinnen „diagnostiziert, kuriert, erzogen, sozialisiert, informiert, unterhalten, garagiert, beraten, zertifiziert, gefördert oder beschützt“.

Weltentfremdete Entsinnlichung

Illich wurde nicht müde, die Verschiedenartigkeit, die Einzigartigkeit jedes Menschen hervorzuheben, und aufzuzeigen wie diese jedoch krass missachtet werden. Diese Nivellierung und die zunehmende Auslöschung der Selbstbestimmung durch verschiedene Kontrollsysteme und Institutionen gehe auch einher mit einer „weltentfremdeten Entsinnlichung“. Wobei heute die Kontrollinstanzen immer weniger nötig sind, weil die Menschen die Guidelines bereits verinnerlicht haben. Sie uniformieren sich von selber. „Immer tiefer sinkt die sinnliche Wirklichkeit unter die Folien von Seh-, Hör- und Schmeck-Befehlen.“ Es hat eine „einzigartige Geschichte der Entkörperung unserer Wahrnehmung, unserer Begriffe und unserer Sinne“ stattgefunden. Das Ergebnis ist eine „programmierte Hilflosigkeit“.

Entmenschlichende Wirkung von Infografiken

Heute erfolgt die Selbstwahrnehmung der Menschen immer weniger durch die Sinne, sondern zunehmend via Daten. Daten, die der Fitnesstracker liefert oder die aus den Klicks in den sozialen Medien errechnet werden. Ranking und Rating bestimmen unser Wohl und Weh. Auch dieser Entwicklung war Illich bereits vor Jahrzehnten auf der Spur. Er hatte ein besonders scharfes Auge auf die – geradezu „entmenschlichende Wirkung“ der zunehmenden medialen Verbreitung von Infografiken, von Säulen-, Kreis-, Balken-, und Kurvendiagrammen. Eine „unheimliche Visualisierung von verwaltungsförmigen Abstrakta“ mit „Aussagen ohne Subjekt und Prädikat“.

„Die Erziehung zum unwirklichen Machwerk beginnt mit den Lehrbüchern, deren Text auf Legenden zu Graphik-Kästen zusammengeschrumpft ist, und endet mit dem Sich-Festhalten des Sterbenden an ermunternden Test-Resultaten über seinen Zustand. Erregende, seelisch besetzende Abstrakta haben sich wie plastische Polsterüberzüge auf die Wahrnehmung von Welt und Selbst gelegt.“

Von Dalmatien über Wien nach New York und Mexiko und retour nach Bremen

Illichs Lebensweg war genauso außergewöhnlich wie sein Denken, seine Wege zu Erkenntnissen und seine Arbeitsweisen. Deshalb seien Ihnen drei aufschlussreiche Bücher – von Martina Kaller-Dietrich, Thierry Paquot und David Cayley – ans Herz gelegt, die das Denken Illichs erläutern und den Bezug zu seiner Biografie herstellen.

Literatur

See page for author, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten spiegeln nicht unbedingt die Ansichten der fixen Autoren von TKP wieder.

Maria Wölflingseder, Dr. phil., Publizistin von Theorie bis Poesie, Redakteurin der Streifzüge


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