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Das Doppelleben der Russen

Published On: 5. Dezember 2022 12:16

Ich habe 21 Jahre lang in Sankt Petersburg gewohnt. Als ich meinen Mann kennenlernte, bin ich dorthin umgezogen. Ich komme aus Minsk in Belarus. Ich habe als Psychologin gearbeitet. Mein Mann ist halb Deutscher. Meine Schwiegermutter ist zu hundert Prozent deutscher Abstammung. Das erklärt ganz gut die Situation des Schocks und Ungewissheit, in der sich meine Familie schon lange vor dem Krieg befand.

Meine Schwiegermutter hat ihr Leben lang alle Informationen darüber ausradiert, dass sie Deutsche ist. Auch ihre Eltern hatten die Geschichte ihrer ethnischen Zugehörigkeit ständig zu bereinigen. Hätte es diese Manipulationen mit den Dokumenten nicht gegeben, hätte mein Mann viel schneller die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten.

Mein Mann fuhr zwei Wochen vor Beginn der Mobilmachung nach Berlin, um sich mit diesen Fragen zu befassen. Er hat das sein Leben lang vor sich hergeschoben. Er hat zwar seinen Stammbaum erforscht, die Anfänge der Auswanderung seiner Vorfahren nach Russland ausgegraben, mit allem Auf und Ab. Aber er hat nie etwas Konkretes unternommen, um nach Deutschland zu fahren und wieder in seine Rechte einzutreten.

Wir haben in den 2000ern geheiratet. Damals hatte man in Russland die Möglichkeit, das alles in der Heiratsurkunde und in der Geburtsurkunde des Kindes festzuhalten. Aber weder er noch ich haben es angegeben. Bei uns waren in der Rubrik Nationalität nur Striche.

Ich hätte nicht nur angeben können, dass ich in Belarus geboren wurde, sondern dass ich mich auch als Belarussin verstehe. Und mein Mann hätte, obwohl er in Russland geboren wurde und in Russland gelebt hat, angeben können, dass er sich als Deutscher fühlt.

Was mich angeht, ich fühle mich nicht als Belarussin. Ich fühle mich schlichtweg als Mensch. Heimat, das sind meine Angehörigen, meine Familie, der Ort, wo wir uns gerade aufhalten.

„Es ist alles nicht so eindeutig“

Für mich entfaltete sich in dieser Geschichte eine Art Infantilismus, in dem sich meine Landsleute befinden. Und das liegt nicht daran, weil alle so verschlagen sind und sich nicht einmischen wollen, keine Verantwortung übernehmen wollen. Es ist vielmehr eine von Generation zu Generation weitergegebene Hilflosigkeit.

Diese Geschichte mit dem „Es ist alles nicht so eindeutig“ sehe ich sehr gut bei mir selbst. Ich verstehe die Menschen, die das sagen, weil ich es selbst gesagt habe, und ich weiß, was in diesem Moment mit mir vor sich ging. Das war Angst und Verdrängung.

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Seit Februar 2022 sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine und zahlreiche russische Oppositionelle nach Deutschland geflüchtet. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Ich war immer ein apolitischer Mensch. Mein Mann dagegen ist ein Küchenrevolutionär. Er hat eine Position, er ist gegen den Staat, aber immer nur auf der Ebene des Redens. Ich fand es immer komisch, dass mein Mann zwar eine ausformulierte Position hatte, aber nichts tut. Ich hatte im Unterschied dazu keine feste Position. Deshalb habe ich immer gesagt, es ist alles nicht so eindeutig.

Das kommt aus meiner Kindheit, von meinem Vater, der sich sein Leben lang immer aus der Politik herausgehalten hat. Er schuf sich sein Phantasieland, wo er nach seinen eigenen Gesetzen lebte. Mein Vater glaubte nicht daran, dass der Mensch irgendetwas bewirken könne, er meinte, es sei sinnlos, etwas zu sagen.

Aber als 2020 in Belarus diese Unruhen ausbrachen, da gingen meine Eltern, die sich 35 Jahre lang immer aus der Politik herausgehalten hatten, auf die Straße. Nachdem mein Vater die Ansprache von Swetlana Tichanowskaja gehört hatte, ging er auf einmal auf alle Meetings.

Ich saß in Sankt Petersburg und machte mir riesige Sorgen um ihn. Er aber sagte: „Tanja, wenn im Fernsehen eine Frau, die meine Tochter sein könnte, zu mir sagt, ich soll keine Angst haben, und ich sitze mein ganzes Leben mucksmäuschenstill da und habe Angst und verstecke mich dahinter, dass ich keine Position habe und an nichts glaube… Ich habe zugelassen, dass diese Leute an die Macht gekommen sind. Und jetzt muss dieses Mädchen ihr Leben aufs Spiel setzen, um mich daran zu erinnern. Und natürlich bin ich auf die Straße gegangen.“ Aber das führte zu nichts.

Das sowjetische Erbe in den Köpfen

Nachdem ich am 26. September nach Berlin gekommen war, verstand ich, dass ich mich nicht permanent hinter diesem „Es ist alles nicht so eindeutig“ verstecken konnte. Denn man muss in erster Linie für sich selber die Entscheidung treffen: Wo bist du?

Ich beginne darüber nachzudenken, wenn ich dort 21 Jahre verbracht habe, dann war ich dabei doch nicht unsichtbar. Warum also habe ich meine politische Haltung nicht geäußert? Warum habe ich sie in mir selber nicht formuliert und nicht weitergegeben? Das ginge doch genauso leicht, wie ich zum Beispiel mit meinen Klienten über ihre Missbrauchserlebnisse sprechen kann und über die Situationen, in denen ein Mensch sein Recht, seine Position und seine Grenzen verteidigen muss.

Warum habe ich es da gemacht, und hier rumgemauschelt, mich versteckt hinter diesem „Das ist alles nicht so eindeutig, ich verstehe nichts von Politik, und überhaupt hat man mir mein Leben lang von klein auf immer erzählt, dass alle die, die an der Macht sind, des Teufels sind.“ Dann stellt sich doch die Frage: Warum lasse ich es zu, dass diese teuflischen Mächte uns regieren?

Und den Anderen erzähle ich, sie sollen es nicht zulassen. Was ist das für eine Heuchelei, was für eine Doppelmoral. Warum lebe ich hier so, und da anders.

Leben in zwei Welten

Ich habe verstanden, dass dies aus Sicht der Psyche eine vollkommen verrückte Erziehung ist, ein Leben in zwei Welten. Das ist das, worin wir aufgewachsen sind. Wenn du zu Hause in der Küche von deinen Eltern das eine hörst, aber in der Schule, in der Universität oder beim Arzt etwas ganz anderes. So war es zu Zeiten der Sowjetunion.

Das ruft bei dir eine bipolare Störung hervor, denn es gibt für dich einmal alles das, was in dir eingeschlossen ist, was nur dir gehört, was fest in den Wänden deines Zuhauses eingesperrt ist, und es gibt die Welt draußen. Wie kann man dabei eine klare eigene Position ausbilden?

Ich verstehe, dass das wichtig ist, denn jetzt sind wir mit der Mobilmachung konfrontiert, und mein Kind befindet sich in genau dieser Situation. Ich will das nicht wieder so machen. Mein derzeitiger Status ist ungeklärt. Ich weiß nicht, wie es weitergeht. Aber ich weiß genau, dass ich jetzt eine Entscheidung treffen muss, dass ich jetzt nicht zu meinem zweiten Land gehöre, nicht zu Russland.

Diese Entscheidung ist mir schwergefallen, das war nicht leicht; wir mussten unseren ganzen Besitz aufgeben. Im Großen und Ganzen ist mir die Sache mit dem Eigentum sehr wichtig, ich denke, genau wie für viele andere auch. Das ist die Sache mit dem Zuhause. Das ist der materielle Beweis dafür, dass du existierst, du bist dort fixiert, du bist dort in Sicherheit, da gibt es eine große Menge von unterschiedlichen Sinngehalten, die du da hineingelegt hast.

Während mein Mann in Berlin war, war ich in Sankt Petersburg, in einer neuen, frisch renovierten Wohnung. Wir waren gerade erst eingezogen und hatten angefangen, uns einzurichten. Mein Sohn ist 17 Jahre, er ist in der Abschlussklasse 11. Er wollte danach studieren. Ich bin ausgereist, als die Mobilmachung begann. Ich schnappte mir mein Kind, und wir fuhren mit dem Auto nach Finnland. Dort ließ ich das Auto stehen, und wir flogen von Helsinki nach Berlin.

Wahrscheinlich ist das eine Strategie, die von Generation zu Generation weitergegeben wird – die Flucht. Schnell packen und abhauen in dem, was man auf dem Leibe hat. So habe ich es gemacht.

Am 25. September verließ ich Russland und sah, was an der Grenze passierte. Man hat das Geld gezählt, das ich einführte. Man muss allerdings bemerken, dass es von russischer Seite zu dieser Zeit keinerlei Schikanen oder böse Bemerkungen gab, keine Beleidigungen, nichts. Das war die ganz normale Prozedur.

Wir hatten den Plan, in Deutschland zu überlegen, was wir weiter machen wollten. Und in diesem Zustand waren wir einen ganzen Monat lang. Mein Kind kann keine Schule besuchen. Und außerdem habe ich Angst, in der Schule in Russland zu sagen, dass wir weggegangen sind. Das ist schon wieder diese Geschichte mit der Nichteindeutigkeit.

Ich fühlte, dass die politische Weltordnung während der letzten 20 Jahre in uns den Konsumenten kultiviert hat, nicht den Bürger. Als ich vor 20 Jahren aus Belarus wegging, hatte ich Angst, ich habe mein Leben vor der Regierung gerettet. Dort war kein Krieg, aber es war schrecklich. Es gab keine Arbeit, viel Kriminalität, man musste fürchten, dass ein Familienmitglied umgebracht wird oder „an der Nadel hängt“. Und jetzt gehe ich wieder weg, diesmal aus Russland.

Wir sind jetzt das Produkt, die Konsequenzen, die nicht erst mit der Annektierung der Krim gelegt wurden. Das war ein langer Weg, das wurde exakt in uns herangezogen. Das ist ein in der UdSSR herangezogenes Thema: „Mit dem darfst du darüber nicht reden, halt lieber den Mund, behalte deine Gedanken für dich.“ Das ist eine absolut gesunde Reaktion, damit die Art überlebt.

Für mich ist das alles sehr interessant. Mir ist klar, dass das, was ich jetzt erlebe, eine Fortsetzung der Selbsterkenntnis ist. Aber das beschränkt sich nicht auf die Psychologie. Auch die Gesellschaft hat starken Einfluss. Ich kann mich unentwegt bemühen, die Humanität zu mehren und weiterzuentwickeln, während ich mich in einem Milieu befinde, das mich unterdrückt. Das mir die ganze Zeit „auf die Finger haut“, wenn ich die Hand nach etwas ausstrecke. Und das macht Angst.

Im Fernsehen hat man in den letzten Jahren viele schreckliche Geschichten gezeigt, dass jemand seine Position artikuliert hat und man ihn, zum Beispiel, im Gefängnis vergewaltigt hat. Natürlich, so driftet ein Mensch in dieses Schema „Es ist alles nicht so eindeutig“ ab, weil er sonst verrückt wird. Ständig wird uns gesagt: „Du musst dich entscheiden, du musst erwachsen sein, du musst eine politische Position haben.“

Das sagt man Menschen, die eben deshalb permanent erzogen und geschlagen wurden, eben für diese ihre politische Position. Wir können das von unseren Landsleuten nicht permanent verlangen.

Ambivalenz ist eine Strategie mehrerer Generationen, denen das geholfen hat zu überleben. Wenn ich mit meinen Verwandten nicht darüber sprechen kann, was ich denke, und sie mit mir auch nicht darüber sprechen können, darin besteht unser größtes Problem. Nicht darin, dass meine Schwiegermutter für Putin ist. Sondern darin, dass wir alle in Streß geraten, wenn sie anfängt, darüber zu reden. Als hätte sie ein Maschinengewehr aus der Tasche geholt oder gleich eine Atombombe.

Warum stresst uns das? Warum können wir innerhalb unserer Familie die Tatsache nicht akzeptieren, dass dies schon sehr lange so ist. Und wir haben nichts dagegen gemacht, als der Anfang dafür gelegt wurde. Warum haben wir unsere Eltern in den Nullerjahren nicht vom Fernsehgerät weggezerrt, warum haben wir ihnen keine Alternativen gezeigt, nicht mit ihnen darüber gesprochen, ihnen nicht die Informationen gegeben, die wir konsumierten?

Wenn ich jetzt die Geschichte vom Zerfall der Familie höre, verstehe ich nicht, was das für eine Familie war. Können Sie sich vorstellen, dass deswegen die Beziehung zwischen Mutter und Tochter zerbricht?

Meiner Meinung nach bezeichnet das eine ernste geistige Krise. Es gibt die Auffassung, dass wir, nachdem wir Gott getötet hatten, nachdem Nietzsche erklärt hatte, Gott existiere nicht, wir in eine existenzielle Krise geraten sind. Wenn es kein höheres Wesen gibt, das auf uns schaut, dann sind wir zwangsläufig für uns selbst verantwortlich. Und dazu ist der Mensch nicht in der Lage. Das ist eine ungeheure Verantwortung für sich selbst.

Angefangen mit Hitlerdeutschland, vom Nationalsozialismus bis zum Kommunismus, das ist immer derselbe für den gewöhnlichen Menschen ausgedachte „Gott“, der jetzt aber nicht mehr auf den Wolken hockt, sondern an der Spitze des Landes. Und dieser „Gott“ kann mir jetzt sagen, wo ich hingehen soll.

„Von Deutschland erwarte ich nichts.“

Ich erwarte nichts von Deutschland. Mein Land hat mich gelehrt, von niemandem etwas zu erwarten, keine Hoffnung zu haben. Ich habe keine Schuld daran, dass Russland die Ukraine überfallen hat, ich werfe mir an dieser Stelle nichts vor. Ich schäme mich nicht vor den Ukrainern, den Belarussen, den Deutschen. Aber ich habe nicht vor, mich auf mein Land zu verlassen, und schon gar nicht, Deutschland zur Last zu fallen.

Ich will ein autonomer Mensch sein, der die Möglichkeit hat, überall zu sein, wo er sein will. Jetzt möchte ich so frei wie möglich sein, in keinem Land etwas besitzen, aber so integer und gefragt sein, dass es für jeden Staat eine Ehre wäre, mich aufzunehmen als eine Bürgerin, die diesem Land Nutzen bringt.

Es ist mir sehr angenehm, die Deutschen zu beobachten, die an ihre Regierung glauben. Ich würde auch gern so leben. Aber ich bin aus einer Generation, die das nicht kann, und die das auch nicht so schnell lernen wird.

Die gegenwärtige Krise der Diplomatie ist sehr offensichtlich. Eine Menge kluger Männer und Frauen können sich nicht einigen. Es ist so weit gekommen, dass sogar die Politiker sich nicht zusammensetzen und miteinander reden können.

Es gibt ein großartiges Buch: „Gewaltfreie Kommunikation“ von Marshall B. Rosenberg, das kann ich nur jedem empfehlen. Ich würde gern offen meine Haltung aussprechen. Aber solange ich russische Staatsbürgerin bin, habe ich Angst davor. Weil ich dieses schwarze Auto unter meinem Fenster fürchte.

Mit Svetlana (Name aus Sicherheitsgründen gendert) sprach Tatiana Firsova am 7.10.2022. Die Transkription übernahm Anastasiia Kovalenko, aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa.

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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