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Geschickter Zug: Wie Erdogan zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt

Published On: 15. Dezember 2022 16:49

Die türkische Offensive gegen die Kurden in Nordsyrien scheint geschickter Schachzug Erdogans zu sein, der aufgehen könnte.

Am 18. Juni 2023 werden in der Türkei gleichzeitig Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden. Eine Mehrheit für Erdogans Regierungsbündnis ist dabei nicht sicher, zumal die wirtschaftliche Lage in der Türkei schwierig ist und das Land unter einer immensen Inflation leidet. Man muss die Entscheidung Erdogans, jetzt mit der Armee gegen die syrischen Kurden der YPG vorzugehen, auch vor dem Hintergrund der anstehenden Wahlen sehen, denn Erdogan braucht einen großen Erfolg, wenn er die Wahlen sicher gewinnen will.

Der Kampf gegen die Kurden der PKK, deren Ableger die YPG ist, ist in der Türkei populär. Ein Erfolg gegen die kurdische Tarnorganisation PKK, oder deren syrischen Ableger, wäre also etwas, das Erdogan bei der Wahl helfen würde. Allerdings steht dem entgegen, dass ein Militäreinsatz immer auch das Risiko vieler eigener toter Soldaten birgt, was in keinem Land der Welt populär ist. Die Frage ist also, wie Erdogan einen Erfolg gegen die Kurden erreichen kann, ohne allzu viele Opfer unter den eigenen Soldaten zu riskieren.

Das bestehende Problem

Ich habe am 14. Dezember die Analyse eines Nahost-Korrespondenten der russischen Nachrichtenagentur TASS übersetzt, in der man anscheinend die Antwort auf diese Frage findet. Daher wiederhole ich die entscheidenden Teile hier noch einmal und kommentiere sie.

„Eine Reihe von Experten ist der Ansicht, dass die derzeitigen Bemühungen um eine Beilegung der Situation im Norden Syriens Ankara und Damaskus einander näher bringen könnten. Der Kolumnist Al-Ahbar Ayham Murai wies auf die Rede des russischen Außenministers Sergej Lawrow bei den Primakow-Lesungen hin, in der er vorschlug, dass Syrien und die Türkei zu einer bilateralen Koordinierung zurückkehren sollten, um die Sicherheit an der gemeinsamen Grenze zu gewährleisten, wie es in den Adana-Abkommen von 1998 festgelegt wurde.“

Vor dem Syrienkrieg gab es keine nennenswerten Probleme an der türkisch-syrischen Grenze, weil im Adana-Abkommen geregelt war, dass Syrien die PKK aus dem Land wirft und dass die Türkei auf syrischer Seite in einem 15 Kilometer breiten Grenzbereich notfalls militärisch gegen kurdische Einheiten vorgehen darf. Syrien kann seinen Teil des Abkommens derzeit jedoch nicht umsetzen, weil die Kurdengebiete nicht unter der Kontrolle der syrischen Regierung stehen. Die syrische Armee kann auch nicht gegen die Kurden vorgehen und die Kontrolle gewaltsam zurückerlangen, weil in dem Kurdengebiet US-Truppen sind, die das Gebiet de facto besetzt halten.

Um das umzusetzen, was Lawrow vorgeschlagen hat, müssten also die Amerikaner dazu gebracht werden, zumindest aus der Grenzregion abzuziehen, oder Syrien ganz zu verlassen. Dann wäre eine Verhandlungslösung zwischen der syrischen Regierung und den Kurden möglich, was die Grenze wieder unter syrische Kontrolle bringen und die Wiederbelebung des Adana-Abkommens ermöglichen würde.

Es ist übrigens bezeichnend, dass ausgerechnet die amerikanische Präsenz in Syrien ein Sicherheitsrisiko für den NATO-Verbündeten Türkei schafft, dass es unter der syrischen Regierung nicht gegeben hat.

Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen

Weiter schreibt die TASS:

„Murai schließt nicht aus, dass eine Verbesserung der Beziehungen zwischen den beiden Nachbarn, die Aufnahme von Gesprächen über eine Nachkriegsordnung in Syrien und die Frage der Rückkehr der Flüchtlinge vor den im Juni anstehenden Präsidentschaftswahlen im Interesse der in Ankara regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung liegen könnte. „Erdogan versucht, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: einen unblutigen Sieg über die Kurden zu erringen und einen neuen Ansatz für die Beziehungen zu Damaskus zu demonstrieren“, so der Beobachter. Er bezweifelt jedoch, dass es innerhalb der nächsten sechs Monate zu einem Treffen zwischen den Präsidenten Erdogan und Assad kommen wird. Nach seinen Informationen fanden die syrisch-türkischen Kontakte bisher auf der Ebene der Geheimdienste statt.“

Hier finden wir den Hinweis auf die anstehenden Wahlen in der Türkei und Erdogans mögliche Strategie: Er will mit seiner spektakulär angekündigten Offensive lediglich Druck machen, damit Bewegung in die Situation kommt und er sich mit der syrischen Regierung einigen kann. Würde die syrische Regierung die Kontrolle über die Gebiete zurückerlangen und das Adana-Abkommen wieder umsetzen können, wäre das für Erdogan ein großer innenpolitischer Erfolg, der noch dazu mit kaum eigenen toten Soldaten erreicht worden wäre.

Aber der von der TASS befragte Beobachter bezweifelt, dass es in absehbarer Zeit zu einem Treffen von Erdogan und Assad kommen wird, auf dem eine Einigung erreicht werden könnte. Damit scheint der Beobachter falsch zu liegen, wie eine aktuelle TASS-Meldung zeigt, die ich daher vollständig übersetze.

Beginn der Übersetzung:

Erdogan schlägt ein Treffen zwischen den Präsidenten der Türkei, Russlands und Syriens vor

Der türkische Präsident sprach sich auch für ein gemeinsames Vorgehen der drei Länder bei der Bodenoperation in Syrien aus

ANKARA, 15. Dezember. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte, er habe seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin vorgeschlagen, ein trilaterales Treffen mit dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad abzuhalten.

„Das erfordert jedoch Treffen der Geheimdienste, dann der Verteidigungsminister und schließlich der Außenminister. Auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Gespräche wird es möglich sein, über ein Treffen der Staatschefs zu sprechen. Ich habe Herrn Putin das vorgeschlagen und er hat die Initiative positiv aufgenommen. Dies wird der Beginn einer Reihe von Verhandlungen sein“, erklärte der türkische Staatschef nach seiner Rückkehr aus Turkmenbaschi, wo er am Mittwoch an einem Treffen der Staatsoberhäupter der Türkei, Turkmenistans und Aserbaidschans teilnahm, gegenüber Journalisten. Seine Äußerungen wurden am Donnerstag vom Fernsehsender TRT zitiert.

Zu den Plänen der Türkei, eine Bodenoperation in Syrien durchzuführen, sagte Erdogan: „Ankara ist für gemeinsame Schritte von Russland, der Türkei und Syrien.“ Erdogan erinnerte in diesem Zusammenhang an die Entscheidung, die im Memorandum von Sotschi 2019 verankert ist. „Was ist das für eine Entscheidung? Es geht um die Schaffung eines 30 Kilometer breiten Sicherheitskorridors südlich unserer Grenzen. Wir werden alle notwendigen Schritte unternehmen, um diesen Korridor zu schaffen. Das ist nichts Neues, das wurde schon in Astana und dann in Sotschi diskutiert. Außerdem ist unsere Abstimmung mit Russland in Bezug auf Syrien nichts Neues“, sagte der türkische Präsident.

Er betonte, dass die Geduld Ankaras mit der von dem Nachbarland ausgehenden terroristischen Bedrohung und der Unterstützung terroristischer Organisationen durch den Westen, insbesondere die USA, am Ende sei. „Wir sagen vor allem den USA, dass wir Maßnahmen ergreifen werden, um uns selbst zu schützen, wenn Sie weiterhin Tausende von LKW-Ladungen mit Waffen, Munition und Ausrüstung an die dort operierenden Terrororganisationen schicken“, sagte Erdogan.

Türkische Medien berichteten nach den Gesprächen zwischen den Präsidenten der Türkei und Russlands am 5. August in Sotschi, dass Ankara die Möglichkeit direkter Kontakte zwischen der türkischen und der syrischen Führung erörtert. Die türkische Regierung erklärte in diesem Zusammenhang, dass derartige Gespräche bisher nicht geplant seien. Am 6. Oktober, nach dem Gipfeltreffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Prag, erklärte Erdogan, dass ein persönliches Treffen mit Assad derzeit nicht in Frage käme. Später sagte er, ein solches Treffen werde stattfinden, „wenn die Zeit reif ist“

Ende der Übersetzung

Wie reagieren die USA?

Die Türkei, Syrien und Russland sind sich nun einig darüber, dass es die Anwesenheit der US-Truppen im Nordosten Syriens ist, die die Sicherheit in der Region stört. Syrien möchte wieder die Kontrolle über sein Staatsgebiet bekommen und die dortigen Kurden haben prinzipiell nichts dagegen, wollen allerdings eine möglichst weitgehende Autonomie. Das findet die syrische Regierung nicht gut, aber wahrscheinlich könnte man – mit ein bisschen Druck aus Moskau – eine Einigung finden.

Bisher verhindert die Anwesenheit der US-Truppen das jedoch, weil ihre Anwesenheit die Verhandlungsbereitschaft der Kurden einschränkt. Ohne die Rückendeckung der USA wären die Kurden sicher kompromissbereiter, und im Interesse eines langfristigen Friedens würde Russland wohl Druck auf Syrien machen, den Kurden ebenfalls entgegen zu kommen.

Die Türkei, das hat Erdogan nun offen gesagt, will ebenfalls, dass die USA ihre Truppen dort abziehen, weil die USA die Kurden mit Waffen unterstützen, die die Kurden gegen den NATO-Verbündeten Türkei einsetzen.

Und auch Russland fordert seit Jahren, dass die USA ihre völkerrechtswidrige Besetzung von Teilen des souveränen Staates Syrien beenden.

Offenbar sind die Türkei, Russland und Syrien hinter den Kulissen schon einige Schritte weiter, denn auch wenn sie noch immer unterschiedliche Interessen haben, sind sie sich alle darin einig, dass die USA abziehen müssen, wenn man in der Region einen Frieden erreichen möchte. Und dass Erdogan nun ein Treffen mit Assad für möglich hält, sind ganz neue Töne, die ebenfalls zeigen, dass man hinter den Kulissen schon weiter sein dürfte, als man offiziell mitteilt.

Für Erdogan wäre das der innenpolitische Erfolg, den er für die Wahlen benötigt. Für Syrien wäre es die Möglichkeit, endlich wieder die Kontrolle über die kurdischen Gebiete zu bekommen. Für Russland wäre jeder Erfolg gegen die USA ein Grund zum Feiern. Und die Kurden würden wahrscheinlich eine erweierte Autonimie in Syrien und endlich Frieden bekommen.

Dass die Kurden grundsätzlich bereit sind, wieder unter unter der Herrschaft von Assad zu leben, konnte man ebenfalls in der Analyse der TASS erfahren. Die TASS hat über den Standpunkt der Kurden geschrieben:

„Nach Ansicht des kurdischen Vertreters ist eine nationale wirtschaftliche Integration für Syrien in dieser Phase von entscheidender Bedeutung. „Die Kurden verfügen über Ölreichtum, Wasserquellen und Brotkörbe, die allen Syrern gehören und gerecht verteilt werden müssen“, betonte er. „Wir sind damit einverstanden und wollen unseren Brüdern im Rest des Landes, die jetzt unter der Krise und den Sanktionen leiden, so schnell wie möglich helfen.“
Dem Syrienexperten Al Halabi zufolge wird die kurdische Führung von Politikern dominiert, die die Unvermeidbarkeit einer Einigung mit Damaskus anerkennen, aber es gibt auch solche, die sich als „Amerikas treueste Freunde“ bezeichnen und den Dialog mit der syrischen Regierung und den Handel zwischen beiden Seiten behindern.“

Damit bleibt die Frage offen, wann es zu einem Treffen der Präsidenten der Türkei, Russlands und Syriens kommt und wie die drei die USA aus Syrien herausbekommen wollen. Nach einem Abzug der US-Truppen scheint ein Frieden in greifbarer Nähe zu rücken.


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