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Saboteure in der Nachbarschaft

Published On: 19. Dezember 2022 15:47

Nikita ist nicht einverstanden mit den Termini „Kriegsflüchtling“ und „Flucht“ aus der Ukraine, er meint, sie entsprechen nicht der Realität und beschreiben seine Geschichte nicht richtig. Seiner Meinung nach sollte man lieber „Umzug“ sagen. Das Interview wurde auf Ukrainisch geführt.

Ich stamme aus Kiew, ich bin dort geboren und aufgewachsen. Ich habe an der Kiewer Nationalen Universität für Bauwesen und Architektur studiert, Fachbereich Städtebau. Ich bereitete mich gerade auf mein Aufbaustudium vor. Ich arbeitete in der Videoproduktion, ich stellte digitale Videos und Animationen her, weil mir irgendwann klargeworden war, dass ich etwas anderes machen will.

2014, ich war noch in der Schule, da sprach man im Fernsehen über Donezk und Luhansk. Ich bekam eine Gänsehaut. Aber damals habe ich nicht viel darüber nachgedacht. Ich fühlte, das ist irgendwo, das gehört zu uns, aber das hat mich nicht direkt betroffen.

Ende Herbst 2021 hörte ich zum ersten Mal von der Möglichkeit eines echten Kriegs, aber das ging mir am Ohr vorbei. Vor dem 24. Februar dachte ich immer, sowas ist völlig unreal. Die Leute müssen krank sein, die glauben, es würde einen Krieg geben.

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Seit Februar 2022 sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine und zahlreiche russische Oppositionelle nach Deutschland geflüchtet. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Ich konnte das nicht glauben, denn im 21. Jahrhundert gibt es doch so viele Einflüsse, ökonomische, politische, finanzielle. Wenn man diese Spiele spielt, dann gibt es viele Möglichkeiten, sie ohne physische Gewalt zu spielen. Ich konnte nicht glauben, dass ich einmal in einem Setting wie aus historischen Büchern leben würde.

Wenn ich jetzt Bücher über den Zweiten Weltkrieg lese, nehme ich den Krieg ganz anders wahr. Man stellt sich das nicht mehr vor, wie man es im Film gesehen hat, sondern so, wie man es im eigenen Leben erlebt hat. All diese Zerstörungen, Belagerungen, Menschenschlangen.

Der 24. Februar: Ich sollte zur Fahrschule gehen

Am 24. Februar sollte ich zur Fahrschule gehen. Mein Wecker klingelte um 5 Uhr früh. Ich hörte irgendeine Explosion, aber achtete nicht weiter darauf. Ich wohnte im Bezirk der Kiewer Polytechnischen Universität, und da hat man auch früher öfter mal unerklärliche Geräusche von den Lagerhallen gehört.

Dann rief ich meine Freundin an, und sie sagte, der Krieg habe angefangen. Meine Mutter kam angelaufen und sagte dasselbe. Das war schrecklich. Alles was ich mir überlegt hatte, mir vorgestellt und für die Zukunft geplant hatte wurden in einer Sekunde ausgelöscht. Ich musste mich sehr schnell entscheiden, und das in einem Zustand völliger Ungewissheit.

Wegfahren oder nicht? Ich blieb zunächst

Sofort wegzufahren war sinnlos, es gab schon riesige Staus. In diesem Moment sagte mir eine innere Stimme, ich solle lieber nicht fahren, das geht nicht gut. Ich war bis Mitte Juni in der Ukraine. In Kiew bis zum 8. März. Anschließend wohnte ich mit meiner Familie eine Zeitlang in der Westukraine, und im Mai zogen wir wieder zurück nach Kiew.

In Kiew gingen wir während der Luftalarme in den Keller meiner Großmutter. Ich habe damals etwa sieben Kilo verloren, obwohl ich vorher schon nicht gerade dick war. Ich war sehr abgemagert. Ich schlief schlecht, das Essen fiel mir schwer, aber man musste ja essen.

Wir waren zu sechst, meine Mutter, mein Vater, meine Großmutter, mein jüngerer Bruder, meine Schwester und ich. Mein Bruder ist vier Jahre jünger als ich, meine Schwester ist acht Jahre alt. Wir alle waren in einer Einzimmerwohnung eingepfercht. Aber es war irgendwie ganz harmonisch, wir sind sehr respektvoll miteinander umgegangen.

Ich habe weiter gearbeitet, um mich abzulenken. Wenn ich nicht arbeitete, spürte ich sofort, wie die destruktiven Gedanken losgingen. Das nützt nichts.

Wir fuhren mit zwei Autos in den Westen der Ukraine, um ein wenig abzuwarten. Das war eine sehr intensive Zeit, sie griffen von Belarus aus an, es waren Panzer in der Stadt. Wir hatten es bis zuletzt hinausgeschoben, aber am Ende sind wir gefahren.

Ich zog wegen meiner Freundin nach Berlin

Ich bin nach Berlin gefahren, um mein Aufbaustudium fortzusetzen. Ich ging an die Technische Universität. Der andere Grund, warum ich fuhr, war die Liebe. Ich verstand, dass meine Freundin, die vor mir nach Berlin gefahren war, meine Unterstützung brauchte. Obwohl ich anfangs nicht den Plan hatte, wegzugehen. Ich hatte so eine Möglichkeit nicht einmal erwogen.

Ich bin 24 Jahre alt. Ich bin mit einer offiziellen Genehmigung gefahren, weil ich eine Einladung an die Berliner Universität für das Aufbaustudium hatte. Die ganzen Papiere zu bekommen, das war ein langes Prozedere. Ich erhielt die Genehmigung des Wehramts, ich wurde freigestellt. Ich fuhr unter Stress, denn irgendwie dachte ich, sie würden mich trotz der Papiere nicht rauslassen. Ich fuhr allein, alle meine Verwandten blieben in Kiew.

Tatsächlich bin ich wegen des Studiums gefahren, weil ich dachte, es könnte mir in der Zukunft nützlich sein, um die ukrainischen und die deutschen Erfahrungen zu verbinden, für gemeinsame Projekte. Zumal ich solche Erfahrungen schon hatte. Ich hatte schon Ideen, was man machen konnte.

Ich war vor dem Krieg schon in Berlin gewesen. Ich stellte mir vor, man könnte Kontakte knüpfen, die dabei helfen würden, die Ukraine wiederaufzubauen.

Saboteure zogen in der Nachbarschaft ein

Architektur als Job interessiert mich nicht. Das heißt, ich will nicht Architekt werden. Aber ich erforsche gern städtebauliche Fragen, mir gefällt der wissenschaftliche Aspekt. Meine Dissertation behandelt den Einfluss der Nachbarschaft, wie die Menschen im städtischen Milieu miteinander kommunizieren, was sie verbindet. Und was man zum Beispiel in Kiew machen kann, damit das besser funktioniert. Wie kann man den städtebaulichen Prozess so gestalten, dass die Bezirke gute Nachbarschaft ermöglichen.

Ich hatte nie darüber nachgedacht, aber zu Beginn des Kriegs habe ich in den Nachbarhäusern und in den Nachbartbezirken sehr viele unbekannte Menschen gesehen. Es gab keine Nachbarschaft, wo die Menschen einander kennen.

Gott sei Dank ging alles gut. Aber in der Nachbarschaft zogen russische Saboteure ein, und die Leute haben nichts geahnt. Ich glaube, es ist wichtig, eine Community zu schaffen, sich kennenzulernen und gemeinsame Interessen zu haben. Genau das passiert gerade, die Einigung des Volks. Aber das passiert wegen des Kriegs.

Brücke zwischen Deutschen und Ukrainern

In Berlin habe ich eine Wohnung gemietet. Ich bekomme keine Unterstützung vom Staat. Ich arbeite weiterhin online in der Ukraine, mache Videos. Mein Studienjahr hat schon begonnen. Ein halbes Jahr hat man Zeit für die Wahl des Themas für die Dissertation, die Festlegung der grundlegenden Forschungswege, die Methodologie, die Forschungsziele. Innerhalb dieses halben Jahres muss ich einen Professor finden, unter dessen Leitung ich die Arbeit fortsetzen kann. Eine Kommission wird meine Arbeit prüfen. Dann hat man noch drei bis vier Jahre für die eigentliche Forschung und für die Auswertung der Ergebnisse.

Das Studium läuft auf Englisch. In unserem Fachbereich gibt es außer mir zwei Personen aus der Ukraine. Außerdem noch mehrere, die lange vor dem Krieg aus der Ukraine gekommen sind und zusammen mit der Universität Projekte ausarbeiten. Gerade absolvieren wir ein Workshop, da kommen Kollegen aus Kiew, Lwiw und Charkiw zum Erfahrungsaustausch und zu gemeinsamer Forschung. Jetzt werde ich zu einer Brücke, um Deutschen und Ukrainern zu helfen. Genau das, was ich mir vorgestellt hatte.

„Ich habe vor, in die Ukraine zurückzugehen“

Ich lerne Deutsch, aber ich nutze vor allem Englisch. Es ist bequemer für mich, jetzt meine Gedanken auf Englisch zu formulieren. Außerdem treffe ich hier selten Menschen, die kein Englisch sprechen. Ich denke, ich werde diese drei bis vier Jahre in Berlin bleiben, solange ich studiere. Dann will ich zurück in die Ukraine.

Im Augenblick arbeite ich mit ukrainischen Projekten und suche hier keinen Job. Das Geld reicht, wenn auch knapp. In der Ukraine hatte ich das Gefühl, ich müsste nicht aufs Geld achten. Hier ist präzise festgelegt, wie viel man wofür ausgibt. Und wenn irgend etwas Unvorhergesehenes passiert, weiß man nicht, was man machen soll. Deshalb bin ich jetzt achtsamer. Allerdings erlebte ich eine Situation, da hatte ich meinen Schlüssel in der Wohnung liegenlassen und musste 200 Euro für den Schlüsseldienst zahlen.

Berlin gefällt mir. Mir gefällt die niedrige Innenstadtbebauung mit höchstens vier bis fünf Etagen. Mir gefallen alle diese Straßen und Panoramen innerhalb der Stadt. Das ist besser als das chaotische Bauen, das jetzt in Kiew läuft. Jemand hat Berlin so gesehen, jemand hat es so gebaut, es liegt außerhalb meines Einflussbereiches, etwas in der Stadt selbst zu ändern.

Ich habe schon als kleines Kind und in der Schule nur ukrainisch gesprochen. Mein Vater ist Lehrer. Er spricht ukrainisch. Meine Mutter spricht mehr russisch. Ich hatte nie Probleme damit, von einer Sprache schnell in die andere zu wechseln. Mit meinen Großeltern spreche ich nur ukrainisch. An der Universität habe ich anfangs mehr russisch gesprochen, unterrichtet wurde in beiden Sprachen.

Mehrere Professoren waren eigentlich russischsprachig, aber einige von ihnen wechselten ins Ukrainische und baten darum, ihre Fehler nicht zu beachten, weil sie gerade erst lernten, diese Sprache zu sprechen. Das war sehr angenehm. Man empfand sofort Respekt für diese Lehrer. Es war angenehm, mit so einem Professor zu tun zu haben und Neues von ihm zu erfahren.

Ich habe aufgehört, Russisch zu sprechen

Vor dem 24. Februar war es mir nicht so wichtig, welche Sprache jemand im Alltag verwendet. Wer mich auf Russisch ansprach, dem antwortete ich russisch. Seit Kriegsbeginn benutze ich die russische Sprache nicht mehr. In Berlin gab es schon mal so eine Situation. Ich kam in die Stadtverwaltung und da waren Männer, wahrscheinlich Freiwillige, die kein Ukrainisch verstanden, nur russisch. Aus Prinzip sprach ich nur englisch mit ihnen.

Wenn jemand auf der Straße mich auf Russisch um Hilfe bittet oder es gibt eine kritische Situation, dann antworte ich natürlich. Aber wenn dieser jemand aggressiv ist, dann denke ich, was denn für Russisch?

Das Gespräch mit Nikita fand am 15.11.2022 statt. Transkription und Redaktion des Originalinterviews: Tatiana Firsova und Anastasiia Kovalenko. Aus dem Ukrainischen ins Russische übersetzt hat Anastasiia Kovalenko. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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