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Grenzerfahrung im Niemandsland

Published On: 20. Dezember 2022 14:00

Vierzehn Jahre waren wir bereits verheiratet, als meiner Frau mitgeteilt wurde, dass wir ein Kind erwarten würden. Wir freuten uns über die Überraschung und im September 2022 war die Stadt München um einen Einwohner reicher.

Sogleich kamen mit der Freude am neuen Leben die Formalitäten. Der Staat hatte das Lebewesen mit Namen und Datum erfasst, es eingeordnet und ihm, noch vor Zusendung einer Geburtsurkunde, eine Steuernummer zugewiesen. Dazu das Gelbe Heft, das Kinderuntersuchungsheft, in dem die fristgebundenen ärztlichen Untersuchungen und Impfungen festgehalten werden. Stapelweise Papiere, Anträge zu Kindergeld und Elterngeld waren zu bearbeiten. Die Anteilnahme der an Zahlen reichen Familie war groß, vielleicht sogar stärker als gewöhnlich, weil wir „doch noch“ ein Kind bekommen hatten.

Meine Familie kam teils mehrere Hundert Kilometer weit angefahren, um dem Sohn Willkommen zu sagen, ihn zu sehen. Auch die Eltern meiner Frau hatten sich von weither aufgemacht, doch wurden sie — trotz eines Schengen Visums — von den Beamten an der finnischen Grenze zurückgewiesen. Denn sie kommen aus dem Nordosten Europas: Aus Sankt Petersburg in Russland. Ebenso wie meine Frau. Diese hatte zuvor zwei Flugtickets Helsinki — München für die Beiden gekauft. Nicht einmal diese Buchung war den Eltern möglich, nachdem Russlands Bürger aus dem gemeinsamen Zahlungsverkehr SWIFT ausgeschlossen worden waren.

Nun sind die Schwiegereltern unpolitisch, betreiben Yoga, haben einen internationalen Freundeskreis und reisen gerne. Was allerdings seit dem Einschnitt im Frühjahr 2020 wie auf Eis gelegt war. Die Tante meiner Frau starb in dieser Zeit überraschend und das Abschiednehmen lief über Skype und Mobiltelefon ab. Surreal und so unmenschlich, wie es mancher in dieser leidvollen Zeit erleben musste. Man hoffte darauf, sich schon bald in „alter Normalität“ wiedersehen zu dürfen, doch als Land um Land die Maskenpflicht und obligatorischen Tests fallen gelassen hatte, fing just eine neue Krise im Herzen Europas an. EU und USA beschlossen Batterien von Maßnahmenpakten gegen Russland, die weit über die seit acht Jahren bestehenden hinausgingen. Die Strafmaßnahmen gegenüber Staatsvertretern Russlands wurden ausgeweitet, um die Bevölkerung zu einem Umdenken einer „Gefolgschaft“ der gewählten russischen Regierung zu bewegen. Wikipedia:

„Weitere Ziele sind, den Konflikt spürbar zu machen sowohl für die russische Bevölkerung, als auch gezielt für Schlüsselpersonen und deren Familienangehörige, die dem Regime um Wladimir Putin nahe stehen, um auch auf diesem Weg den Druck auf das Regime zu erhöhen. Dies soll durch ein EU-Einreiseverbot sowie Einschränkungen in den Bereichen Import, internationaler Flugverkehr o. ä. geschehen.“

Der Rat der EU schreibt auf seiner Website folgendes:

„Fallen die EU-Sanktionen unter das Völkerrecht? Ja. Alle Sanktionen der EU stehen in vollem Einklang mit den Verpflichtungen aus dem Völkerrecht und achten die Menschenrechte und die Grundfreiheiten.“

Dem gegenüber besagt der Artikel 2, Verbot der Diskriminierung, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte:

„Jeder Mensch hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa aufgrund rassistischer Zuschreibungen, nach Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. Des Weiteren darf kein Unterschied gemacht werden aufgrund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebiets, dem eine Person angehört, gleichgültig ob dieses unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder sonst in seiner Souveränität eingeschränkt ist.“

Zur Umkehr gezwungen

Die finnischen Grenzer teilten meinen Schwiegereltern mit, dass ein in Deutschland geborener Enkel nach EU-Regularien, keinen Grund darstelle, in die EU einzureisen. Ihr Schengenvisum würde nicht mehr anerkannt. Sie sollten umdrehen und zurückfahren. Die Eltern hatten alle unsere Papiere in Kopie und beglaubigt dabei. Auch die Geburtsurkunde unseres Sohnes. Für nichts. Abends schrieben sie uns: „Es gibt Tage, die müssen einfach nur vorbeigehen.“

Ich habe mich mit der deutschen Geschichte auseinandergesetzt und sehe Deutschland in einer großen Verantwortung, insbesondere gegenüber Russland. Nicht allein durch die mehr als 27 Millionen sowjetischer Opfer im Zweiten Weltkrieg, laut Süddeutscher Zeitung vom 14. Juni 2007, von denen etwa die Hälfte Zivilisten waren. Auch den reichen kulturellen wie wirtschaftlichen Austausch wiederherzustellen, sollte in meinen Augen, insbesondere uns Deutschen, ein Anliegen sein.

Ich höre die Worte des Stratfor Gründers George Friedman beim „Chicago Council on Global Affairs“ im Februar 2016, wo er offen ausspricht, es sei Amerikas größtes außenpolitisches Anliegen, eine Verbindung Russlands mit Deutschland niemals zuzulassen, denn vereint seien sie die einzige Kraft, die Amerika schwächen könnte. Dabei schaue ich auf die jüngsten Weichenstellungen, die Deutschland von russischen Gasverträgen geradezu explosiv herausgerissen und in der Folge vom Flüssiggas der USA abhängig gemacht haben.

Nachdem die Wehrmacht Leningrad 28 Monate lang ausgehungert hatte, was zu einer Million Opfern führte, heute Lebensmittel nach Russland zu sanktionieren, das erscheint mir von einem perfiden Ungeist erdacht und jedes Fingerspitzengefühl für Alles und Jeden, dessen man sich in Brüssel so rühmt, beiseite zu lassen.

Die Großmutter meiner Frau hatte die „Blockade“ als junge Frau mit erleiden müssen. Als sie mich, den deutschen Freund ihrer Enkelin das erste Mal sah, nahm sie mein Gesicht in die alten Hände und gab mir einen Kuss auf die Wange. Ich sagte zu meiner Frau: „Wir fahren hin!“ Sie: „Zu meinen Eltern?! Wir können mit dem Baby nicht fliegen. Außerdem haben wir den Hund, den wir vor einem Jahr aus dem Tierheim zu uns genommen haben.“ „Einen Hund“, wie das schon klingt. Die Hundedame Gina ist von charakterstarkem, gütigem Wesen, bringt 34 Kilogramm auf die Waage und wenn sie auf den Hinterbeinen steht, ist sie mit 1,70 so groß wie meine Frau. Ich dachte ja überhaupt nicht an Flugzeug oder Fähre. Ich wollte mit dem Auto hochfahren. Alle miteinander. Also beantragten wir in der Visastelle Münchens ein Visum für mich und für unseren Sohn, der bereits im Alter von acht Wochen im Besitz eines Kinderreisepasses war. Mit unserem Hund Gina besuchten wir den Tierarzt, somit waren wir für die Reise präpariert.

Da die baltischen Staaten jedoch immer wieder ankündigten, keine Russen mehr über die Grenze zu lassen, kam mir in den Sinn, über Weißrussland zu fahren. Wir brauchten nun Transitvisa für Vater und Sohn. Meine Frau stellte erneut alle Papiere zusammen, Fotos, Formulare, die Auslandsreisekrankenversicherungen und so standen wir zur Öffnungszeit bei der weißrussichen Botschaft Münchens vor dem Tor und läuteten, bis endlich eine Dame ans Gitter kam und durch profunde Lippen kühl lächelnd meinte, wir sollen übers Internet erstmal einen Termin ausmachen, denn die allgemeinen Öffnungszeiten seien nicht mehr relevant. Der Wind blies kalt, das Baby schrie und Gina zerrte an der Leine. Wir entschieden auf der Rückfahrt nach Hause, doch übers Baltikum zu fahren.

Wenige Tage vor dem geplanten Beginn, fand ich einen Kleinbus mit Standheizung, verkaufte unser Auto und warf am Tag, bevor es losgehen sollte, warme Kleidung, Toilettenutensilien, Stiefel und meinen Rechner in einen Packsack. Schlafsäcke und Handtücher, falls wir stranden sollten. Das Baby brauchte auch einige Dinge. Meine Frau hatte schon eine Woche vorher gepackt. Liebe Freunde kamen, um zu helfen, sie würden sich um das Haus und die Post kümmern. Der Nachbar wollte ein Auge auf die Heizung haben und überhaupt, man weiß ja nie.

Unterwegs durch das Baltikum

So starteten wir an einem Samstagmittag in Richtung Polen und wollten einfach sehen, wie es laufen wird und ob unser Baby im Auto mit uns nach Russland reisen wolle. Nach 800 Kilometern erreichten wir „Dobroszyce“, ehemals Juliusburg hinter Breslau, und übernachteten in einem ehemaligen, historischen Habsburgerbau. Das Klima war schon deutlich rauer, Gestank von Kohlebriketts, Hundegebell hallte durch die Nacht, vermischt mit gelegentlichen Schreien junger Männer, die offenbar in der Nacht den Weg nach Hause nicht finden konnten.

Am nächsten Tag fuhren wir erholt weiter und kamen nach Litauen. Die Geschwindigkeit war dort durchgehend auf 90 km/h begrenzt. Teils war die Autobahn zweispurig und selbst sonntags wälzten sich lange Kolonnen von LKWs durch die weitläufige Landschaft. An Überholen war nicht zu denken und warum auch, der nächste Laster wartete ja schon. So erreichten wir in der Dunkelheit nach gut 700 Kilometern Kaunas. Das Internet brach immer wieder zusammen und wir fanden keine Übernachtung. Unser Sohn spürte unsere Anspannung und wollte sich gar nicht beruhigen lassen. Die Straße war, ganz ohne Standstreifen, inzwischen seitlich eingerahmt von Schnee. Die LKWs donnerten, knallhart Strecke machend, in der Dunkelheit die Piste entlang.

Wir hielten schließlich, nach weiteren einhundert Kilometern in „Panevézys“ in einer Seitenstraße. Der Wind fegte eisig, als ich mit unserer Hündin im kalten Scheinwerferlicht eines Fabrikgeländes eine Runde drehte. Sobald man die Seitentüre öffnete, fegte der Wind in die Kabine, dass es auf der Gesichtshaut nur so knisterte. Ich meinte, dass wir uns in die Schlafsäcke mümmeln sollten. Meine Frau lag bereits mit dem Sohn auf der Rückbank, Gina unsere Hundedame, zusammengekauert auf dem Beifahrersitz. Ich suchte noch eine Position und fand mich letztlich, im mittleren Bereich der Kabine am Boden, wie bei Tetris, zwischen Kisten und Kartons wieder. Egal, es war Nacht und man hätte auch irgendwo in Alaska stehen können.

Die Welt wirkt in diesen Augenblicken ungastlich und man fühlt sich als Mensch völlig fehl am Platz, ungeschützt, verletzbar, allein durch die bloße Wirkung der rauen Kräfte der Natur. Es dauerte wohl zwei, drei Stunden, dann wand ich mich heraus und setzte mich wieder ans Steuer: „Strecke machen“, hatte ich meiner Frau erwidert, als sie meinte, der drei Monate alte Sohn müsse abends regelmäßig gegen sechs Uhr einschlafen und zwar am besten in einem richtigen Bett. Ja wann würden wir da wohl ankommen?! Ich musste das durchziehen. Also weiterfahren.

Am Ende der Welt?

Und so ging es Richtung Riga, Richtung Meer, durch die ausgedehnten Wälder Lettlands. Gute zweihundert Kilometer nur Wald und Schnee und Tiere der Nacht, bis es endlich wieder hell wurde und Tartu in Estland erreicht war. Und weiter ging es, hinauf nach Narva, an der estnisch-russischen Grenze. Zweitausendzweihundert Kilometer waren geschafft, als wir montags um elf Uhr nach 48 Stunden an den Grenzübergang kamen. Nur noch knappe 200 Kilometer lagen vor uns. Die Vorstellung, der Freude meiner Schwiegereltern, wenn sie den Enkel sehen würden, gab mir Energie und ich spürte kaum mehr Müdigkeit.

Eine Straße nach Russland oder Sankt Petersburg sah ich bis Narva nirgendwo ausgeschildert. Es schien das Ende der Welt zu sein. Unserer Welt.

Dann, zahlreiche Gitter und Schlagbäume, Warnschilder. Ich fuhr langsam auf die Grenze zu. Es dauerte nicht lange und ein uniformierter Mann in Warnweste ging auf uns zu und erklärte, wir sollten uns hinter der seitlich wartenden Schlange einreihen. Heute gehe wohl nichts mehr, es sei denn, wir hätten uns online registriert. Die Russen würden heute nur noch bereits Registrierte hinüber lassen. Meine Frau gab mir schnell ihr Handy, denn sie hatte die Registrierung bereits online vorgenommen. Welch ein Glück! Man musste auf die Stunde genau eingeben, wann man die Grenze erreichen würde und dafür online eine Gebühr entrichten. Ihre damalige Schulfreundin hatte sie vorgewarnt, dass man ohne die Online-Registrierung mit sehr langen Wartezeiten zu rechnen habe. Ein erster Fingerzeig, dass auch im ehemaligen Zarenreich das Smartphone inzwischen eine maßgebende Rolle eingenommen hatte. Wir stellten uns hinter den wartenden Autos an und es sollte erst einmal rein gar nichts geschehen.

Am Straßenrand Gebäude, wo man Euro in Rubel wechseln konnte. Die Passanten begutachteten neugierig die wartenden Autos und deren Insassen. Ich spürte meine Müdigkeit. Immer wieder aufrücken, dann wieder stehen. Nach einer Zeit, die ich teils verschlafen hatte, durften wir endlich zum Check einfahren. Die estnische Uniformierte, den Umständen entsprechend freundlich, ließ uns nach Befragung und Untersuchung der Pässe sowie des Fahrzeugs in Ruhe. Sie meinte, wir könnten noch nicht über den Fluss, da auf russischer Seite noch kein Platz freigegeben sei.

Nach einer halben Stunde schließlich öffnete sich der Schlagbaum. Wir fuhren auf den Grenzfluss Narva zu und ich wähnte mich gleichsam in Russland angekommen zu sein. Auf der Brücke zwei Stunden erneutes Warten, es herrschte Stillstand. Die Schranke öffnete sich schließlich auch für uns und wir fuhren in den Kontrollbereich ein. Nun folgten in diesem Bereich zwischen den Grenzen, dem sogenannten Niemandsland, sechs Stunden, die mich an meine persönlichen Grenzen brachten.

Meine Frau füllte fortwährend Formulare aus und beantwortete Fragen der Grenzbeamten. Mehrere Seiten Papier, klein und beidseitig bedruckt, alles auf kyrillisch. Es gab sonst keine internationalen Versionen. Es ging um uns, um den Hund, für den eine Veterinärin anrückte, um den Chip einzulesen. Dann um den Bus, den wir erst vor Kurzem gekauft hatten, aber auch um Standardfragen. Ich hatte für die Kontrolle den Bus leerzuräumen.

Die Kommunikation erinnere ich wie folgt: „You have drugs?“ Ich: „No, of course not.“ Sie: „Come on“ und der Jüngere zog mit seinem Zeigefinger sein Auge hinunter. Ich: „I’m sorry!? I have a baby, we are familiy, you know?“ Weiter ging es in dieser halbseidenen jovialen Art. Sie ließen mich die Heckklappe öffnen und zeigten auf Kartons. „Uots inseid of dis?!“ Ich: „Fur. Lamb fur, for my familiy in Russia. For the wintertime.“

Der ältere Offizier hatte nun in meiner Reisetasche ein Buch gefunden, eingeschlagen in Backpapier. „Uots dis?“ Ich: „It’s a book.“ und mir fiel vor Aufregung der Titel gar nicht ein. „Uot buk?!“ „Naja, it’s about russian history.“ Er schlug es auf „Der letzte Tanz“ und fing an zu blättern. Ich: „It’s about aristocratic Russia you know? Romanoffs? It is absolute ‚Pro Russian‘. No Propaganda.“ Er ignorierte mich und blätterte weiter, bis ein Foto der Zarenfamilie erschien. Dann klappte er es wieder zu.

„All of this out of the car“, sagte der Junge. Ich: „Ok. And where to? You have a table?“ Er: „No. On the ground!“ und er zeigt auf den Boden. Ich starrte auf den grauen Schneematsch und konnte es nicht glauben. Ich entgegnete nun: „Listen, I was working for Lufthansa, german airline, you know? I know custom procedures. This is inhumane.“ Und der Ältere sprach nun leise zu dem Jungen und zeigte für mich auf eine metallene Ablage etwas abseits. Ich fing an, alles dorthin auszuladen. Die kleine Kiste mit den Holzwolleanzündern, Mitbringsel für den Kamin meines Schwiegervaters interessierte sie.

Mir fiel beim Auspacken die Kiste aus der Hand und die vielen Teile zu Boden. Ich erklärte beim Aufsammeln, für was man diese benutzen kann und bemerkte, dass ich vor Aufregung zitterte. Tränen liefen mir über das Gesicht und ich versuchte mich zu erklären und sagte: „We were looking forward to come to Russia, that our son get to know his russian grandparents …“ Sie schauten mich völlig konsterniert an: „Put your things back in the car“. Dann gingen sie weg. Erst einmal. Denn nun wollten sie das komplette Fahrzeug röntgen.

Gina war noch ruhig. Ich war es längst nicht mehr. Also ging ich nun selbst zum Haus Nummer zwei, wo eine Offizierin aufrecht hinter einer Scheibe thronte. Ich sagte höflich, „Isvinitie, we are family, good people. Our grandparents wait for us and we stand here all day, many hours. We have done nothing wrong, please …“ Sie starrte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an: „Toilet?!“ Ich ging deprimiert zurück.

Durchleuchten des Autos

Es wurde deutlich, der Check des Autos würde minutiös weiter durchgezogen werden. Und alles musste erneut ausgeladen werden. In der Dämmerung hatte ich aufgehört, mich zu wehren. Dieses Mal hatte ich es zum Check in eine Halle zu tragen. Mir fiel nun eine weitere Familie auf. Sie wurden mit zwei kleinen Kindern offenbar noch länger geprüft als wir. Es war also nicht allein, weil der Bus kürzlich erst erworben worden war. Es ging wohl um gemischte Ehe, Familie oder „Familie, der was untergeschoben worden sein könnte“. Mir war langsam alles egal. Ich wäre auch umgedreht und wieder in die Nacht hinein nach Hause gefahren. Doch das ging nicht mehr. Sondern mitkommen und das leer geräumte Auto „zum Röntgen“ bringen. Ein riesiger LKW mit Kranarm fuhr den Bus parallel ab, welchen ich zuvor eine Rampe hochgefahren hatte.

Anschließend wurde in einer Werkstatt aus einer Arbeitsgrube heraus der Bus von unten untersucht. Als ich zur Halle kam, hieß es, wir dürften nun los, ich könne einladen. Endlich war der Moment gekommen, dass wir nach Russland einreisen durften.

So viele Stunden, doch ich spürte gar keine Freude oder Erleichterung mehr. Total überreizt saßen wir still im Auto bei leerem Tank und rollten aus dem Schleusenbereich hinaus. In den Augen meiner Frau hatten wir noch Glück gehabt. Die andere Familie wurde ja immer noch geprüft. Ja, ein Zivilist war vor Kurzem offenbar mit zwei Stinger-Raketen im Unterboden seines Fahrzeugs aufgeflogen, schlimme Zeiten. Doch deswegen Strapazen für alle und jeden? Als erstes steuerte ich nun eine Tankstelle an, der Liter unter einem Euro. Es war neun Uhr abends und noch vor Mitternacht fuhren wir über den prachtvollen neuen Ring Petersburgs, den unser Navi noch gar nicht kannte.

Im Bus lag alles kreuz und quer, Mitbringsel, aufgerissene Kartons, offene Schlafsäcke und dazwischen Gina und meine Frau mit dem Sohn. Der Tag ging leise zu Ende, als wir die Türklingel im Norden Sankt Petersburgs drückten. Babuschka und Deduschka lächelten glücklich und dankten für unser Kommen. Nur unser Baby sollte von all der Aufregung noch in die Nacht hinein weinen.

Epilog

Als Ausländer mit einem Visum hat man sich bei einem Besuch, der länger als zehn Tage dauert, binnen einer Woche bei einer eigens dafür eingerichteten Behörde zu registrieren. Hierfür erforderlich ist zum einen die Abholung der Papiere und Vereinbarung eines Termins mit einer Mitarbeiterin vom Amt. Die vier eng bedruckten Seiten sind von jeder anzumeldenden Person fehlerfrei zweimal auszufüllen. Dazu ebenso notwendig war die Person des „Gastgebers“ oder „Wohnungsstellers“ und auch gesonderte Formulare für das Fahrzeug, mit dem man eingereist ist. Dazu Kopien der Pässe aller Personen, auch der Seiten, die einen Stempel einer Einreise aufweisen.

Da die Listen allesamt in kyrillischer Schrift und erneut allein in dieser zu erhalten sind, war meine Frau wiederum intensiv beschäftigt. Drei Mittage begaben wir uns zu diesem Amt. Es gab am Ende einen kleinen weißen Zettel, den ich stetig bei mir zu führen habe. Diese Registrierung wirkt altmodisch und ja, es gibt zu dieser zeitaufwendigen Prozedur eine bequeme neue Alternative. Meine Schwiegermutter würde ihre Handynummer für die Behörde freischalten, dann wäre das ganze flugs online zu erledigen gewesen. Da kommt man schon ins Grübeln, ob man nicht der Datenverwendung zustimmt.

Hier in Russland geht es im Eiltempo in Richtung Digitalisierung und digitaler Datensammlung oder Datennachverfolgung. Die Menschen sind offen für digitale Anwendungen und nutzen in vielen Bereichen das Smartphone. QR-Codes sind der vermeintlich bequeme Schlüssel zu zahlreichen virtuellen Pforten. Man sieht sie an jeder Ecke. Auch habe ich in Sankt Petersburg übergroße Antennentürme gesehen, die ich auch bei uns in Deutschland seit drei Jahren gehäuft wahrnehme. 5G wird hier offenbar zur Normalität. Womöglich ähnlich wie in China. Deren Systeme zur Bewertung der Bevölkerung kommen womöglich auch in Russland gar nicht schlecht an. Die Entwicklung scheint im Eiltempo vonstatten zu gehen. Ich kann auf die Schnelle sagen, dass ich ohne meine liebe Frau hier verloren gewesen wäre, angefangen bei der Registrierung zur Grenzpassage aus dem Auto heraus, mit dem Ausfüllen der Dokumente bei der Zollbehörde sowie bei der Registrierung im Inland.

Beim bayerischen Schafkopf-Kartenspiel heißt es: „Der Ober sticht den Unter“. Dagegen steht das reine Ideal des deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser Artikel will uns „Untere“, also die Bürger, vor dem „Oberen“ dem Staat und seinen Institutionen schützen, zumindest ist das der historische Hintergrund.

Offensichtlich ist dieser Tage das Ausleben von Macht, bei Hinnahme von Würdelosigkeit derer, die sich nicht wehren und es zumeist gar nicht können. Alles zum Zweck eines vermeintlich hehren, sicherlich höheren Zieles und das ständige Hinunterdrücken der Unter-gebenen – ob Mensch, Tier oder Natur.

Das habe ich im Niemandsland als „Grenzerfahrung“ eines benachbarten Staates einen Tag lang erleben müssen. Es war mir jedoch gar nicht so fremd, denn es wirkte wie ein verzerrtes Echo der gesamten, vergangenen drei Jahre, mit den schrillen Anweisungen auf Grund von Maßnahmen. Anweisungen sind doch nur Kommandos, verkleidet in Plüsch.

Dieses „Ober sticht Unter“ wird hier in Russland direkter, offener praktiziert als bei uns im politisch korrekten Deutschland. Da hat man heute seine Worte zu wägen und schminkt und lackiert Kommandos in bunte Farben. War es denn so anders im wertenden Westen, mit Menschen, die aus Flugzeugen, wie aus Zügen geworfen worden sind, weil sie keine Maske tragen wollten oder gar konnten? Direktes Ausgrenzen ohne Tests, QR-Codes eines Impfnachweises? Und das sollte ja nur die Vorstufe zum weltweit digitalen Impfzertifikat sein, Voraussetzung für freies reisen. Was war das eine aufgeheizte Stimmung, wie niederdrückend war die Hetze. Insbesondere, wenn man Würde als eine aufrechte Haltung, freie Bewegung und uneingeschränkte Möglichkeit zur Begegnung definiert.

Wenn ich also mit dem Finger auf Russland zeige, so zeigen drei Finger auf das Land, aus dem ich selber stamme und auf dessen technokratischen Überbau, die EU. Meine andere Hand weist allerdings in Gänze auf unsere Führung in Übersee, die uns derzeit in der Ellenbeuge nach unten zieht.

Die Entwicklung, gleich ob in Russland oder Deutschland, ob in China oder den USA — sie ist in meinen Augen, seit einigen Jahren, von einem auffallend, ähnlich wachsenden Ungeist durchsetzt: Ober sticht Unter.

Doch der Mensch ist nicht zu digitalisieren und mit einem Chip oder Code zu versehen. Der Mensch hat eine Seele und ist ein freies Geschöpf Gottes. Sein Atem, sein Puls, seine Wünsche und seine Gedanken lassen sich nicht in Kataster und Register zwingen, sondern sind in ständiger Bewegung. Gleich einem Schwarm veränderlich und doch in Freiheit verbunden und so möchte er mit Wind und Wolken um die ganze Welt ziehen.

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