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„Die Krim soll allen gehören“

Published On: 27. Dezember 2022 11:10

Ich bin Anfang Mai von Petersburg nach Moskau geflogen und sofort in ein Flugzeug nach Kasachstan umgestiegen. Dort war ich etwa einen Monat, dann flog ich für drei Tage nach Tiflis, anschließend nach Istanbul, und dort kaufte ich einen Flug in die EU.

Ich war davon überzeugt, dass mein erstes Ankunftsland Schweden sein würde, wo ich politisches Asyl beantragen und bleiben könnte. Aber dann stellte sich heraus, dass ich mit meinem Visum, das von einem deutschen Konsulat ausgestellt war, nach Deutschland gehen musste.

Deutschland war bereit, meinen Fall zu prüfen, deshalb wurde ich nach drei Monaten mit Berufungen und erfolglosen Versuchen, in Schweden zu bleiben, am 18. Oktober nach Berlin überführt. Meine Papiere für den Asylantrag wurden hierher übersandt, und die begonnene Prozedur wird fortgesetzt.

„In Deutschland ist es ungemütlich“

Anders als in Schweden, in Stockholm – was ich nur empfehlen kann – wurde ich in Deutschland in einer ehemaligen Klinik untergebracht, in Zimmern für zehn bis zwölf Personen auf Feldbetten. Wenn man sieht, wie die Ukrainer zu Dutzenden in Turnhallen untergebracht sind, ist das nicht einmal die schlechteste Variante. Aber für mich war es trotzdem sehr ungewohnt, weil ich in Schweden in Zwei- oder Vierbettzimmern gewohnt hatte, mit Doppelstockbetten, und das waren richtige Betten, keine Feldbetten.

Ich Deutschland brachte man mich in dieser ehemaligen Klinik unter, einem Flüchtlingsheim. Ich machte mir Sorgen um meine Sachen, obwohl ich nicht viel habe. Ich bin ja nicht in Urlaub gefahren, sondern einfach aus meinem Staat geflohen, deswegen hatte ich nur das Allernotwendigste dabei, ein wenig Kleidung zum Wechseln und meine Papiere.

Aber aufzuwachen und alles ist weg, oder sei es nur mein Rucksack – der ist ein Geschenk –, das wäre doch schmerzlich. Da waren ganz andere Menschen, absolut keine Slaven. Ich möchte mich gegen den Vorwurf des Nationalismus verwahren, in Schweden habe ich mit einem Mann aus Eritrea zusammengewohnt, in einem anderen Lager mit einem Georgier, mit einem aus dem Volk der Tutsi, einem Ägypter. Aber dort lief alles ruhig. In Deutschland ist es ungemütlicher und schmutziger.

Geborgen in einer Kirche

Die ersten zwei Tage habe ich auf dem Sofa bei Freunden übernachtet, die schon mehr als zehn Jahre in Deutschland leben. Aber das war eine Familie mit Kindern, und ich wollte nicht allzu lange bei ihnen bleiben. Deshalb suchte ich Freiwillige, und zwei Wochen lang übernachtete ich immer für zwei bis vier Tage mal hier, mal dort bei Unbekannten. So konnte ich mich ein wenig erholen.

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Seit Februar 2022 sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine und zahlreiche russische Oppositionelle nach Deutschland geflüchtet. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

In der dritten Woche fand ich eine Kirche, die ich zufällig betrat, um zu fragen, ob sie vielleicht einen Konversations-Klub zum Deutschlernen anboten. Sie hatten tatsächlich einen Klub, und auch Sprachpicknicks, wo sie sich treffen, um miteinander zu essen und zu reden. In dieser Kirche hat man mir auch erklärt, wo ich ein warmes Mittagessen und eine Waschgelegenheit bekommen konnte. Und sie gaben mir eine Unterkunft. Bei Ihnen wohnten auch ziemlich viele ukrainische Flüchtlinge, bis man sie auf Wohnungen oder Wohngemeinschaften verteilte.

In dieser Kirche kam ich endlich richtig zur Ruhe, und ich fing an, mich um meine Papiere zu kümmern. Es gibt zu essen, man hat ein Dach über dem Kopf, man kann über seine Seele nachdenken. Und ich ging endlich zum Gottesdienst in die Synagoge.

Propaganda in der Schule

Ich habe schon seit Langem Angst vor Repressionen und vor dem eisernen Vorhang. Es sind seltsame Dinge geschehen. Am 8. Mai bin ich abgeflogen, ohne irgend jemandem Bescheid zu sagen, weil ich in dieser Hinsicht sehr abergläubisch bin. Ich hatte Angst, man würde mich nicht rauslassen.

In dieser Zeit waren im Elternchat bei meiner Tochter Fotografien aufgetaucht, wo die Kinder mit roten Pionierhalstüchern dastehen und den Pioniergruß machen. Ich habe ihnen geschrieben, sie sollen das löschen, weil ich weder für diese Fotos noch für diese dumme Propaganda meine Einwilligung gegeben hatte.

Einer der Organisatoren dieses Chats schrieb zurück. „Ein Elternteil hat sich aufgeregt, also kopieren Sie schnell die Fotos, dann lösche ich sie.“ Sie haben sich ein wenig aufgeregt, aber die Fotos gelöscht. Und einen Monat später wurde ich dann aus dem Chat gelöscht. Weil ich weiterhin geschrieben hatte, dass ich diese Propaganda nicht haben will.

„Wollen Sie, dass ihr Kind Außenseiter wird?“

Dann fingen sie an, bei meiner Frau anzurufen. Erst rief die Schuldirektorin an, noch recht höflich. Dann rief die stellvertretende Schulleiterin an und begann zu quengeln: „Wollen Sie denn, dass Ihr Kind zum Außenseiter wird?“

Davor war diese stellvertretende Schulleiterin schon zu jedem einzelnen Schüler gegangen und hatte ein Blatt mit einer Hausaufgabe verteilt: „Schreibt einen Brief an einen Soldaten an der Front“, und sie sagte: „Ich werde es persönlich prüfen.“

Das gehört nicht zum Lehrplan und darf überhaupt nicht sein. Zwei Monate später haben sie das Unterrichtsfach eingeführt: „Unterricht über das Wichtigste“. Meine Frau hat mich sehr darum gebeten, nicht mehr zu schreiben und niemanden in dieser Frage anzusprechen.

Dann kamen die Träume vom Krieg

Eines Tages irgendwann ab 2020 hatte es angefangen, dass ich vom Gefängnis und von der Polizei träumte. Ich wachte auf und erinnerte mich an meine Träume. Dann kamen die Träume vom Krieg.

Ich habe einen Wehrpass, in dem steht, dass ich eingeschränkt wehrdienstfähig bin. Das heißt, im Fall eines Kriegs bin ich wehrdienstverpflichtet, obwohl ich nie bei der Armee war.

Aber es geht nicht nur um die Papiere. Russland ist das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. „Hast du einen Puls? Nein? Dann malen wir dir einen.“ Logik spielt da keine Rolle.

Im Konflikt mit der Mutter

Meine politischen Überzeugungen haben den Konflikt mit meiner Mutter vertieft und befestigt. Angefangen hatte das mit ganz normalen alltäglichen Fragen. Viele Jahre lang wollte ich weggehen, aber sie wollte nicht, dass ich weggehe.

Mehr als ein oder zwei Jahre arbeitete ich in unterschiedlichen Branchen. Ich arbeitete in einer Service-Organisation, die die russische Bahn wartet, als Elektroniker. Dann als Sekretär bei einer Wohltätigkeitsstiftung. Dann in einer Pizzeria, bei einem Möbelmontage- und Lieferungs-Service. Ich habe Management studiert. Ein Praktikum in einem Hotel gemacht. Ich habe mich gern mit den Gästen unterhalten, aber Gäste anlächeln ist leider kein Beruf. Dazu gehört auch Aufräumen und Saubermachen.

Probleme mit der Wohnungsverwaltung

Als ich merkte, dass ich allein mit den Ratten aus der kommunalen Wohnungsverwaltung nicht klarkomme [Vadim setzte sich für die Rechte der Bewohner in seinem Haus ein; Red.], bot mir jemand eine Lösung an: 2018 gab es in Petersburg ein soziales Programm namens „Liquidierung des sozialen Analphabetismus“ [ein Programm des früher politaktivistischen, jetzt Antikriegs-Projekts „Trawa“; Red.]. Faktisch ist das eine Aktivistenbörse für Leute, die noch nicht wissen, wie man aktiv sein und sich nützlich machen kann. Sie haben einen Monat lang Seminare veranstaltet, Wohltätigkeitsorganisationen aufgesucht und Führungen veranstaltet. Ich sah, dass es ziemlich viele solche weißen Raben wie mich gibt, die glauben, wenn du eine Sache wirklich willst, dann kannst du es auch erreichen, zum Beispiel, dass die Eingangstür in deinem Haus durch eine neue bessere ersetzt wird. Offenbar befassen sich manche Leute jahrelang mit sowas. Es gibt alle möglichen Apps und Websites und Telefonnummern, an die man sich wenden kann, und dann wird die Birne in deinem Treppenhaus ausgetauscht, zum Beispiel.

Und dann kam Nawalny

Dort sah ich bei manchen Leuten einen Sticker auf dem Notebook: „Nawalny 2018“. Aber für mich hatte das damals noch keine Bedeutung. Die Krim war unser, und ich freute mich darüber. „Brat-2“ [ein russischer Kultfilm; Red.] von Wiktor Suchorukow sprach mir sehr aus dem Herzen. Diese brutale Unbekümmertheit hat mir sehr gefallen.

Damals fand ich das lustig, cool, witzig. Aber dann ein paar Jahre später hat man die Krim einkassiert. Vielleicht ist das imperialistisch – ich habe ja keine eigenen Erfolge, und hier erhebt sich das Land auf einmal von den Knien – alle Achtung – wir holen uns zurück, was uns gehört. Das war so eine seltsame Empfindung.

Das änderte sich erst nach diesem Programm von „Trawa“, als in meiner Informations-Blase eine neue Information aufkam, von einer ganz anderen Seite. Ich fragte die Leute, ob sie wirklich glaubten, Nawalny könnte gewinnen. Denn für mich war das nur eine Art von Witzfigur, eine komische Gestalt. Und die Leute, die ihre Notebooks beklebten, fand ich auch seltsam. Aber dann habe ich mich mit ihnen unterhalten. Und das sind keine Sabberschnuten. Sie sprechen ganz normal und antworten vernünftig auf Fragen.

Ich fing an, mich zu wehren

Früher habe ich mich nicht für Politik interessiert. Klar, die Krim war natürlich unser. Aber ich dachte, auf mich kommt es nicht an, und bis 2019 bin ich nie zur Wahl gegangen. Dann änderte sich was in meinem Denken. Ich merkte, wenn ich die Unterstützung von anderen Menschen habe, gehe ich seltener über Dinge hinweg, mit denen ich nicht einverstanden bin, und von denen ich weiß, dass sie falsch sind.

Zum Beispiel rauchen Polizisten vor dem U-Bahneingang. Dieselben Polizisten, die 50 Meter weiter die Leute, die auf der Straße rauchen, einkassieren und ihnen Geldstrafen aufbrummen. Und zehn Meter weiter verkaufen Omis Blumen, was auch verboten ist. Ich wartete damals mit der Kamera in der Hand, bis sie aufgeraucht hatten und an den Omas, die die Blumen verkaufen, vorbeigingen. Und ich konnte diese Videos meiner Anzeige beifügen. Ich habe eine Anzeige gemacht. Aber laut Überprüfung wurden „keine Verstöße festgestellt“.

Ich versuchte nach und nach, mich gegen all das zu wehren. Ich glaubte einfach an das Sprichwort von den Sandkörnern, die sich eins nach dem anderen zu einem Berg auftürmen. Und ich sah, dass sich etwas änderte.

„Wozu brauchen wir die Krim?“

2014 habe ich nicht allzuviel nachgedacht. Aber dann begann ich mir Fragen zu stellen.

Bei meinem Masterstudium gab es mehrere Chinesen – 12 Russen, 24 Chinesen und ein Thai. Eine Chinesin fragte mich irgendwann: „Magst du Putin?“ Das war 2014 oder 2015. Und ich konnte ihr nicht ehrlich antworten, dass ich ihn nicht mochte. Ich sagte ihr: „Na ja, seit er da am Ruder ist, gibt es in Petersburg Blumenbeete. Es gibt jetzt viele Blumen.“

2016 dachte ich: Wozu brauchen wir die Krim? Geht es mir deshalb besser? Mein Lohn ist dadurch nicht gestiegen, und man verschickt mich nicht zu einer kostenlosen Kur dorthin, glücklich und zufrieden bin ich nicht davon geworden. Und wozu muss sich in einem Staat etwas verändern? Damit die Menschen glücklich und zufrieden sind.

Ich denke, die Krim sollte allen gehören. Es sollte überhaupt keine Grenzen geben.

Wunsch: Eines Tages im Mercedes nach Petersburg

Am 18. Oktober ging es mir ziemlich mies, als die Polizisten, die mich an der Gangway empfingen, mich ein Papier unterschreiben ließen [weil Vadim einen Asylantrag eingereicht hatte; Red.]. Ein Bus erwartete mich. Ich war als erster ausgestiegen, stieg als erster ein, dazu noch die Polizei, die Unterschriften, ich habe ein wenig gelitten. Natürlich nicht so, wie jemand, der jetzt in vorderster Front kämpft, oder einer in Afrika, der gerade verdurstet. Mein Schmerz ist erheblich geringer. Aber wenn nicht dies oder jenes wäre, dann wäre dieser Schmerz viel kleiner. Ich würde immer noch friedlich in Petersburg leben.

Jetzt möchte ich eines Tages aus der EU nach Petersburg fahren, mit Glatze und in einem weißen Mercedes.

Ich glaube nicht, dass, wäre Stalin nicht gewesen, Hitler alle besiegt hätte. Ich denke, wäre Hitler nicht gewesen, dann hätte Stalin Krieg mit der ganzen Welt geführt. Und die Sowjetunion wäre so oder so zum Aggressor und Paria geworden. Diejenigen, die in der Russischen Föderation regieren, können keine Ruhe geben. Im Unterschied zu den schwedischen Königen, die ihren Imperialismus schon vor dreihundert Jahren abgelegt haben.

Bevor ich als Gast nach Petersburg zurückkehre, würde ich gern für eine Weile in Venedig wohnen. Ich war noch nie in den USA oder in Südostasien. Dafür ist es wesentlich besser, in Zentraleuropa zu leben als in Zentralrussland.

Mit Vadim Kusnezow, der seinen richtigen Namen nicht preisgeben will, sprach Tatiana Firsova am 7.11.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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