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„‘Ich liebe dich‘ sagte ich immer auf Russisch“

Published On: 27. Dezember 2022 11:09

Swetlana, die ihren Namen nicht preisgeben möchte, will nicht mehr auf Russisch kommunizieren, vor allem nicht mit Russen. Zwar spricht sie in ihrer Familie noch russisch, aber auch im Gespräch mit KARENINA bestand sie auf Ukrainisch.

Meine Familie, also meine Eltern waren völlig sicher, dass es keinen Krieg geben würde. Anfang Februar hatten meine Eltern ein neues Haus gekauft, wir feierten. Ich erinnere mich noch, mein Vater sprach einen Toast darauf aus, dass es keinen Krieg geben würde. Aber ich war trotzdem ängstlich, weil ich viel Nachrichten las.

Meine Eltern leben am Stadtrand, ich wohnte im Zentrum von Kiew. Ich hatte nichts gepackt, mich auf nichts vorbereitet.

Ein Wendepunkt für mich war, als alle massiv damit anfingen, zum Ukrainischen überzugehen. Ich stamme aus einer russischsprachigen Familie. Ich habe gesehen, in den sozialen Netzwerken, dass die Leute auf ihren gepackten Koffern saßen. Aber ich verstand nicht, warum die Leute so überreagierten.

Kindheit mit der russischen Literatur

Ich habe an der Kiewer Universität für Technologie und Design das Fach Modedesign studiert, anschließend den Master in Geschichte des Kostüms abgeschlossen. Meine Mutter ist ihrer ersten Ausbildung nach Philologin für Russisch. Ich bin mit der russischen Literatur aufgewachsen.

Meine persönliche schmerzliche Tragik ist die, dass ich meine Masterarbeit über Djagilews „Russische Saisons“, die „Ballets Russes“, in Paris schrieb. Damals haben viele Dozenten gesagt: Wie kann man nur über so etwas schreiben, während in Donezk und Luhansk Krieg ist? Deshalb schrieben wir „rusische“ Saisons und nicht „russische“, als käme das von dem Wort „Rus“, nicht von Russland [eine Besonderheit der Übersetzung vom Ukrainischen ins Russische; Red.].

Ich habe in meiner Arbeit auch Ukrainer erwähnt, selbstverständlich. Ich habe ihren Einfluss auf die Gestaltung des Kostüms in Frankreich Anfang des 20. Jahrhunderts erforscht. Aber damals dachte ich, ich erforsche ja nicht ein Thema des Kriegs, sondern ein Thema der Kunst, deshalb war es für mich in Ordnung, auch über russische Modedesigner zu schreiben. Und das ist jetzt meine persönliche Schande.

Bei der Arbeit ukrainisch sprechen

Dann habe ich in einem Bildungszentrum gearbeitet, ich habe Lesungen über Literatur, Kunst, Geschichte und Mode organisiert. Danach bekam ich eine Stelle in einem Museum mit einer privaten Kostümsammlung, als Lektorin und Guide, ich habe dort eigene Führungen gemacht.

Ich war im Konflikt, als man mir sagte, ich müsse bei der Arbeit ukrainisch sprechen. Zuerst habe ich dagegen angekämpft. Aber dann, nach ein paar Monaten, hatte ich mich so an die ukrainische Sprache gewöhnt, war es mir so vertraut geworden, die Führungen auf Ukrainisch zu halten, dass ich ins Stocken kam, wenn die Leute mich baten, etwas auf Russisch zu erzählen. Ich war schlicht daran gewohnt, ukrainisch zu sprechen. Ein halbes Jahr vor Beginn des Kriegs sprach ich schon fließend ukrainisch, das war meine Arbeitssprache. Außerhalb der Arbeit sprach ich russisch.

Der 24. Februar: Wohin mit dem Kater?

Am Morgen des 24. hörte ich keine Explosionen. Ich wachte auf, als mein Freund sehr laut an die Tür klopfte. Meine Mitbewohnerin war zwei Tage zuvor zu ihren Eltern nach Schytomyr gefahren, weil die ganzen Informationen sie zu stark bedrückten, das nahm sie sehr mit. Ich war allein in der Wohnung.

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Seit Februar 2022 sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine und zahlreiche russische Oppositionelle nach Deutschland geflüchtet. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Mein Freund war sehr verstört, das sah ich gleich. Er sagte, es sei Krieg, und er habe schon meine Eltern angerufen und gesagt, ich solle wegfahren. Aber ich glaubte es nicht. Ich sah, dass er Angst hatte und Panik, ich sah, wie er meine Sachen zusammenpackte. Aber ich hielt ihn zurück.

Ich hatte einen Kater. Den hatte mir das Mädchen überlassen, die vor mir in meinem Zimmer wohnte. Ich sagte meinem Freund, ich könne den Kater nicht verlassen. Er schrie mich an. Aber dann hörte ich die erste Sirene, stand schweigend auf und fing an zu packen. Aber trotzdem dachte ich, ich würde bald zurücksein.

Den Kater habe ich meinem Freund übergeben. Und bin zu meinen Eltern gefahren. Meine Mutter packte Lebensmittel zusammen, und wir gingen viele Lebensmittel einkaufen.

„Ich bekam hysterische Anfälle“

Ich war in Panik, ich las ständig die Nachrichten. Anfang März standen meine Mutter und ich in einem Lebensmittelgeschäft, die Regale waren schon fast leer, sowas hatte ich noch nie gesehen. Man gab uns kostenlos Brot. Wir gehen nach Haus, Explosionen, ich lasse mich auf die Straße fallen, weil ich Angst habe. Ich fange an zu weinen.

Ich weiß noch, ich wollte meine Eltern nicht allein zu Hause lassen, weil ich Angst hatte, dass sie ums Leben kommen. Ich dachte, lieber sterbe ich mit ihnen zusammen, aber nicht allein sein. Ich hörte ständig Explosionen. Mein Freund war zu der Zeit schon in Poltawa, er war mit dem Kater zu seinen Eltern gefahren. Er las viel darüber nach, wie man Menschen aus panischen Zuständen herausholt. Er half mir, weil ich nicht mal richtig atmen konnte. Ich saß ständig auf dem Fußboden, weinte, rief ihn an.

Panzer und Soldaten auf der Straße

Ich verließ die Ukraine, weil ich es seelisch nicht mehr ertrug, was da passierte. Es gab viele Explosionen und Schüsse, Tag und Nacht. Wir wohnten in Kiew in einem Wohnbezirk, wo nie etwas passierte, aber eines Tages sah ich auf der Erde die Spuren von einem Panzer, gleich beim Einkaufszentrum, sieben Minuten zu Fuß von zu Hause. Ich sah viele Soldaten. Ich hatte Angst zu schlafen. Jedes Mal, wenn ich aufwachte, dachte ich, es ist kein Krieg. Aber dann hörte ich das alles wieder. Und ich bekam hysterische Anfälle.

Wir gingen nicht in den Luftschutzkeller. Es gab keinen anständigen in der Nähe. Außerdem waren meine Eltern noch sehr ruhig. Mama sagte zu allen Leuten ganz resolut: Wir müssen weiter normal leben, uns waschen, essen und ins Bett gehen. Sie hat eine zweite Ausbildung als Psychologin.

Als sie meine hysterischen Anfälle sah, fing sie an, meinen Alltag zu kontrollieren. Das half mir. Jeden Abend meditierten wir.

Man durfte kein Licht einschalten, das war gefährlich. Deshalb hängte mein Vater dicke Decken vor die Fenster, damit wir drinnen das Licht einachalten konnten, von draußen aber nichts zu sehen war.

Meine Eltern stellten die Möbel um, damit die Schränke vor den Fenstern standen. Für den Fall einer Explosion. Wir klebten die Scheiben mit Klebeband ab.

Viele Freunde gingen weg. Das hat mir einen Ruck gegeben. Ich habe sogar zu meinen Eltern gesagt: Warum sitzen wir hier in Kiew und fahren nicht in unser Sommerhaus, zum Beispiel, das wir vor kurzem gekauft haben? Das ist in der Region Schytomyr. Aber meine Eltern wollten nicht weg.

Am 1. oder 2. März rief ich meinen ehemaligen Verlobten an. Er ist Soldat, er war an der ATO [Antiterroristische Operation, der Krieg im Donbass] beteiligt. Ich wusste, dass er mir helfen kann, rauszukommen. Damals war es schon schwierig, sich in der Stadt zu bewegen, weil es die Kontrollpunkte der Territorialverteidigung gab und nur Personen mit Passierschein durchgelassen wurden. Außerdem gab es immer noch den Beschuss und die Explosionen. Ich sagte zu ihm, ich wolle nach Deutschland, weil ich dort Bekannte habe. Er sagte zu, alles zu organisieren.

Kein Abschied von den Eltern möglich

Am 5. März rief er mich an und sagte, in einer halben Stunde käme ein Auto und hole mich ab. Ich hatte keine Kleidung eingepackt, ich fuhr nur mit einem Rucksack. Ich hatte keine Möglichkeit, mich von meinen Eltern zu verabschieden, es kamen Soldaten zu mir und brachten mich „unter schwerer Bewachung“ zum Bahnhof. Das war ein kritischer Moment für mich, weil ich nicht wusste, wann ich meine Eltern wiedersehen würde. Ich konnte nicht einmal weinen.

Sie brachten mich zum Bahnhof. Dort wartete ich sieben Stunden lang auf den Zug von Kiew nach Warschau. Aber diesen Zug gab es schlicht nicht, er war zwar auf der Tafel angeschrieben, aber er kam nicht. Mein ehemaliger Verlobter kam zum Bahnhof gefahren, mit MP und Wachleuten, sie haben die Menge auseinandergetrieben und mich in den Zug von Kiew nach Lwiw gesetzt. In dem Zug waren schon sehr viele Menschen, denn er kam aus Charkiw. Sie hoben mich einfach hoch und packten mich in den Zug hinein.

Ich fuhr im Stehen neben der Toilette. Wir fuhren 27 Stunden lang. Ich hatte nichts zu essen. Meine Mutter weinte im Messenger, dass sie nicht daran gedacht hatte, mir Proviant mitzugeben. Sie war sehr besorgt. Nachts kamen freiwillige Helfer aus einem nahegelegenen Dorf und verteilten Essen. Es gab Eier und Äpfel. Das habe ich gegessen.

In Lwiw habe ich eine Bekannte meiner Mutter angerufen, damit ich bei ihr unterkommen könnte. Von Lwiw aus war es sehr schwierig weiterzukommen, sehr viele Menschen standen einfach tagelang nur am Bahnhof. Wir gingen zum Nachbarn dieser Frau, er ist Grenzbeamter. Er erklärte sich bereit, mich zur polnischen Grenze zu bringen.

Dort war eine große Schlange. Es war fünf Uhr morgens. Der Mann, der an der Grenze die Leute reinließ, fragte, wo meine Eltern seien. Er dachte, ich wäre verlorengegangen. Als ich sagte, ich sei allein, ließ er mich schnell durch. Von dort aus bin ich per Bus bis mach Przemyśl gefahren. Ein Bekannter aus Berlin kaufte mir ein Ticket nach Berlin. Zwölf Stunden später war ich schon in Berlin. Die ganze Fahrt von Kiew nach Berlin dauerte drei Tage.

Es gab noch die Möglichkeit, nach England zu gehen, Freunde hatten mich dorthin eingeladen. Aber damals waren die Grenzen nach England geschlossen, nicht einmal die nächsten Verwandten wurden reingelassen. Außerdem gab es noch einen Bekannten in Kanada. Aber das schien mir in dem Moment zu weit weg, um auch nur darüber nachzudenken.

Aggressive Russen in Berlin

In den ersten Tagen in Berlin hatte ich Angst vor Sirenen und vor Feuerwerk. Ich weinte. Dann kam die zweite Welle der Einsamkeit, und ich musste mich ganz schnell entscheiden, was ich weiter machen wollte. Ich habe meine Papiere machen lassen. Meine Freunde haben mir dabei geholfen, denn mir fiel es sehr schwer, überhaupt etwas zu machen. Ich wohne immer noch bei ihnen, suche jetzt einen Job, bekomme Geld vom Jobcenter.

Ich bleibe in Berlin, solange in der Ukraine Krieg ist. Ich weiß nicht, ob ich sofort zurückgehe, wenn der Krieg vorbei ist. Ich fühle mich nicht sicher dort. Aber ich fühle mich auch in Berlin nicht sicher, weil es hier viele aggressive Russen gibt. Ich habe sie in den sozialen Einrichtungen getroffen. Sie sind dort als freiwillige Helfer. Sie tun da alles, damit du dich unwohl und erniedrigt fühlst.

Ich besuche jetzt einen Integrationskurs und lerne Deutsch. Mir ist klar, wenn ich weiter in meiner Branche arbeiten will, in den Museen, dann brauche ich Deutsch.

Im August war ich in Kiew. Ich bin für zehn Tage hingefahren. Das war ein Stress. Aber ich hatte die Möglichkeit, normal mit meiner Familie zusammen zu sein. Damals war es ruhig. Aber jetzt, am 24. November, habe ich schon über eine Woche keine Verbindung zu meiner Familie in Kiew. Sie haben kein Netz, kein Wasser, Kiew wird jetzt schwer bombardiert. Es passieren viele solche Geschichten, dass die Leute zur Arbeit gehen und nicht mehr nach Hause kommen, sie sterben unterwegs.

Sprache ist eine Frage der Identifikation

Nach Beginn des Kriegs fing ich an, ukrainisch zu sprechen. Jetzt nutze ich Russisch nur wenn ich mit meinen Eltern und meinem Freund spreche, weil das die Sprache ist, in der ich diesen Menschen gesagt habe: „Ich liebe dich“. Mit den anderen Menschen, die kein Ukrainisch verstehen, spreche ich englisch. Ich lese nur Englisch.

Meine Eltern gehen allmählich zum Ukrainischen über. Manchmal schreiben wir uns auf Ukrainisch. Hier in Berlin besuche ich einen Sprachkurs, und die ganze Gruppe von Ukrainern dort spricht nur russisch. Sie reden über die Neuigkeiten, die Bombardierungen, aber sie sprechen weiterhin russisch. Ich verstehe das nicht. Außerdem zieht der Deutschlehrer immer Parallelen zur russischen Grammatik und zur russischen Literatur, wenn er die deutsche Sprache erklärt. Das ist mir unangenehm.

Für mich ist die Frage der Sprache jetzt sehr akut. Ich will verstehen, wen ich auf der Straße höre. Die ukrainische Sprache ist jetzt eine Sprache der Identifikation – wer zu dir gehört und wer nicht. Nicht umsonst sprechen die Soldaten in der Dunkelheit oder die Militärärzte nur ukrainisch. Wenn ein Soldat sein Bewußtsein wiedererlangt und Russisch hört, kann er den Menschen töten, weil er glaubt, in Gefangenschaft geraten zu sein.

Vielleicht werde ich irgendwann wieder mit Russen kommunizieren. Nach Jahrzehnten, wenn viele Entschuldigungen ausgesprochen wurden, nach Reparationen und der Aufarbeitung der Folgen. Jetzt ist es für mich zu heftig. Es tut mir weh. Es beruhigt mich, wenn ich im Ausland meine eigene Sprache spreche.

In Berlin sind unter meinen Bekannten viele Ausländer. Es ist sehr bequem und angenehm für mich, mit ihnen englisch zu sprechen. Das ist eine Sprache, die für alle erfunden wurde. Das ist meine Ersatzsprache für die, die mit mir nicht ukrainisch sprechen wollen.

Mit Swetlana, die ihren Namen nicht preisgeben möchte, sprachen Tatiana Firsova und Anastasiia Kovalenko am 24.11.2022. Sie übernahmen auch Transkription, Übersetzung ins Russische und Redaktion des Originalinterviews.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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