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Mit Gott gegen Homosexualität?

Published On: 27. Dezember 2022 12:18

Die Moskauer Kriegspropaganda setzt zunehmend auf die Religion, um trotz des Rückzugs aus eroberten ukrainischen Gebieten und der ins Stocken geratenen militärischen Offensive weiter die russische Bevölkerung von der Notwendigkeit des Ukrainekriegs zu überzeugen. Neu ist das Thema nicht, doch haben sich in den vergangenen Monaten Quantität wie Qualität der religiös konnotierten Propaganda in Russland deutlich verändert. Zu Beginn des flächendeckenden Angriffs auf die Ukraine spielte die Religion hauptsächlich im Rahmen des Konzepts der „Russischen Welt“ eine Rolle, denn orthodoxer Glaube und orthodoxe Kirche sind neben der russischen Sprache, Kultur und Geschichte eine wichtige Säule dieser neoimperialistischen Ideologie.

In diesem Sinn tauchte das Thema „Orthodoxie“ in Putins Rede an die Nation am 21. Februar 2022 auf, die die Russen auf den bevorstehenden Angriff einstimmen sollte. Als Beleg dafür, dass „die Ukraine nie eine gefestigte Tradition einer eigenen authentischen Staatlichkeit hatte“, verwies der Präsident darauf, dass sich schon vor Jahrhunderten Menschen in der Ukraine als „Russen“ und „Orthodoxe“ bezeichnet hätten. Er spielte damit auf jene Kosaken an, die Mitte des 17. Jahrhunderts den russischen Zaren zum Krieg gegen Polen-Litauen aufgefordert hatten, mit dem Ergebnis, dass seither Kiew und die Ukraine östlich des Dnipros zum Zarenreich gehörten.

Angebliche „Entrussifizierung“ der Ukraine

Diese Geschichte, so dachte der russische Präsident offenbar, würde sich nun wiederholen. Auch jetzt ließe sich die militärische Invasion wieder als Hilfeleistung für die russischsprachige orthodoxe Bevölkerung der Ukraine rechtfertigen.

Dabei kamen Putin die Maßnahmen der ukrainischen Behörden gegen die damals noch dem Moskauer Patriarchen unterstehende Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) gerade recht. Neben der angeblichen Bedrohung Russlands durch die Nato bildete der von den ukrainischen Behörden auf die UOK ausgeübte Druck zur Loslösung von der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) zusammen mit der angeblich von der Ukraine betriebenen „Entrussifizierung“ ihrer Bevölkerung ein zweites Narrativ, das die russische Invasion legitimieren sollte.

Doch Putin hatte sich verrechnet. Weder von der Bevölkerung noch von der UOK wurden seine Soldaten in der Ukraine willkommen geheißen. Die ukrainische Tochterkirche der ROK rief den Moskauer Patriarchen Kyrill umgehend dazu auf, sich bei der russischen Regierung für ein sofortiges Ende des „brudermörderischen Blutvergießens auf der ukrainischen Erde“ einzusetzen.

Die Loslösung von Moskau

Als Kyrill nichts dergleichen tat, sondern den Krieg wiederholt theologisch zu rechtfertigen versuchte, erklärte sich die UOK auf einem Konzil Ende Mai für unabhängig von Moskau. Am 23. November wurde schließlich von der Leitung der UOK auch die eigene Weihe des Myron, des heiligen Salböls, beschlossen, was in den orthodoxen Kirchen das höchste Symbol kirchenrechtlicher Selbständigkeit ist.

Die UOK ist nicht die einzige Tochterkirche des Moskauer Patriarchats, die sich zu diesem Schritt entschloss. Am 20. Oktober erklärte auch die Lettische Orthodoxe Kirche ihre vollständige Loslösung von der ROK. Ein im September erlassenes Gesetz Lettlands hatte sie dazu verpflichtet. Interessanterweise wurde öffentlich weder von ihrem Oberhaupt, Metropolit Alexander von Riga, noch von irgendeinem anderen Bischof die staatlich geforderte Trennung von Moskau kritisiert. Es scheint, als habe sich auch der Moskauer Patriarch bezüglich der kirchlichen Folgen seiner Haltung zu Putins „Spezialoperation“ gründlich getäuscht.

Kyrill rechtfertigt den Krieg

Doch auf Kyrill ist Verlass. Am 20. November, seinem 76. Geburtstag, verkündete der Patriarch in einer Predigt, zwischen ihm und dem Präsidenten bestehe in wichtigen aktuellen Fragen Einvernehmen.

Putin musste als Folge seiner Fehleinschätzung am 21. September eine Teilmobilisierung verkünden. Kurz darauf, bei seiner Rede im Großen Kremlpalast anlässlich der Annexion der Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson, schloss er sich der von Kyrill seit März propagierten theologisch-moralischen Rechtfertigung des Kriegs an.

Auch Putin begründete nun den Kampf „für das große historische Russland“ mit dem Schutz künftiger Generationen vor der westlichen Propagierung von „Perversionen“ wie der Tolerierung von Homosexualität oder der Ermöglichung von Geschlechtsumwandlungen, was zum „Aussterben“ der Menschheit führen würde. Dies verhöhne den Glauben und die traditionellen Werte, pervertiere die Religion und sei, so Putin weiter, „offenkundiger Satanismus“.

Bei seinem Versuch, die Geschichte zu revidieren und die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ rückgängig zu machen, setzt auch der russische Präsident auf die Religion als Brandbeschleuniger bei der Verwirklichung seiner irredentistischen Ziele. Angesichts der militärischen Probleme der Russen in der Ukraine wird auch von ihm der Krieg sakralisiert und der ukrainische Gegner dämonisiert.

Radikale Politideologen taten dies schon früher. So verkündete Wjatscheslaw Nikonow, der Vorsitzende der staatlichen Stiftung „Russkij Mir“, schon im April im russischen Fernsehen, Russland kämpfe in der Ukraine gegen „die Kräfte des absolut Bösen“ und müsse diesen „Heiligen Krieg“ unbedingt gewinnen.

Mit der aberwitzigen Rechtfertigung des Kriegs als Kampf gegen Homosexualität und andere Perversionen folgt Putin dem Patriarchen, der schon am 6. März erklärt hatte, der Konflikt in der Ukraine habe metaphysische Bedeutung als Kampf für die göttliche Wahrheit und gegen die Sünde. Russland müsse den leidenden Glaubensbrüdern in der Ukraine zu Hilfe kommen, weil der Westen die Menschen im Donbass zur Sünde zwingen wolle und von ihnen die Tolerierung von Homosexualität und die Abhaltung von Gay-Paraden verlange.

Mit Gott gegen Homosexualität

Passend dazu unterzeichnete der Präsident am 5. Dezember ein Gesetz, welches die positive Darstellung von Homosexualität in der Literatur, der Kunst und den Medien generell unter Strafe stellt. Bei der Anhörung zu dem Gesetzentwurf in der Staatsduma hatte der russisch-orthodoxe Erzpriester Andrej Tkatschow, der aus der Ukraine stammt, das Gesetz als Voraussetzung für den Sieg Russlands bezeichnet. Gott schenke den Sieg nur denen, die seiner moralisch würdig seien.

Der von Putin gegen den Westen gerichtete Vorwurf des Satanismus war schon im April von dem russischen Ultranationalisten Alexander Dugin zur Rechtfertigung des Kriegs in der Ukraine benutzt worden. In einem Artikel bezeichnete Dugin den Krieg in der Ukraine als Auseinandersetzung zwischen „geistigen Wirklichkeiten“. Entweder die Ukraine komme wieder „unter die Herrschaft Christi und seiner unbefleckten Mutter, oder sie wird unter der Herrschaft Satans bleiben“, so Dugin. Mit dem Kampf in der Ukraine habe die große endzeitliche Schlacht zwischen der „Orthodoxen Zivilisation“ und „der Welt des westlichen Antichrists“ begonnen. Auf die Pest der Corona-Pandemie folge nun der zweite apokalyptische Reiter – der Krieg. Nicht Russland brauche die Ukraine, wohl aber Christus.

Fanden Dugins Endzeitphantasien zunächst kein großes Echo, so änderte sich dies nach Putins Anprangerung des angeblichen „Satanismus“ des Westens. Zu den Kriegszielen der Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine kam in der russischen Propaganda nun auch das der „Entsatanisierung“.

Als Erster forderte dies das Oberhaupt der Republik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow. Aber auch Alexej Pawlow, der stellvertretende Sekretär des Russischen Sicherheitsrats, behauptete, die satanischen Kulte nähmen in der Ukraine überhand und Russland müsse die Ukraine „entsatanisieren“. Schon der Umsturz in der Ukraine 2014 sei ein Werk neuheidnischer Kräfte gewesen.

Und Ex-Präsident Dmitri Medwedjew, der sich seit geraumer Zeit als der radikalste Kremlvertreter zu profilieren sucht, beschimpfte am 4. November, dem russischen „Tag der Einheit des Volkes“, die ukrainische Regierung als einen „Haufen von Wahnsinnigen und Drogensüchtigen“ und erklärte, es sei die Aufgabe Russlands, in der Ukraine den obersten Herrscher der Hölle zu stoppen, egal welchen Namen er trage – „Satan, Luzifer oder Iblis“. Anfang Dezember wurde im russischen Staatsfernsehen allen Ernstes diskutiert, ob Selensky selbst der Antichrist sei oder nur einer seiner Dämonen.

Auch die Äußerungen von Patriarch Kyrill wurden extremer. Lange dominierte in seinen Äußerungen das Narrativ vom „Heiligen Russland“ und vom „einen Taufbecken“ der Kiewer Rus als pseudohistorischem Fundament der russischen Ansprüche auf die Ukraine. Als deutlich wurde, dass der Krieg nicht in wenigen Wochen zu gewinnen sein würde, forderte der Patriarch die Gläubigen auf, den heiligen Georg, die Gottesmutter und vor allem Gottes obersten „Heerführer“, den Erzengel Michael, anzurufen, damit Russland den Sieg erringe.

Mitte September, als sich die russischen Truppen aus der Region Charkiw zurückzogen, verkündete Kyrill, dass, wenn an der Spitze des Staats ein orthodox getaufter Gläubiger stehe, „das Land vor jeder Art von militärischen Abenteuern sicher“ sei und „niemals Kriegsverbrechen begehen“ werde. Setze ein solches Land militärische Gewalt ein, dann sei dies nicht nur „sittlich, sondern auch geistlich gerechtfertigt“.

Vier Tage nach Putins Verkündigung der Teilmobilisierung behauptete der Patriarch, Soldaten, die in Erfüllung ihrer militärischen Pflicht ihr Leben verlieren, würden sich nach dem Vorbild Christi für andere opfern und ein solches Opfer würde alle Sünden, die der Mensch begangen habe, „abwaschen“.

Handeln im göttlichen Auftrag?

Mit dieser Ausweitung der sündenvergebenden Wirkung des Kreuzestods Christi auf den Tod von Soldaten auf dem Schlachtfeld überschritt Patriarch Kyrill die Grenze zur Häresie. Diese Behauptung widerspricht nicht nur der orthodoxen Lehre, sie erinnert auch fatal an jenes Ablassversprechen, das Papst Urban II. 1095 mit der Teilnahme am Ersten Kreuzzug verbunden hatte. Damals wurde den Kreuzrittern der Nachlass aller Sünden und ein „nie verwelkender Ruhm im Himmelreich“ versprochen.

Heute findet sich Ähnliches in der islamistischen Lehre des Schahidismus, der zufolge ein Krieger, der im Kampf gegen Ungläubige sein Leben verliert, die Vergebung all seiner Sünden empfängt und direkt ins Paradies gelangt. Umso symptomatischer, dass sich Kyrill schon 2016 Putins Meinung anschloss, das orthodoxe Christentum sei dem Islam näher als dem Katholizismus, was er damit begründete, dass Orthodoxie und Islam, anders als der Katholizismus, an der traditionellen Moral festhalten würden.

Auch Dugins apokalyptische Deutung des Ukrainekriegs hat der Patriarch mittlerweile übernommen. In einer am 25. Oktober vor dem sogenannten Weltkonzil des Russischen Volkes gehaltenen Rede erklärte er, die Zukunft der Menschheit hänge davon ab, ob man sich für die traditionellen und spirituellen Werte oder für die Bagatellisierung der Sünde als eine menschliche Verhaltensvariante entscheide. Tatsächlich gehe es jetzt um den Kampf gegen den „Herrscher der Finsternis“.

Solange Russland all diesen zerstörerischen Tendenzen widerstehe und in Treue zum Glauben und zur Tradition eine „Insel der Freiheit“ bleibe, so lange werde auch der Rest der Welt ein Zeichen der Hoffnung und eine Chance haben, das drohende globale apokalyptische Ende abzuwenden. Damit spielte Kyrill auf die Vorstellung des „Katechon“ aus dem 2. Thessalonicherbrief an, eine endzeitliche Macht, die den Widersacher Gottes, den Antichrist, einstweilen noch aufhält.

Auch damit übernimmt der Patriarch eine Vorstellung, die Dugin und andere Ultranationalisten seit Jahren verbreiten. Und auch diese Verklärung des russischen Angriffs auf die Ukraine zum eschatologischen Handeln in göttlichem Auftrag ist eindeutig häretisch.

Selensky gegen die Kirche

Doch nicht nur in Russland, auch in der Ukraine werden derzeit die Töne schriller. In den letzten Wochen führte der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU Razzien in mehreren Hundert Einrichtungen der UOK durch. Trotz der erklärten Unabhängigkeit vom Moskauer Patriarchat gilt diese Kirche den ukrainischen Behörden weiter als fünfte Kolonne Moskaus.

Einer ihrer Priester wurde vor Kurzem wegen Militärspionage für Russland zu zwölf Jahren Haft verurteilt, ist aber anscheinend dann bei einem Gefangenenaustausch nach Russland abgeschoben worden. Aufgrund von angeblich bei den Razzien gefundenem belastenden Material hat Präsident Selensky mittlerweile gegen vierzehn Bischöfe und zwei Priester der UOK Sanktionen verhängt. Betroffen ist auch der 2020 zum Diakon der UOK geweihte ukrainisch-russische Milliardär Wadim Nowinski.

Zugleich wies der ukrainische Präsident die Regierung an, einen Gesetzesentwurf vorzulegen, wonach religiöse Organisationen in der Ukraine künftig nur tätig werden können, wenn sie nicht mit „Einflusszentren“ in Russland verbunden sind. Damit reagierte Selensky auf einen Gesetzesvorschlag aus der Partei von Ex-Präsident Poroschenko, wonach die UOK ganz verboten werden soll und sich nur noch die mit ihr rivalisierende autokephale Orthodoxe Kirche der Ukraine „orthodoxe“ Kirche nennen darf. Deren Pressesprecher, Erzbischof Jewstratij, beschimpfte unterdessen die UOK Anfang Dezember als „einen getünchten Sarg der Orthodoxie“, und dies, obwohl beide orthodoxe Kirchen in gleicher Weise von den russischen Angriffen am Boden und aus der Luft betroffen sind und darunter leiden.

Ein solches Verbot der UOK hätte keinen Bestand vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, es wäre auch Wasser auf Moskaus Propagandamühlen und damit kontraproduktiv für die Ukraine. Es würde die Orthodoxie in der Ukraine noch tiefer spalten, als sie jetzt schon gespalten ist, nämlich nicht nur auf der Ebene ihrer Hierarchie, sondern auch auf der der Gläubigen.

Wie angespannt die kirchliche Situation in der Ukraine ist, zeigte sich am 9. Dezember bei einer Messe aus Anlass des 32. Jahrestags der Bischofsweihe von Metropolit Onufrij, dem Oberhaupt der UOK. Als ein Konzelebrant einen Schwächeanfall erlitt und der Kelch mit dem Blut Christi umkippte und sich über das Messgewand Onufrijs ergoss, hieß es, dies sei ein böses Omen für Onufrij, aber auch für die Zukunft der UOK. Der Herr habe sich von dieser Kirche abgewandt und versage ihr seine Gnade, da sie schwere Sünde auf sich geladen habe. Nicht nur in Moskau, sondern auch in Kiew ist religiöse Propaganda derzeit allgegenwärtig.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der FAZ erschienen. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, ihn auch auf KARENINA zu veröffentlichen.

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