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„Sie hätten niemals sterben dürfen“

Published On: 2. Januar 2023 16:15

Ich habe in Charkiw gelebt. Nach Berlin kam ich am 6. März 2022. Ich bin Schauspieler. Ich habe zwei Hochschulabschlüsse – als Regisseur für Animationstheater und als Theater- und Filmschauspieler. Alles in Charkiw. Ich habe in meinem Beruf gearbeitet, unterrichtete eine Zeitlang an der Universität Jonglieren und klassische Disziplinen, Schauspielkunst. Ich habe auch in Theatergruppen gearbeitet und bin durch die Welt gereist.

Am 23. Februar unterhielt ich mit einem Bekannten, der fragte mich, ob ich auf den Krieg vorbereit sei. Ich antwortete: „Was denn für ein Krieg?“ Wir lachten und tranken. Und kurz vorher hatte meine Mutter noch gesagt, komm möglichst früh nach Hause, schlaf dich aus, man weiß nicht, was morgen ist. Wie üblich habe ich nicht zugehört und nicht daran geglaubt.

Der 24. Februar: Im Kopf augenblicklich Brei

Am 24. Februar war ich mit meiner Tochter bei meinen Eltern. Um 5 Uhr morgens oder früher weckt mich meine Mutter und sagt: „Wie kannst du jetzt schlafen? Steh auf, der Krieg hat angefangen. Wenn du es nicht glaubst, geh zum Fenster und sieh nach draußen.“

Ukrainischer Mann:

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Seit Februar 2022 sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine und zahlreiche russische Oppositionelle nach Deutschland geflüchtet. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Ich wohne am Rand von Charkiw an einem Wald. Belgorod liegt 30 Kilometer entfernt. Ich gehe in die Küche, schaue aus dem Fenster und sehe, dass Pjatychatky brennt. Ich sehe das Feuer, ich höre die Schüsse. Alles ist ganz nah. Das war natürlich schrecklich. Und im Kopf augenblicklich Brei.

Wir packten unsere Sachen, aber wir dachten, dass es bald vorbei wäre. Wir warteten. Ich habe lange in Belgorod, in Kursk, in Orjol gearbeitet, ich war in Petersburg, ich habe viel in Russland gearbeitet, wir hatten immer partnerschaftliche Beziehungen. Die ganzen Materialen für die Auftritte und die Pyrotechnik haben wir immer in Russland eingekauft. Wir haben viel bei Firmenfeiern zusammengearbeitet.

Ich weiß nicht, wo diese Leute jetzt alle sind. Jetzt ist es schwierig, den Kontakt zu halten, und schwierig, Gesprächsthemen zu finden. Es ist auch sehr schwierig, mit den Leuten zu sprechen, die in der Ukraine sind. Das kommt immer durch, das kommt immer zurück, und man kommt sehr schwer weiter.

Wenn ich an dort denke, fällt es mir sehr schwer, hier zu sein. Aber ich muss hier sein, in der Gegenwart, weil ich etwas tun muss. Ein neues Land, neue Gesetze, neue Regeln, eine neue Sprache. Hier ist alles kompliziert. Ich habe in Berlin ein neues erwachsenes Leben. Ich habe eine Tochter, ich hatte eine Familie. Meine Frau und meine Tochter leben schon lange in Deutschland. Ich bin jetzt mit meiner Mutter in Berlin.

Rausgelassen wegen des Kindes

Am 3. März sind wir gefahren, meine Mutter, meine Tochter und ich. Man ließ mich raus, weil ich das Kind dabeihatte. Es war eine Reise, zu der ich nicht bereit war. Wir fuhren sehr lange, und wir waren sehr lange in Ungewissheit. Alle ließen mich weiter, aber keiner ließ es sich nehmen, mir zu sagen: „Du kannst natürlich fahren, aber weit kommst du nicht.“ Wir brauchten 40 Stunden bis Berlin, über Lwiw und Polen.

In Berlin versuche ich zu arbeiten. Bisher bin ich noch als Flüchtling beim Jobcenter, aber ich muss arbeiten. Nichts zu tun ist sehr belastend. Sofort prasseln die Gedanken auf dich ein. Arbeit, das ist die Bewegung in die richtige Richtung.

Zurück kann ich vorerst nicht, dann muss ich zur Armee. Es war sehr schwierig, rauszukommen. Sie haben mein Telefon überprüft, meinen Messenger wiederhergestellt und meine Verwandten angerufen. Sie haben überprüft, warum ich fahre, denn ich bin ein Mann und 27 Jahre alt.

In nächster Zukunft bleibe ich erstmal in Deutschland. Vielleicht gehe ich irgendwann noch woanders hin, aber nicht jetzt.

„Ich bin von den Menschen enttäuscht“

Ich bin sehr traurig und von den Menschen enttäuscht. Ich bin Pazifist. Ich denke, das ist eine ganz normale menschliche Einstellung, dass man andere Menschen nicht töten will. Ich will niemanden töten, und ich will nicht, dass jemand jemanden tötet. Unabhängig davon, was das für Menschen sind und welche Nationalität sie haben.

Im Laufe der Geschichte unseres Planeten gab es sehr viele Kriege. Aber sehr viele Konflikte wurden nicht mit Waffen ausgetragen, weil die Menschen ihren Kopf gebrauchen konnten und andere Methoden und Möglichkeiten nutzen konnten. Es war möglich, Entscheidungen auf dem Verhandlungsweg zu finden.

Ich habe mich mit Georgiern unterhalten. Dort gibt es sehr viele Leute, die die ukrainische Standhaftigkeit bewundern, den Siegeswillen und Kampfesgeist und so weiter. Irgendein Schriftsteller hat mal gesagt: „Es fiele mir leichter zu sterben in dem Wissen, das du lebst, als zu leben in dem Wissen, dass du gestorben bist.“

Sie hätten niemals sterben dürfen

In der derzeitigen Situation geht es mir sehr schlecht. Ich will nicht die Standhaftigkeit einer Nation bewundern in dem Wissen, dass einige von meinen Freunden in den ersten Tagen ums Leben gekommen sind. Das waren Menschen, die die niemals hätten sterben dürfen.

Eine Bekannte, eine Regisseurin aus Charkiw, hatte gerade die Leitung eines Theaters irgendwo in der Region übernommen. Als der Krieg begann, fuhr sie nach Charkiw, um zu helfen und kam durch eine Rakete ums Leben. Man fand sie drei Wochen später.

Das Menschenleben ist ein einziger Zufall. Ein Mensch kann nicht überleben, wenn eine Rakete in ein Gebäude einschlägt. Er allein kann gar nichts bewirken. Der Mensch ist kein bombensicheres Wesen. Sehr viele sinnlose Opfer. Ich bin enttäuscht davon, dass man so viel auf den Kampf gibt, dabei aber ein Menschenleben absolut nicht schätzt. Von keiner Seite. Aber ich habe kein Rezept dafür, wie man das stoppen könnte.

Wozu bin ich hierher gekommen?

Die Menschen, die ihre Heimat verlassen haben, haben jetzt aus verständlichen Gründen mehrere Möglichkeiten. In jedem Menschen gibt es zwei Gefühle: Wieso bin ich hierher gekommen und wozu? Wenn du über das warum nachdenkst, dann denkst du automatisch über den Krieg nach und über die Menschen, die dort geblieben sind. All das, was man Überlebenssyndrom nennt.

Man sollte lieber fragen „wozu“. Denn diese Frage lässt dir noch Möglichkeiten. Sie lässt dir eine Zukunft offen. Man soll nicht nach den Gründen suchen, warum man hierher geraten ist, sondern fragen, was dir das geben kann. Denn das warum ist sowieso klar, und das macht keine Freude.

Jetzt muss ich mir selber helfen. Das hat Priorität. Um meine Tochter mache ich mir keine Sorgen. Ihr geht es gut, sie hat ihre Mutter und sehr viele Verwandte von Seiten meiner Frau. Das Wichtigste ist, selber auf die Beine zu kommen. Dann erst kann ich anderen helfen.

Ich habe eine Abneigung gegen die politische Komponente, gegen gewisse Leute, die an der Spitze der russischen Föderation stehen. Denn jemand, der eine so kolossal lange Zeit an der Macht ist, begeht solche dummen Fehler, man weiß nicht, wovon er sich leiten lässt. Das ist sehr dumm. Sehr unbedacht.

Klar, bei allen läuft etwas nicht nach Plan. Aber dieses „nicht nach Plan“ – das sind Menschenleben. Ich mag Tiere lieber als die Menschen. Aber ich sehe keinen Grund, alle Menschen mit russischer Staatsbürgerschaft nicht zu mögen, weil sie nicht in der Lage sind, irgendetwas zu bewirken. Das ist, als wollte man nach dem Titelblatt urteilen. Das ist dumm.

Mit Alexei Vinichenko sprach Tatiana Firsova am 10.11.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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