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Citoyen einer demokratischen Ukraine

Published On: 23. Januar 2023 17:20

In den westlichen Medien ist der Kiewer Schriftsteller Andrej Kurkow durch seine Interviews und Auftritte zu einem Kronzeugen gegen den russischen Angriffskrieg avanciert. Der ethnische Russe gilt als Repräsentant der russischen Minderheit und unvoreingenommener Beobachter seines Landes. Sein Roman „Graue Bienen“ (Diogenes, 2019) über einen Imker im Niemandsland zwischen den Fronten im Donbass ist eine umwerfende Mentalitätsgeschichte des dortigen Menschenschlags und wird als einer der großen Romane zum Krieg gehandelt.

Unter dem Titel „Tagebuch einer Invasion“ ist nun Kurkows Kriegstagebuch erschienen. Es umfasst den Zeitraum Dezember 2021 bis Juli 2022 und bietet mit historischen, politischen und kulturellen Kurzessays, Reiseberichten und landeskundlichen Beschreibungen eine tiefgehende Analyse des Kriegs. Zudem beschreibt Kurkow seinen Familien- und Berufsalltag als Binnenflüchtling in der Westukraine nach der Flucht aus Kiew Ende Februar 2022.

Es ist ein großer Gewinn, dieses Buch zu lesen, da es, obwohl ausschließlich auf ein westliches Publikum zielend, in viele innerukrainische Diskussionen und Komplexe einführt, etwa das Schicksal der Krimtataren und der antirussischen Opposition auf der Krim. Kurkow folgt darin seinem „Ukrainischen Tagebuch“ (Haymon Verlag, 2014) zur Majdan-Revolution 2013/2014, das ähnlich angelegt war.

Selensky in schlechter Tradition

Im Zentrum der Darstellung vor dem Krieg (ca. ein Viertel des Buchs) stehen die heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Präsident Wolodymyr Selensky und seinem innenpolitischen Hauptwidersacher, Ex-Präsident Petro Poroschenko. Beide Politiker scheinen sich im Januar 2022 weniger um den russischen Aufmarsch an der Grenze zu kümmern als um ihre Auseinandersetzung.

Kurkow steht ihnen ausgesprochen skeptisch gegenüber, insbesondere verurteilt er Selenskys fragwürdiges Strafverfahren gegen Poroschenko als Führer der parlamentarischen Opposition, dessen Ziel es war, den Ex-Präsidenten hinter Gitter zu bringen. Damit setzte Selensky, so Kurkow, eine schlechte Tradition ukrainischer Präsidenten fort, gegen ihre Vorgänger strafrechtlich vorzugehen.

Gleichzeit zeichnet sich der mögliche Krieg ab: „Im dritten Jahr von Selenskys Präsidentschaft scheint ein ‚großer Krieg‘ wahrscheinlicher denn je“, schreibt Kurkow am 3. Januar 2022. Dabei habe ihn die Bevölkerung, vor allem die des Donbass, bei der Präsidentschaftswahl 2019 gerade wegen seines Versprechens gewählt, den Krieg innerhalb eines Jahres zu beenden.

In seiner Neujahrsansprache erwähnt Selensky den russischen Aufmarsch an den Grenzen nicht, und den Krieg im Donbass nur einmal, stellt Kurkow fest. Aber der Präsident verkündet: „Wir warten nicht darauf, dass die Welt unsere Probleme löst“, was Kurkow nicht glaubt. Er erwartet eine oktroyierte Vereinbarung zwischen den Amerikanern und Moskau.

Ignoranz gegenüber den Ungarn

Die Ignoranz der ukrainischen führenden Politiker gegenüber der heraufziehenden Gefahr sieht Kurkow auch gegenüber der ungarischen Minderheit in Transkarpatien, ihrer Sprache und Literatur, walten. Dies ist Kurkow als Präsident des PEN-Clubs Ukraine, der er bis November 2022 war, ein besonderer Dorn im Auge. Poroschenkos Gesetz über die Staatssprache von April 2019, das die Stellung des Ukrainischen gegenüber dem Russischen deutlich stärkte, kritisiert er heftig, da es zugleich die ungarische Minderheitensprache diskriminiert und sie schlechter stellte als zuvor – was seit 2019 zu einem vorher nicht bestehenden Konflikt mit dem Ungarn Viktor Orbans führte.

Auch die Kulturpolitik und die Verlagsszene ignoriert die Ungarn in der Ukraine. Kein einziges Werk ungarischer Schriftsteller aus Transkarpatien ist bis heute ins Ukrainische übersetzt worden, stellt er fest.

Dieser Krieg ist bereits ein Weltkrieg

Die ersten Explosionen des 24. Februar vernehmen Kurkow und seine englische Frau in ihrer Wohnung im Zentrum Kiews. Er kann nicht glauben, dass der Krieg wirklich begonnen hat. Sie verlassen die Hauptstadt einen Tag später, um auf ihre Datscha 80 Kilometer westlich von Kiew zu fliehen.

Andrej Kurkow

Tagebuch einer Invasion

Haymon

352 Seiten

Klappenbroschur

19,90 Euro

ISBN 978-3-7099-8179-5

Zum Verlag

Auf dem Weg dorthin begleiten Kurkow die Nachrichten über die dramatischen Kämpfe um den Flughafen Hostomel und dessen Zerstörung. Er erinnert sich an den Arbeitsplatz seines verstorbenen Vaters im dortigen Antonow-Werk, wo dieser als Testpilot arbeitete. Sein Bruder wohnt noch immer in der Nähe des Flughafens. „Für mich ist dieser Krieg bereits jetzt ein ‚Weltkrieg‘“, schreibt Kurkow resigniert am 1. März 2022. Eine Einschätzung, die man bis heute oft von Ukrainern hört.

Warum Kurkow nicht Deutsch lernen wollte

Mit dem Kriegsausbruch beginnt Kurkows Verorten der neuen Situation in der Familiengeschichte: „Ich kam nach dem Holodomor, nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Gulag, nach dem Tod Stalins zur Welt. Meine Mutter wurde 1931 geboren. Im Alter von zehn Jahren wurde sie mit ihrer Mutter – meiner Großmutter – und ihren älteren Brüdern evakuiert und musste in den Ural flüchten. Ihr Vater – mein Großvater – musste an die Front ziehen. Er fiel 1943 in der Nähe von Charkiw und liegt dort begraben.“

Wegen des Todes seines Großvaters lehnte es Kurkow in seiner Kindheit ab, in der Schule Deutsch zu lernen. Die überlebenden Familienmitglieder mussten während und nach dem Krieg in der Sowjetunion schrecklichen Hunger und Not ertragen.

Kurkow, seine Frau und seine zwei fast erwachsenen Kinder hingegen haben Glück. Nach der weiteren Flucht nach Transkarpatien stellt ihnen eine wildfremde Frau ihre Wohnung zur Verfügung und zieht zu ihrer Tochter. So kann Kurkow wieder beginnen zu arbeiten und Interviews für westliche Medien geben, später sogar nach England, Norwegen und Frankreich reisen.

Antideutsche Stimmung in der Ukraine

Kurkow konstatiert die vor dem Krieg weit verbreitete antideutsche Stimmung in der Ukraine, da die deutsche Regierung es ablehnte, Waffen in die Ukraine zu liefern.

Im Eintrag vom 25. Mai widmet er sich diesem Thema in längeren Passagen. „Lautstarke Anti-Putin-Reden deutscher Politiker machen den Mangel an tatsächlicher militärischer Unterstützung nicht wett. Sie wirken rein dekorativ. ‚Wir sind im Geiste bei euch. Wir wissen, dass ihr Recht habt, aber wir müssen an uns selbst denken und wir wollen es uns mit Russland nicht verscherzen.‘ Deutschland hat offensichtlich an sich selbst gedacht.“

Hinter den von deutschen Intellektuellen veröffentlichen offenen Briefen gegen eine Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine, vermuteten viele ukrainische Intellektuelle prorussische Netzwerke und einen Zusammenhang mit zeitgleich erschienenen offenen Briefen russischer Intellektueller in Russland zur Unterstützung der „Spezialoperation“, berichtet Kurkow.

Was tun mit der russischen Sprache?

Das große Thema des Buchs ist die ukrainisch-russische Verflechtungs- und Beziehungsgeschichte, deren tiefen, historischen Bruch Kurkow selbst durchlebt: „Ich habe mich schon viele Mal für meine russische Herkunft geschämt, für die Tatsache, dass meine Muttersprache Russisch ist. Ich habe mir verschiedene Formeln überlegt, um zu belegen, dass die Sprache nicht Schuld ist. Dass Putin die russische Sprache nicht gehört. Dass viele Verteidiger der Ukraine russischsprachig sind. Und dass viele zivile Opfer im Süden und Osten russischsprachige Ukrainer und ethnische Russen sind. Aber jetzt will ich einfach nur noch meinen Mund halten“, schreibt er am 13. März.

Bereits vor dem Krieg hatte Kurkow vorgeschlagen, eine eigene ukrainische Variante des Russischen zu schaffen, damit die Russophonen in der Ukraine sich von Moskau distanzieren können, ohne ihre sprachliche Identität aufzugeben. Sein Vorschlag wurde allerdings von ukrainischen Sprachwissenschaftlern verworfen.

Kurkow prophezeit dem Russischen in der zukünftigen Ukraine einen „herabgewürdigten“ Status. Aber er stellt auch fest: „Die Ukraine ist voller russischsprachiger ukrainischer Nationalisten“ wie er.

Sein gegenwärtiges Verhältnis zu Russland fasst er emotional zusammen: „Die Ukrainer haben nur allzu deutlich erkannt, was da vor sich geht. Dieser Horror geht uns durch Mark und Bein … Alles Russische weckt nur jetzt nur noch Hass in ihnen. Ja, auch ich bin von Hass erfüllt.“ Er interessiert sich nicht mehr „für die gesamte russische Kultur heutzutage. Ich weiß schon, wer im heutigen Russland wo steht, aber ich lasse mich auf keine Debatte zu diesem Thema ein. Meine Zeit ist mir jetzt zu wertvoll, als dass ich sie mit solch unbedeutenden Angelegenheiten verschwende.“

Kürzlich hat er im NZZ-Magazin bekannt gegeben, solange der Krieg anhält, keinerlei Bücher mehr auf Russisch zu veröffentlichen. Daher wurde das „Tagebuch einer Invasion“ von ihm auf Englisch verfasst.

In seinem Buch legt Kurkow subjektiv und ergreifend die Auswirkungen und den weiteren Kontext des Kriegs dar. Sich selbst definiert er als Citoyen einer demokratischen ukrainischen Nation, die alle Ethnien und Religionen umfasst. Das Buch ist ein beeindruckendes Zeugnis des uneingeschränkten ukrainischen Widerstandswillens und der Zukunftsvision einer freien, rechtsstaatlichen Ukraine.

Dafür wurde es 2022 mit dem Geschwister-Scholl-Preis der Stadt München ausgezeichnet. Gewidmet hat Kurkow das Buch den Verteidigern seiner Vision, den „Soldatinnen und Soldaten der ukrainischen Armee“.

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