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Etwas tun gegen Unruhe und Angst

Published On: 23. Januar 2023 17:43

Als ich von Moskau wegfuhr, wurden alle Flüge gecancelt. Ich war in Panik, im Stress, ich verlor innerhalb von einer Woche zehn Kilogramm. Eine Freundin aus Tallinn hatte mir geschrieben, ich solle zu ihr kommen, auf dem Landweg. Ich hatte ein Schengenvisum, das hatte ich noch vor all dem machen lassen. Ich war noch nie auf dem Landweg von Petersburg über die Grenze nach Narwa gefahren. Ich nahm ein Taxi, fuhr bis zur Grenzstadt, ging über die Grenze, stieg in einen Zug und fuhr nach Tallinn. Von da aus bin ich zwei Wochen später nach Berlin geflogen.

In Moskau war ich Leiter eines Teams für Informationsdesign bei einer internationalen Firma. Als der Krieg angefangen hatte, beschloss ich, wegzugehen. Ich schrieb allen Bekannten, die ich entweder in Berlin, in Rom oder in Paris hatte, und fragte: Kann ich zu euch kommen und bei euch eine Weile wohnen?“ Ein Bekannter in Berlin sagte: „Ich habe ein Zimmer frei, komm her.“

Bomben auf die Ukraine: Jetzt reichte es

Ich bin halb Ukrainer. Meine Mutter kommt aus der Ukraine. Die Ukraine ist nicht so weit weg für mich, sie ist mir ziemlich vertraut. Ich habe dort meine ganze Kindheit verbracht.

Ich verstehe sehr gut die Geschichte mit der Krim. Aber die Krim wurde, so oder so, friedlich übernommen, ohne größere Erschütterungen für die Menschen, die da leben. Ich verstehe, warum die Menschen Parolen unterstützen wie „die Krim ist russisch und sie muss wieder zurück nach Russland“. Ich unterstütze das nicht, aber ich verstehe es.

Aber als sie dann anfingen, die Ukraine unmittelbar zu bombardieren, als dieses Morden losging und diese Besetzung fremden Territoriums, das wusste ich, das geht zu weit. Das klingt sehr unglaubwürdig, schließlich gab es davor schon Georgien, die Krim und vieles mehr. Aber für mich war das eben genau der Moment zu sagen: „Halt, stopp, es reicht, jetzt will ich mir keine Rechtfertigungen mehr ausdenken, warum ich damit leben kann, obwohl ich weiß, dass es falsch ist.“

Keine Rechtfertigungen mehr

Ich bin es leid, mir Rechtfertigungen dafür auszudenken, dass ich in Russland bleibe, warum ich immer noch ein Teil der RF bin, zur schweigenden Mehrheit gehöre. Die einerseits nicht gefragt wird, aber andererseits: „Wenn ihr schweigt, heißt das, ihr seid dafür.“ Und weil ich nicht zur Wahl gehen kann, nicht zu Meetings gehen kann, auch in keiner anderen Form meinen Protest ausdrücken kann gegen das, was gerade geschieht, bringe ich meinen Protest dadurch zum Ausdruck, dass ich weggehe und wenigstens mein Geld nicht mehr in diese Wirtschaft stecke.

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Andererseits war meine Position utilitaristisch und rein egoistisch. Wir hatten ein sehr seltsames autoritäres, aber stabiles politisches Regime. Am 24. Februar hat sich die Situation radikal qualitativ verändert. Meine Logik ist so: Putin will für immer Präsident bleiben, er will seinen Sessel nicht abgeben, und er wird nicht gehen, solange er lebt.

Putin: Präsident für die Ewigkeit?

In Russland war es schon immer so, sobald es Probleme mit der Wirtschaft und mit den Menschen im Land gab, wurden diese Probleme durch einen Vorstoß nach außen gelöst. Das heißt, die inneren Probleme wurden gegen äußere getauscht. Die Wirtschaftskrise 2008 – wir beginnen einen Krieg mit Georgien. Die Unruhen 2011 bis 2013 – wir kassieren 2014 die Krim ein. Das ist die Lösung der inneren Probleme auf Kosten eines „kleinen siegreichen Kriegs“ außen.

Der Krieg mit der Ukraine hat gezeigt, dass Putin Präsident für die Ewigkeit sein will. Sollte eine Präsidentenwahl stattfinden, dann gäbe es erstens keine Alternative, und zweitens wäre Kriegszustand, und da kann man die Wahl auch aussetzen.

Bisher gab es in Russland einen Gesellschaftsvertrag, das heißt, irgendwelche Menschen äußerten sich, und der Staat reagiert auf irgendeine Art auf diese Äußerungen. Am 24. Februar wurde offensichtlich, dass er niemanden mehr fragt.

Menschen sterben? Ist Putin schnuppe

In London sind Hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen, in Berlin gab es eine gigantische Demonstration. Sogar in Moskau und Petersburg gingen die Menschen auf die Straße. Ein Bekannte von mir wurde auf einer Demonstration in Petersburg verprügelt. Das hat keinerlei Bedeutung. Putin sagt halt: „Leute, macht doch was ihr wollt. Wenn zwei Menschen auf die Straße gehen, werden sie verhaftet. Kommen zwei Millionen, werden sie mit Panzern zur Ruhe gebracht. Aber mich interessiert eure Meinung nicht mehr.“

Putin hat längst alles. Es ist ihm völlig schnuppe, dass 70 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt. Er hat in seinem Bunker genug zu essen, es geht ihm blendend, er hat eine schick gekleidete Geliebte. Was gehen ihn die anderen Leute an, wenn sie ihn früher schon nichts angingen? Sanktionen? Sind ihm schnuppe. Menschen sterben? Ist ihm doch schnuppe. Ihn interessiert nur eins: Er will Präsident bleiben.

Alles wird schlechter – und Putin bleibt

Russland wird immer weiter absteigen, in wirtschaftlicher, sozialer und politischer Hinsicht. Es wird alles immer schlechter. Wir landen wieder in den 90er-Jahren, als die Banditen sich die Geschäftswelt unter den Nagel gerissen haben, sofern es überhaupt noch eine Geschäftswelt gibt. Und die Hälfte dieser Banditen werden Silowiki sein. Das ist die Rückkehr in die späte Sowjetunion der 1988- bis 89er-Jahre. Ich habe das noch erlebt, ich erinnere mich gut daran.

Angenommen, Putin führt Krieg, solange er lebt. Er ist ja noch nicht alt. Und die heutige Medizin ist hervorragend. Er kann locker noch mindestens zehn, fünfzehn Jahre leben. Vielleicht ist meine Prognose falsch, aber stellen wir uns mal vor, Putin bleibt uns in den kommenden 10 bis 15 Jahren erhalten. Wo ist das Drehbuch für diese Zeit? Meinetwegen sogar ein Science-Fiction-Drehbuch?

Als pessimistischer Mensch stelle mir das Schlimmste vor. Putin bleibt. Der Krieg geht zehn Jahre weiter, weil es ihm einfach so in den Kram passt, ihm ist es egal, der Prozess an sich macht ihm Spaß. Solange die Mobilmachung läuft, wird er Präsident bleiben. Es wird keine Palastrevolution geben, weil die Leute mit liberalen Ansichten einfach nicht rangelassen werden, sie sind ja längst alle „Verbrecher“.

Weggehen oder warten?

Ich bin jetzt 40 Jahre alt. Jetzt stellen wir uns mal vor, ich bliebe diese zehn Jahre in Moskau. Wenn nach Putin nicht der nächste kommt, dann fangen wir in zehn Jahren an, ein großartiges Russland der Zukunft aufzubauen. Das heißt, wenn ich anfangen kann, anständig zu leben, bin ich 60, 70 Jahre alt. Aber vielleicht werde ich gar nicht so alt, denn die russische Medizin und die Qualität der Lebensmittel wird immer schlechter.

Oder ich werde in dieser Zeit zur Armee eingezogen. Obwohl ich nicht dienstverpflichtet bin. In Moskau habe ich nicht an meiner Meldeadresse gewohnt, ich war unsichtbar für jeden. Hätten sie mich zur Armee einziehen wollen, dann hätten sie mir den Einberufungsbescheid nur in der U-Bahn übergeben können.

Ich hatte also die Wahl, entweder darauf zu warten, bis Putin stirbt, oder wegzugehen, nach Berlin, Paris oder wenigstens nach Tiflis, und da wieder ganz von vorn anzufangen. Nach zehn Jahren werde ich mir ein paar soziale Kontakte aufgebaut haben, etwas Kapital angesammelt, und dann kann ich irgendwas machen.

Kleinstadt? Das reichte mir nicht

Ich bin in Krasnokamensk geboren. Diese Stadt wurde in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts gegründet. Es ist eine sogenannte Monostadt, die um einen einzigen Betrieb zur Urangewinnung herum gebaut wurde. Es ist der einzige Ort in Russland, wo man Uranerz gewinnt. Menschen aus der ganzen Sowjetunion kamen dorthin. Auch meine Mutter und ihr erster Mann.

Alle diese Menschen haben eine Hochschulausbildung. Das ist die technische Intelligenz der Sowjetunion. Die Stadt besteht zu 90 Prozent aus solchen Leuten. Das war die Kulturhauptstadt der Transbaikal-Region. Mein Vater war einer von denen, die dorthin verbannt wurden.

Ich bin in Krasnokamensk geboren, habe in Tschita studiert, bin dann nach Nischni Nowgorod umgezogen und habe dort sechs Jahre gelebt. Weitere fünf Jahre in Jekaterinburg. Anschließend bin ich nach Moskau gezogen, dort war ich fünf Jahre.

Ich bin in einer kleinen Stadt geboren, in der es nichts gab. Dabei hatten wir eine vollkommen irre Bibliothek. Mama hat immerzu Bücher gekauft und permanent gelesen.

Heute publiziert man Fotos aus sowjetischer Zeit, wo ein Teppich an der Wand hängt, daneben eine Vitrine mit Kristallgläsern. Sowas hatten wir bei uns zu Hause auch. Der Teppich war da, weil es kalt war, er wärmt. Die Vitrinen waren in drei Reihen mit Büchern vollgestopft. Aber mir hat das nicht gereicht. Ich bin aus Krasnokamensk weggegangen, weil ich ein anderes kulturelles Leben wollte, intensiver, mehr Zugang zu Literatur, zum Film und zu Museen.

Hund, T-shirts, Unterhosen, Bücher

Mein erster Umzug fiel mir sehr schwer. Er war für mich ein großes psychologisches Problem. Aber wenn man das einmal gemacht hat und versteht, wie es funktioniert, hat man kein Problem mehr damit.

Meine Sachen packen und von Moskau nach Berlin umziehen, das war schon kein Problem mehr für mich. Ich nahm meinen Hund, packte ein paar T-Shirts, Unterhosen und Bücher ein und fuhr ab.

Ich habe einen Bekannten, der 2014 nach Berlin gegangen ist. Er sagt: „Ich kann die Russen nicht leiden, die hierherkommen. Sie jammern und klagen die ganze Zeit“. Eigentlich verständlich, die Menschen befinden sich in einer Stresssituation. Vielleicht ist das ja eine Art psychologische Schutzreaktion. Das dachte ich früher.

Aber jetzt spreche ich mit vielen, die aus Moskau hergekommen sind, und ich begegne exakt den gleichen Sachen, die es in Moskau gab. Da sucht zum Beispiel jemand eine Wohnung. Man bietet ihm eine gute Wohnung für einen guten Preis an. Er aber sagt: „Nein, das mache ich nicht, das ist ja nicht im Zentrum, in Moskau hatte ich eine Mietwohnung im Zentrum.“ Oder man muss in den Laden gehen, Essen einkaufen, und die Leute sagen: „Warum ist der Lieferservice in Berlin so schlecht?“

Man muss lernen, wie die Dinge funktionieren

Es stimmt, Moskau hat westeuropäischen Städte in vieler Hinsicht vieles voraus. Was den öffentlichen Nahverkehr, den Lieferservice, das Mobilbanking und die Verfügbarkeit angeht, ist es wirklich bequem. Die Lebensmittel da sind schlecht, aber der Lieferservice ist großartig. Selbst wenn du an der letzten U-Bahnstation wohnst, findest du noch einen japanischen Sprachkurs.

Wenn die Moskauer jetzt versuchen, ihre Lebensweise von dort auf Berlin zu übertragen, dann sind sie verärgert. Aber das ist nun mal eine andere Stadt mit anderen Regeln. Man darf nicht herkommen und sagen: „Mir gefällt es hier nicht, los, wir bauen uns hier Moskau auf.“ Das funktioniert nicht.

Man muss herkommen, lernen, wie die Stadt funktioniert, und sich in den Lauf der Dinge einfügen. Denn eine Stadt richtet sich nach niemandem. Da wohnen Menschen, es geht ihnen gut, sie haben sich daran gewöhnt. Ja, man kann Vorschläge machen, neue Sachen einführen, aber nicht rumsitzen und jammern: „Ach, wie gut ging es mir in Moskau.“

Etwas tun gegen Unruhe und Angst

Krasnokamensk ist eine Stadt, in der Uran gefördert wird, weshalb es da den größten Prozentsatz an Krebserkrankungen in Russland gibt. Als ich sechzehn war, starb mein Vater an Blutkrebs. Als ich 24 war, starb meine Mutter. Wenn meine Mutter noch lebte, wäre ich nicht weggegangen. Sie wäre jetzt etwa 70, und sie wäre nicht mitgekommen. Aber von allen Verwandten ist mir nur noch der Hund geblieben.

Ich bin ein wenig ein Workaholic. Ich habe Online-Projekte. Außerdem mache ich jetzt für eine Galerie in Berlin ohne Bezahlung das Design. Ich habe voll zu tun, weil ich mir selber Aufgaben schaffe. Sobald man anhält und anfängt nachzudenken, fällt man sofort in einen absolut grausigen Zustand.

Der Krieg ist nicht zuende. Ich weiß nicht was morgen ist. Vor einiger Zeit sprach man von einem Atomschlag. Und ich bin Pessimist. Jetzt spricht man nicht mehr davon, deshalb fange ich an, mir Sorgen zu machen. Alle Prognosen sind zur Zeit sinnlos. Aber die Unruhe und die Angst paralysieren einen, und dagegen muss man etwas tun.

Damit man nicht in einen nervösen Zustand fällt, muss man arbeiten. Ich arbeite seit fünf oder sechs Wochen ohne Pause, weil ich mir sehr viel aufgeladen habe. Aber das ist für mich normal. Ich denke nicht an den Krieg.

In 15 Jahren möchte ich Deutsch beherrschen. Ich möchte einen guten Job haben. Ich möchte auf eigenen Beinen stehen und ein Stabilitätsniveau erreicht haben, wie ich es in Moskau hatte. Das ist ein großer Plan. Um ihn zu verwirklichen, muss man ihn in kleine Schritte zerlegen.

Ich habe zwei Möglichkeiten: Entweder kommen sehr viele Russen nach Berlin, und sie brauchen jemanden wie mich, der ihre Sprache spricht, und ich werde mich in dieses System integrieren. Oder, das ist die langsamere Variante, ich werde mich in das gesamte System integrieren. Oder es kommt irgendwas dazwischen.

Mit Denis Epifanzew sprach Tatiana Firsova am 11.11.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine, Russland und Belarus zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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