„wir-singen-von-der-freiheit“

„Wir singen von der Freiheit“

Published On: 23. Januar 2023 17:40

Vassel: Wir kamen am 11. Oktober nach Berlin. Wir sind Musiker, wir singen auf Englisch von der Freiheit. Wir haben immer in Belarus gelebt und gearbeitet. Gelegentlich haben wir auch in Russland gespielt.

Ich habe drei Klassen in der Musikschule gemacht. Dann habe ich ein paar Jahre bei verschiedenen Firmen gearbeitet, im Marketing. Ich habe einen Universitätsabschluss im Fach „Information und Kommunikation“.

Rooby: Ich bin seit meiner Kindheit Musiker. Das erste, was ich gemacht habe, als mir die Lehrerin die Noten brachte, die ich lernen sollte, ich sah mir diese Noten an, dachte mir meine eigene Umsetzung aus, ging zu ihr, habe ihr das vorgespielt, und sie hat es aufgenommen. Ich mache seit meinem fünften Lebensjahr Musik, und nie was anderes gemacht. Ich habe keine höhere Musikausbildung, die mittlere habe ich fast abgeschlossen. Ich war kein sehr guter Schüler. Ich hatte die klassische Schulbildung, in der Schule, die sich direkt gegenüber dem Haupt-„Schallrohr“ der Propaganda befindet. Dann war ich an der Musikschule Glinka, dort gab es eine Abteilung für Unterhaltungsmusik, eine Jazz-Ausbildung. Danach fing ich an, Arrangements zu machen.

Vassel: Mit 16 habe ich selber meine erste Platte eingespielt und aufgenommen. Ich schrieb meine Texte nur auf Englisch, weil meine Eltern Sprachen unterrichteten, meine Mutter Französisch, mein Vater Englisch. Deshalb habe ich nur englische Musik gehört und nur englische Texte geschrieben.

Rooby: Das haben wir gemeinsam. Wir hörten fast keine russische Musik.

Vassel: Mit 17 und mit 20 habe ich noch zwei Platten aufgenommen. Dann habe ich mich verliebt und musste arbeiten, von irgendwas leben. Es war ja klar, wenn man Musik in englischer Sprache macht, vor allem in Belarus, dann kann man damit kein Geld verdienen.

Rooby und ich haben uns vor zehn Jahren kennengelernt, 2016 haben wir angefangen, zusammen Musik zu machen. Die Musik, die wir jetzt machen, machen wir seit etwa vier Jahren. Aufgetreten sind wir von 2019 an, und dann war für zwei Jahre „Corona“.

Erst gute, dann schlechte Karten beim Radio

Rooby: Das Radio in Belarus sponsert uns massiv. Es gilt die Regel, dass im Radio zu 75 Prozent belarussische Musik laufen muss. Unser Format passt ihnen gut ins Konzept, wir singen Englisch, und das ist für den Radiosender sehr günstig, weil die Hörer uns als internationale Band wahrnehmen, was den Sound angeht.

Vassel: Die letzten Jahre waren ziemlich schwierig in Belarus. Es gibt da keinen Musikmarkt, nicht für uns, weil wir auf Englisch singen. Die im postsowjetischen Raum populäre Musik, ist auf Russisch. Das ist eine ganz spezifische Musik, das hängt mit der Denkweise und der Mentalität zusammen. Wir waren unser ganzes Leben mit den Menschen aus Belarus, aus der Ukraine und aus Russland zusammen, haben mit ihnen kommuniziert, wir fühlen und verstehen, was da geschieht. Aber uns gefällt eben Musik, die im Kontext der Weltkultur steht, und so eine Musik machen wir. Wir sind mit Blues, Jazz und Soul aufgewachsen. Das ist die Musik der Farbigen.

Belarus: Gefährlich für Wehrdienstfähige

Rooby: Außerdem haben uns die Ereignisse sehr stark beeinflusst. Wir denken, es ist gefährlich für Leute im wehrdienstfähigen Alter, sich in diesem Land aufzuhalten. Es könnte zu einer weiteren „fröhlichen“ Mobilmachung kommen. Das ist schon im Gang. Sie kommen zu denen, die irgendwann bei der Armee waren, finden sie, damit sie sie später schneller einkassieren können. Das ist eine verkappte Mobilmachung. Das ist jetzt gerade im Gang. Wohin das führt, das wollen wir nicht abwarten.

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Vassel: Es gab eine Menge Brutalität. Auch schon früher, 2020. Das betraf unsere Freunde. Wenn wir im Gefängnis landen oder physisch verunstaltet werden, wenn man uns den Kopf abreißt, dann können wir keine Musik mehr machen. Wenn man mir die Hände abreißt, kann ich mein Keyboard nicht mehr spielen.

Die Menschen haben uns vertraut

Vassel: Wir haben nie in einer Konsumgesellschaft gelebt, und das hat uns widerstandsfähiger und anspruchsloser gemacht gegenüber allem, was passiert, gegenüber dem, was die Leute sagen. Aus den Gesprächen mit Menschen ersehen wir, dass die Leute uns zuhören und uns vertrauen, weil wir in einer anderen Welt gelebt haben. Dabei sprechen wir die gleiche Sprache wie sie. Die Menschen spüren unsere Message. Egal ob privat oder auf der Bühne, wir sprechen immer: über die Beziehungen zwischen den Menschen, darüber, dass die Menschen einander nicht zuhören und sich deshalb auch nicht verstehen. Und dieses Unverständnis führt zu Konflikten und Aggressionen, immer und überall. Genau das passiert gerade zwischen Russland und der Ukraine, das passierte gerade im Iran.

Das innere Gefühl für Freiheit

Rooby: Was wir sehen, sind die direkten Konflikte. Und das, was sie auslöst, passiert jetzt. Wenn zum Beispiel jemand irgendwelche Güter der „westlichen Zivilisation“ nutzt und dabei das russische Regime unterstützt. Das unterstützt ein Regime, das überhaupt nicht existieren dürfte.

Vassel: Wenn du in einer totalitären Realität lebst, wird dein inneres Gefühl für Freiheit und Gerechtigkeit sehr sensibilisiert. Dort gibt es überhaupt keine Gerechtigkeit. Du siehst die Mitarbeiter der Rechtsschutzorgane, die zu dritt durch die Straßen laufen, als bewahrten sie die Ordnung. Aber von wegen. Wir möchten, dass die Menschen bewusster werden. Wenn die Menschen in Europa bewusster wären, dann würden die Führungen der Länder schneller und effektiver agieren.

Freiheit ist, wenn du machst, was du willst

Vassel: 2020 hat uns sehr stark beeinflusst. Am 9. August sind wir morgens zum Wählen gegangen. Am 10. fuhren wir zu mir aufs Land, ein paar Lieder aufnehmen. Damals hatten sie bei uns das Internet abgeschaltet. Man wusste nicht, was man machen sollte. Du steckst sowieso mittendrin, und in dir dreht sich und wendet sich alles. Und wenn du dann siehst, dass da Krieg ist…

Unsre Themen sind die Freiheit und die Beseitigung von Vorurteilen. Freiheit ist, wenn du das machst, was du machen willst, wenn du gehst, mit wem du willst, und dir passiert deshalb nichts. Du wirst nicht geschlagen oder umgebracht oder ins Gefängnis geworfen. Sofern du nicht andere Menschen beleidigst und ihnen keinen Schaden zufügst. Genau das ist Freiheit. Leider ist das in vielen Ländern noch unmöglich.

Von Minsk sind wir nach Polen gefahren, dann nach Italien, dort sind wir vier Tage geblieben. Wir hatten ein Treffen mit unserem Label. Leider verstehen die gar nichts. Wir bringen ehrlich unsere Message, aber sie interessieren sich nur für die Zahl der Streamings. Dabei wissen sie nicht einmal, woher diese Streamings kommen, und warum die Leute diese oder jene Musik hören. Aber wir suchen Menschen, die unsere Message teilen und uns helfen können, sie zu verwirklichen.

Interessante Erfahrungen mit Belarussen in Berlin

Rooby: Für uns ist es nicht zwingend, in Berlin zu sein. Aber zurück nach Belarus wollen wir auch nicht. Fürs Erste sind wir offen, wir können überall sein, wo wir auftreten können. Wenn jemand eine Tournee durch Amerika für uns organisiert, dann fahren wir nach Amerika.

Wir haben interessante Erfahrungen gemacht mit den Menschen aus Belarus, die lange in Berlin leben. Die Diaspora, das sind Menschen, die normalerweise verstehen, was passiert. Ihre Aufgabe ist es, den Leuten zu helfen, die das Land verlassen haben. Ihnen so zu helfen, wie sie es brauchen, nicht so, wie sie meinen, dass man ihnen helfen muss.

Wenn wir, zum Beispiel, hier Unterstützung bekommen wollen, müssen wir auf Belarussisch singen, nicht auf Englisch. Aber dann versteht uns kein Mensch auf der Welt, das interessiert keinen, die Menschen hören die Ideen nicht, die wir ihnen vermitteln wollen. Das ist eine sehr beschränkte Vorstellung von Hilfe, leider.

Die bekanntesten internationalen Musiker sind alles Briten. Es gibt noch ein paar Amerikaner, ein paar Bands aus Deutschland. Aber dass zwei Typen aus einem postsowjetischen Land mit einem tollen Akzent, mit so einer Musik, es fertigbringen, dass die Amerikaner fragen: „He, wer macht eure Production?“ So was gibt es nicht. Unsere ganze Truppe, das sind nur wir, zwei Typen.

Vassel: In Berlin gibt es einen Musiker aus Detroit, der singt auf seinen Konzerten unsere Lieder. Ihm gefällt einfach unsere Musik.

Rooby: Und wenn wir jetzt auf Belarussisch singen, dann wird keiner diese Ideen verstehen. Aber die Typen, die in den Stiftungen das Geld verteilen, die freuen sich. Weil alle Wyschywankas anhaben und belarussisch sprechen. Aber damit ändert sich nichts in der Welt. Dabei muss die Welt sich verändern. Das bringt uns zusammen, das macht es möglich, Menschen zu integrieren, die ihre Identität und Vereinzelung hinter sich lassen und sich mit den anderen vereinen wollen.

Vassel: Kein Land kann heute für sich existieren. Die Welt ist ein einziger Organismus. Das ist eine Gegebenheit.

Viele wissen nur in groben Zügen, was jetzt in Belarus oder in der Ukraine auf dem Maidan passiert oder was mit Nawalny war. Als wir in Berlin aufgetreten sind, kamen ein paar Deutsche zu uns und fragten, wo denn Belarus überhaupt liegt. Sogar so etwas gibt es.

Deshalb wollen wir davon erzählen, damit die Menschen mehr verstehen. Wenn die Menschen mehr verstehen, gibt es weniger Aggressionen, weniger Konflikte. Dann müssen nicht so viele Menschen sterben. Sie werden mehr zusammenarbeiten und sich austauschen. Die Menschen werden besser leben. Die Welt wird nicht ideal sein, aber ruhiger.

Rooby: Wir wollen, dass die Menschen einander zuhören.

Vassel: Die Menschen trauen den Medien nicht, sie trauen normalen Menschen, die das lieben, was sie machen. Deshalb hören sie uns zu.

Mit Vassel&Rooby sprach Tatiana Firsova am 18.11.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine, Russland und Belarus zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

Categories: AllgemeinTags: , Daily Views: 1Total Views: 13