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„Was hat die Ukraine Putin Böses getan?“

Published On: 2. Februar 2023 10:04

Ich wurde während des Kriegs in der Stadt Akmolinsk geboren. Jetzt ist das Astana. Meine Mutter war dorthin evakuiert worden, mein Vater war an der Front. Mein Vater war Oberst, er hat den ganzen Krieg mitgemacht, seine Brust war voller Orden. Dort lebte ich bis Anfang 1944.

Dann wurde mein Vater verletzt und in ein Hospital in Nowosibirsk gebracht. Meine Mutter und ich gingen auch nach Nowosibirsk. Ich weiß noch, wir wohnten in einem grünen Haus in der Uritsky-Straße 35. Gegenüber war das Theater „Rote Fackel“. Von klein auf brachte man mir bei, die Adresse, wo ich wohne, auswendig zu lernen. Wenn jemand mich fragte, wie ich heiße, dann sagte ich sehr lange immer „Kisimka“. Das heißt auf Kasachisch „Mädchen“. Alle sprachen mich so an, und ich dachte, ich heiße so.

Ende 1947 wurde mein Vater nach Stalingrad verlegt. Dort wohnten wir in einem beheizbaren Güterwagen. Das war ein ganz gewöhnlicher Güterwaggon mit einem Kanonenofen in der Mitte. In diesem Waggon wohnte nur unsere Familie. Nach dem Hospital konnte mein Vater nicht wieder an die Front, aber er blieb in der Armee. Bei uns wohnten auch die Eltern meiner Mutter. Mein Großvater war in Charkiw Leiter des zentralen Werkslabors gewesen. Als das Traktorenwerk evakuiert wurde, wanderte das ganze Werk nach Rubzowsk am Altai. Dort gab es dann irgendeine Explosion, mein Großvater erblindete, und meine Eltern holten ihn und meine Großmutter zu uns.

Als wir nach Stalingrad kamen, existierte die Stadt praktisch nicht mehr. Wir verbrachten den Winter in einem beheizbaren Güterwagen. Der Sackbahnhof stand voller Waggons, in denen Menschen wohnten. Die Stadt musste wieder aufgebaut, die Produktion wieder angekurbelt werden. Ingenieure, Ärzte, Bauarbeiter kamen nach Stalingrad.

Milch und vermintes Spielzeug von den Deutschen

Es gab sehr viele deutsche Kriegsgefangene. Sie wohnten in Lagern in der Stadt. Unter strengster Bewachung, mit Hunden, brachte man SS-Männer, die die Ruinen wegräumen mussten; sie bauten die Stadt auf. Es gab auch deutsche Wirtschaftsfunktionäre.

Dann bekamen wir eine Wohnung in einem Haus. Dort gab es auch ein eingezäuntes Lager für Kriegsgefangene. Dort wohnten auch Deutsche. Sie gaben uns Milch. Sie wurden vom Roten Kreuz versorgt.

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Uns Kindern war es verboten, zum Mamajew-Hügel zu gehen. Als die Deutschen abrückten, hatten sie dort viele schöne Spielzeuge hingeworfen. Aber alle diese Spielzeuge waren vermint. Sehr viele Kinder wurden durch die explodierenden Minen getötet, wenn sie diese Puppen und Autos in die Hände nahmen.

1949 selten: Wohnungen mit fließendem Wasser

1949 ging ich in die erste Klasse. Wir hatten schon eine Wohnung. Sogar mit Wasser. Das war eine Seltenheit, dass es in einem Haus einen Wasserhahn gab, aus dem kaltes Wasser herauskam. Mit dem Ofen heizten wir und kochten darauf. Nachts war es kalt, die Winter dort sind streng.

Zur Schule gingen wir über einen Pfad, richtige Straßen gab es nicht. Nebenan stand das Haus von Pawlow, das war ein Sergeant, der dieses Haus praktisch allein verteidigt hatte, gegen eine Gruppe von Deutschen, die dieses Haus einnehmen wollten, weil dort der Zugang zur Wolga war. Alle Kommandeure waren gefallen, nur der Sergeant war übriggeblieben, um den Zug zu führen. Ein Mädchen hatte auf der Straße eine Ziege eingefangen, und mit dieser Ziege hat sie Pawlow und seine Leute ernährt.

Eines Tages kommen wir von der Schule diesen Pfad entlang, und da steht: „Vorsicht, Minensucher an der Arbeit“. Sie haben das Haus entmint. Dann gab es nebenan noch eine Mühle, da war auch eine Mine. Jungs aus meiner Klasse wurden dort in die Luft gesprengt. Sehr viele Menschen sind damals ums Leben gekommen, Kinder und Erwachsene. Vieles war vermint.

So war das Leben nach dem Krieg. Danach hat man natürlich eine sehr schöne Stadt aufgebaut.

Leben in Charkiw – und im Labor

1956 starb mein Vater. Meine Mutter stammte aus Charkiw, und sie wollte unbedingt wieder dorthin zurück. 1961 tauschte meine Mutter unsere Wohnung in Stalingrad, das damals schon Wolgograd hieß, gegen eine Wohnung in Charkiw. Damals konnte man keine Wohnung kaufen, sondern nur tauschen. Meine Mutter fuhr also nach Charkiw.

Als ich dann 1964 die Uni abgeschlossen hatte, fuhr ich auch zu ihr. Ich wollte nicht weg aus Stalingrad. Ich liebe diese Stadt bis heute. Aber ich ließ mich an das Charkiwer Polytechnische Institut verlegen. Ich bin Chemikerin. Mein Spezialgebiet ist die organische Synthese. Ich habe mein ganzes Leben lang im Labor gearbeitet. Ich liebe meine Arbeit. Das war ein geschlossenes Institut, wir entwickelten Raketentreibstoff.

In Charkiw lernte ich zufällig meinen Mann kennen. Sehr zufällig. Ich hatte in Stalingrad einen jungen Mann, und ich dachte, ich gehe zu ihm zurück. Aber ich traf meinen künftigen Mann und habe ihn geheiratet. Er sagte zu mir: „So ein hübsches Mädchen, warum soll ich das einem anderen überlassen?“

Wir bekamen einen Sohn. Wir hatten eine wunderbare Familie. Mein Mann ist 1996 gestorben. Ich habe meinen Sohn zuende studieren lassen und bin in Charkiw geblieben.

Der 24. Februar: „Ich sah Gebäude einstürzen“

Als der Krieg begann, fuhren sie weg. Ich dachte, ich will ihnen nicht zur Last fallen, deshalb stand es überhaupt nicht zur Debatte, ob ich mit ihnen gehen würde.

Ich habe diesen Albtraum gesehen. Ich sah, wie die Gebäude einstürzten. Ich weiß noch, ich stand am Küchenfenster. Da sehe ich, wie so ein roter Pfeil geflogen kommt. Und aus. Das Haus gegenüber von meinem stürzte in sich zusammen. Und ich stehe da und kann mich nicht von der Stelle rühren. Keine Angst, nichts. Ich war einfach nur erstarrt. Die vordere Wand des Hauses sank langsam zu Boden. Da waren Menschen, einige starben, andere wurden verletzt. Dann kamen Wagen und holten die Toten ab.

Etwas später stürzte das Haus auf der anderen Seite von meinem ein. Das habe ich nicht gesehen, nur gehört. Auch dort flog eine rote Flamme hinein. Das war im März.

Mein Wohnviertel liegt im Zentrum von Charkiw. Sie haben schrecklich geballert. Nebenan war eine Schule. Dort waren unsere Soldaten. Das haben wir später erfahren. Diese Schule wurde auch zerbombt.

In Charkiw gab es ein Gebäude, das „Gosprom“. Das haben die Amerikanern 1920 gebaut. In diesem Gebäude befand sich die gesamte Verwaltung der städtischen Industrie. Das war ein historisches Denkmal, es hatte eine sehr interessante Architektur. Das wurde auch zerbombt.

Dann gab es dort den Bezirk Nord Saltivka. Der existiert jetzt schlicht nicht mehr. Die Leute sind jetzt auf der Straße, manche wohnen in Kellern. Aber es gibt dort überhaupt keine Häuser mehr.

Mein Haus steht noch, nur der Balkon ist abgefallen. Fast alle Leute sind weggegangen. Als ich noch in Charkiw war, war ich die einzige in meinem Treppenaufgang. Ich bin nicht sofort weggefahren, weil ich wusste, dass ich diese Züge nicht ertrage. Mein Sohn ist nach Lwiw gefahren, aber dort war für mich kein Platz.

Mit dem Auto nach Polen und Berlin

Ich verließ Charkiw am 22. November. Man hat den Umzug für mich organisiert, ein freiwilliger Helfer hat mich mit dem Auto abgeholt. Wir fuhren direkt bis nach Polen, ich bin durch den Zoll. Von dort aus wurde ich mit dem Auto bis nach Berlin gebracht. Ich habe nur einen Sportanzug mitgenommen, eine dunkle und eine helle Hose, zwei kurzärmlige Blusen, denn ich denke, ich werde wohl bis zum Sommer hierbleiben. Warme Kleidung habe ich keine dabei. Nur die Jacke, in der ich gefahren bin. Ich war ziemlich durcheinander, als ich packte.

Ich bin gewohnt, mich um alle zu kümmern, allen zu helfen. Ich bin es gewohnt, alles selbst zu machen. In meinem Institut gab es 20 junge Frauen, sie haben alle eine Wohnung bekommen. Ich habe für sie Kontrollarbeiten gemacht und sie von der Arbeit freigestellt, alles, nur damit sie ihr Studium abschließen konnten. Wir haben sehr kollegial zusammengearbeitet.

„Das heißt also: Russen bombardieren Russen“

Ja, als mein Mann noch lebte, hat er mir geholfen. Aber er wurde krank, und seine Krankheit dauerte zehn Jahre, habe ich ihm selbst die Spritzen gegeben, ich habe alles allein gemacht. Als ich ihm die letzte Spritze gab, merkte ich, dass es zu Ende geht.

Ich liebe die Menschen. Ich möchte allen helfen, wenn ich kann. Ich hätte nie geglaubt, dass Russland uns überfallen könnte. Wir hatten eine kommunistische Erziehung, wir liebten unsere Heimat. Wir sind ein Volk, wir haben dieselbe Tradition und denselben Glauben. Jetzt ist die russische Kirche in Charkiw geschlossen.

Ich hätte mir nie vorstellen können, dass so etwas möglich ist. Ich spreche russisch. Es geht mir nicht in den Kopf, dass die Russen gekommen sind, um uns zu bombardieren. Meine Nachbarn in Charkiw waren Russen. Das heißt also, Russen bombardieren Russen. Und dazu noch so brutal. In den okkupierten Gebieten machen sie schreckliche Sachen, sie vergewaltigen und quälen. Ich kann das nicht verstehen. Ich habe mit jemandem gesprochen, der gesehen hat, wie die Russen die Leute schikanierten und die Frauen drangsalierten.

Ich weiß nicht, was ich weiter machen soll. Ob ich wieder nach Hause gehe. Und wo mein Zuhause ist. Wie es aussieht, habe ich kein Zuhause mehr. Charkiw wird immer noch bombardiert. In Charkiw haben die Leute keine Fenster mehr in den Wohnungen. Sie dichten sie ab, womit sie nur können, weil es kalt ist. Wenn man eine Blume zieht und sie dann umpflanzt, wird sie für einige Zeit krank.

„Ich will meinen Alltag wiederhaben“

Ich will zurück zu meinen Büchern, zu meinen Sachen. Ich will meinen Alltag haben, an den ich gewohnt bin. Aber ich werde hier sein. Hier bin ich lebendig. Vielleicht lebe ich hier noch zwei, drei Jahre. Ich weiß nicht, wie ich mich in Berlin fühle. Aber ich bin dankbar, dass meine Kinder mich zu sich geholt haben. Ich befinde mich in einem Schwebezustand. Ich will niemandem zur Last fallen. Selbst wenn ich das in meinem Alter noch überlebe, wüsste ich nicht, wohin ich zurückgehen soll. Wenn Frieden wäre, würde ich in meine Wohnung zurückgehen.

An Krieg kann man sich nicht gewöhnen. Aber ich hatte in Charkiw keine Angst. Ich habe mir eingeredet, dass ich schon so viel erlebt habe. Und ich sage immer wieder, wenn es mir bestimmt ist, zu sterben, dann lieber rasch. Wenn eine Bombe auf das Haus fällt, dann lieber sofort sterben, und nicht invalid werden.

Eine Rakete: Mutter und ihr Kind starben

Ich weiß noch, ich ging einkaufen, und da kommt plötzlich eine Rakete geflogen. Da ging eine Frau mit einem Kinderwagen. Die Frau fiel tot zu Boden. Das Kind fiel aus dem Kinderwagen auf das Dach des Geschäftes und war tot. Ein Mann kam angelaufen, schubste mich in einen Torbogen und schützte mich mit seinem Körper vor der Explosion. Eine Woche lang lebte ich in einem Luftschutzkeller in der Metro.

Ich liebe Moskau, ich bin oft dort gewesen. Aber jetzt weiß ich nicht mehr, was ich liebe. Was hat die Ukraine Putin Böses getan? Wir hatten eine gemeinsame Produktion. Alle fuhren wie mit der Straßenbahn nach Moskau auf Dienstreise.

Mit Tatiana Voloshina sprach Tatiana Firsova am 27.12.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine, Russland und Belarus zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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