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Wie ich in der Armee zum Tier wurde

Published On: 2. Februar 2023 9:57

Ich habe Journalismus studiert, aber nicht in meinem Beruf gearbeitet. Ich bin in Moskau geboren und aufgewachsen. Es gab den Versuch, einen eigenen You-Tube-Kanal zu machen, irgendwas mit Medien anzufangen. Aber mein letzter Versuch endete während Covid. Damals habe ich ein Tourismus-Projekt gemacht.

In dieser Realität von 2019 bis 2020 hatte ich eine Idee: Wenn man die Europäer frei nach Russland einreisen ließe, würde das das Land mehr globalisieren. Die Menschen bei uns bekommen mehr Ausländer zu sehen, sie fangen an Sprachen zu lernen, weil sie damit Geld verdienen. Und dieses Geld ließe sich dann, anders als das Ölgeld, wie feiner Staub in den kleinen und mittleren lokalen Geschäftsunternehmen nieder.

Das wäre ein kräftiger Schub in die weite Welt, nicht nur für Moskau und Petersburg. Die Europäer würden, wenn sie die Möglichkeit hätten, visafrei nach Russland einzureisen, das Land mehr erkunden. Innerhalb von ein paar Jahren hätte man die Einkünfte um das Zwei- bis Dreifache steigern können.

Makroökonomie ist mein Hobby, ich habe mich immer dafür interessiert und kenne mich aus. Ich dachte, das ist eine patriotische, liberale und richtige Sache. Dem Staat kann man das als Instrument zur Wertsteigerung schmackhaft machen. Und man muss im Hinterkopf behalten, dass das eine gute Sache für das Land ist, und eine alternative Einkommensquelle neben dem Öl.

Ich wollte das publik machen und habe ein Interview zu dem Thema veröffentlicht. Ich schrieb ein 20-seitiges Programm für eine Reform der Tourismusbranche und habe das vielen großen Tieren gezeigt. Es begann ein Dialog. Aber dann riss das plötzlich ab. Das war 2020. Dann begann Covid.

Ich habe ein Abendstudium an der Universität für Druckkunst absolviert und bin schon in meinem ersten Studienjahr nebenher arbeiten gegangen. Ich richtete als Ingenieur Röntgengeräte ein, ich habe das alles vor Ort gelernt. Dann ging ich zur Armee, ich war von 2011 bis 2012 bei einer Fernmeldeeinheit. Das war wie ein Gefängnis.

„In der russischen Armee wird man gebrochen“

Die russische Armee ist eine Katastrophe.  Der russische Soldat unterscheidet sich vom Zivilisten dadurch, dass er statt normaler Kleidung eine Uniform trägt und dass er ständig müde und hungrig ist. Das ist alles. Und die ganze militärische Ausbildung besteht darin, dass man Kragen annäht, in Reih und Glied marschiert und den Vorgesetzten Meldung macht.

Mehr wissen unsere Leute nicht, sie können gar nichts. Sie haben null Motivation, egal bei welcher Waffengattung. In Russland existiert keine Armee. Diese Leute sind unfähig zu kämpfen.

Ich war in einer Eliteeinheit, einer Spezialeinheit. Innerhalb von drei Jahren habe ich insgesamt drei Platzpatronen abgeschossen. Man gab uns ein Sturmgewehr in die Hand, aber es gab keine Patronen. Es gab nicht einmal Nahkampf. Als ich zur Armee kam, konnte ich acht Klimmzüge, nach der Armee nur noch zwei. Man bekommt Probleme mit dem Schlaf, Probleme mit den Nerven. Man wird zum Tier. Sie brechen dich.

Der erste, auf den du in einem Gefecht schießen wirst, das ist dein Vorgesetzter. Das ganze System da basiert darauf, den Menschen zu brechen. Es fördert keine Initiative. Seine Aufgabe ist es, dich zu zerquetschen, damit du dich nicht traust, auch nur einen Pieps zu machen.

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Und alle haben vor irgend jemandem Angst. Es gibt diese Geschichte, dass man eine Wiese mit Farbe anstreicht, damit sie schön grün ist, das kommt genau von dieser tierischen Angst. Denn der Kommandant einer Einheit hat vor irgendeinem anderen Vorgesetzten Angst, der ein wenig über ihm steht. Das Gras ist wichtig. Das ist die generelle Haltung. Alles ist eine große Show. Sie haben sogar Angst davor, dass man sie nur ein bißchen schief ansieht, vor jeder kleinen Unzufriedenheit.

In Russland sind leider die Fehler der Kommunisten immer noch nicht behoben, der ganze Saustall, den die angerichtet haben. In der Armee des Zaren gab es das nicht. Dieses viehische Verhalten den Menschen gegenüber gab es da nicht. Der Staat, den die Bolschewiken aufgebaut haben, gründet auf einer viehischen Einstellung den Menschen gegenüber. In vielen Bereichen. Da und dort haben sie was verbessert, anderswo hat man alles so gelassen. Bei der Armee, im Gefängnis und auch in den Schulen ist es immer noch so.

„In der Armee gibt es noch ‚Lenin-Zimmer‘“

Ich erinnere mich an den Moment, als man mich in der Armee gebrochen hat, als die letzten Reste an Widerstandsgeist verloren gingen. Wir saßen abends zusammen, nähten Kragen an und schauten den „Ersten Kanal“. So sieht dort die Freizeit aus. Ein Sergeant kommt rein, die Sergeanten nahmen sie von der letzten Einberufung. Der Sergeant sagt: „Die Kompanie braucht einen Rasenmäher. Moskauer, mitkommen zur Besprechung ins ‚Lenin-Zimmer‘.“ In jeder Einheit gibt es ein ‚Lenin-Zimmer‘, das ist der Ort, wo man Bücher liest. Es heißt heute immer noch so, obwohl dort kein Lenin-Porträt mehr hängt.

Der Leutnant sagt: „Wenn ihr das Geld für den Rasenmäher zusammenbringt, bekommt ihr Ausgang.“ Es ging um etwa 3000 Rubel für jeden. Du bist zu allem bereit, um wenigstens für anderthalb Tage mal aus der Kaserne rauszukommen. Dann gingen wir spazieren und kamen zum Zapfenstreich zurück.

„Ich wurde zum Tier und hatte Angst zu denken“

Gewöhnlich stand neben meinem Bett ein Stuhl, auf dem ich meine Uniform ablegte. Das Schießen bringt man dir nicht bei, aber die Uniform zusammenlegen, das kannst du. An diesem Tag stand dort nicht mein Stuhl, sondern stattdessen irgendein anderer Stuhl. Ich versuche einzuschlafen. Jemand schreit die Nummer meines Stuhls. Mein Stuhl stand, wie sich herausstellte, draußen im Gang.

Ich ging ihn holen. Der Leutnant sieht mich und sagt: „Was, hast du deinen Stuhl verschlampt, Soldat? Abteilung antreten!“ Wir nahmen diesen Stuhl und fingen an, damit Sport zu machen. Zum Beispiel Füße auf den Stuhl legen und auf den Händen stehen. Wie lange kann man so stehen, sogar wenn man in guter körperlicher Verfassung ist?

Wir standen so anderthalb Stunden. Unter dir bildet sich eine Pfütze aus Schweiß, deine Beine fangen an zu zittern. Deine Kameraden, die in der gleichen Position stehen, haben sich nichts zuschulden kommen lassen. Und du kannst diesen Befehl nicht verweigern.

Wenn du rebellierst, riskierst du, dass sie dich in ein Strafbataillon stecken, und das ist schlimmer als jedes Gefängnis mit verschärften Haftbedingungen. Außerdem verlängern sie dir die Dauer deines Armeedienstes. Sieh dir im Internet an, was das bedeutet. Du bist zu allem bereit, du wirst alles ertragen, um nur nicht dahin zu kommen. Wir waren zu viert. Dann wurde wegen meines Stuhls die ganze Kompanie rausgescheucht, und wir machten bis drei Uhr früh Sport. Um halb sieben ist Aufstehen.

Dieser Blödsinn wiederholte sich mehrmals. Damit war mein Widerstand beendet. Ich wurde zu einem Tier. Ich hatte Angst, nur irgendwas zu denken.

„Besser wäre, sie würden einen verprügeln“

Alle machen so etwas durch. Das ist ein Massenphänomen. Vor dem Krieg gab es eine Geschichte in Krasnojarsk, da hat ein Typ in der Armee zehn Menschen erschossen. Das kann ich vollkommen verstehen. Da geht eine Riesenschweinerei ab. Man wird seelisch so fertiggemacht, dass es besser wäre, sie würden einen verprügeln.

Dann befand sich die Einheit in Einsatzbereitschaft/im Bereitschaftsdienst. Es gibt einen Wachdienst. In der ganzen Einheit gibt es nur zwei Wehrpflichtige, die diesen Posten einnehmen können. Das waren ich und meine Ablösung. Wir hatten Chiffriergeräte. Jederzeit musste jemand auf dem Posten sein.

Unser Dienstplan ging nach dem Muster 6-6-12. Zum Beispiel, am Montag stehe ich um sechs Uhr auf, Frühsport, Frühstück, Dienstantritt. Ich bleibe bis drei Uhr nachmittags auf Posten, dann löst er mich ab. Ich gehe in die Einheit, esse zu Mittag, schlafe zwei Stunden. Dann esse ich sofort zu Abend und gehe zur Nachtschicht. Er löst mich um neun Uhr morgens ab. Die Nacht mache ich durch, ohne zu essen. Man kommt von der Nachtschicht, frühstückt, hat zwei Stunden zum Schlafen. Man isst zu Mittag und geht wieder auf Posten. Danach schläft man die Nacht durch.

So machten wir es acht Monate lang. Ändern kann man nichts, weil jede Initiative sofort bestraft wird. Vielleicht gibt es ja irgendwo in Russland eine Einheit, wo nicht so ein Arschigkeit herrscht, aber mehr oder weniger ist es immer das gleiche.

Zweimal lag ich im Hospital. Meine Ablösung lebte in dieser Zeit praktisch auf dem Posten. Die Armee hat eigene Kommunikationskanäle, und auf diesem Posten war ein operativer Kommunikationskanal.

„Der Krieg kann jeden Moment vorbei sein.“

Aber ich denke, man hat dieses System so schnell aufgebaut, dass es auch jeden Moment wieder zusammenfallen kann. Das ist nicht nur bei der Armee so. Es muss einfach ein Signal von oben kommen, dass wir mit Menschen nicht mehr so umgehen. Aber bisher ist die Armee in Russland nur ein chaotischer Haufen von hungrigen kalten Menschen, die nichts können und schreckliche Angst voreinander haben. Wer kann mit sowas Krieg führen?

Ich habe eine Armee-Einheit in Holland gesehen. Das war etwa 2017. Die sind dort alle auf Draht. Um in guter physischer Verfassung zu sein, muss man gut essen, ausschlafen und motiviert sein, etwas zu tun.

Ich habe einen Freund, er ist Russe, hat aber sein ganzes Leben lang in Finnland gelebt. Er hat mir erzählt, wie es dort bei der Armee zugeht. Sie wurden da regelrecht gemästet. Man hat ihnen beigebracht, sich im Feld zu orientieren. Mir war sofort klar, warum die Finnen den sowjetisch-finnischen Krieg gewonnen haben. Der Krieg, der gerade stattfindet, kann jeden Moment zu Ende sein. Ja, keiner versteht, wo es sich erschöpft. Aber die Armee kann nicht endlos Krieg führen. Sie ist nicht dafür gebaut. Sie hat weder die Waffen noch die Ausbildung noch die Menschen dafür. Wir haben schon die Hälfte der Panzer verloren, 2000 von 4000. Die Raketen werden knapp. Sie haben für ihren Terror eine Menge Material verschwendet. Aber die ukrainische Armee steht, und sie haben unbegrenzten Nachschub an Waffen. Sie bekommen soviel sie brauchen.

Jetzt haben sie in Russland die Mobilisierten rekrutiert, man spricht sogar von einer zweiten Welle. Aber was willst du mit einer zweiten Welle, wenn die erste Welle noch nicht eingekleidet und ausreichend bewaffnet ist? Niemand wird ihnen irgendetwas in großen Mengen liefern. Ich denke, Putins Regime ist auf verlorenem Posten.

Der 24. Februar: „Ich war sicher, dass es keinen Krieg geben würde.“

Ich war sicher, dass es keinen Krieg geben würde. Dass sie einfach nur die Klappe aufreißen. Am 24. Februar bin ich um zwei Uhr nachmittags aufgewacht. Ich bin aufgewacht, schaue auf mein Telefon…

Ich bin tagelang nicht mehr aus dem Schockzustand rausgekommen, nachdem ich in diesen Informationstunnel gefallen war. Ich war außerstande, irgendetwas in den sozialen Netzwerken zu posten oder auch zu Protesten rauszugehen.

Anfang März bin ich zum ersten Mal auf den Manege-Platz gegangen. Er war völlig abgesperrt. Man erlaubte den Leuten nicht einmal, sich zufällig zu Gruppen zusammenzufinden. Alle wurden festgenommen. Ich sah mir das alles an, drehte ein paar Kreise. Ich dachte, es ist vollkommen sinnlos, irgendwas zu machen, ich habe Familie zu Hause, hier ist es sehr gefährlich.

Ich bin bereit, lebenslänglich ins Gefängnis zu gehen, wenn ich dafür die Gelegenheit bekäme, Putin den Hals umzudrehen. Aber dort hätte mich niemand gehört oder gesehen; es wäre ein ganz sinnloses Opfer, von dem keiner etwas hat.

„Ich hätte auf die Russen geschossen“

Am ersten Tag kam mein Einberufungsbefehl zu meiner Meldeadresse. Aber ich hatte keine Angst, dass ich zur Armee eingezogen werde. Ich wäre da nicht hingegangen. Ich hätte nicht auf die Ukrainer geschossen. Wenn sie mich doch irgendwie einkassiert hätten, dann hätte ich auf die Russen geschossen. Auf Faschisten zu schießen, muss einem nicht leidtun, sogar wenn sie die gleiche Nationalität haben wie du.

Außerdem ist es eine große Illusion, dass man aus der Armee leicht fliehen könnte. Am besten geht man gar nicht erst hin.

In Russland ist es jetzt gefährlicher geworden. Für alle. Deshalb haben wir beschlossen, wegzugehen. Nicht jeder hat die Möglichkeit wegzugehen, man darf das niemandem zum Vorwurf machen.  Viele gute Menschen sind dageblieben, die nicht für den Krieg sind, die aber Vieles in Russland festhält.  Sie werden bis zuletzt dortbleiben. Auch ich wollte bis zuletzt nicht weg.

Ich fuhr Anfang Mai mit meinem Auto über Narva, Tallinn und Vilnius nach Berlin. Ich hatte ein Touristenvisum. Ich fing sofort an, nach einer Unterkunft zu suchen, um meine Frau und die Kinder nachzuholen. Meine Familie kam Mitte Dezember, am letzten Tag, als die baltischen Länder beschlossen, die Grenzen zu schließen.

Einer der Gründe, warum ich wegging, war die Nachricht, die ich am dritten Mai erhalten hatte. Man schrieb mir, ich solle ausreisen. Meine Position war für einige Leute nicht akzeptabel. Zurück kann ich nicht, das ist zu gefährlich. Und wozu auch? Was kann man dort jetzt machen?

Was ich jetzt mache, darf ich dort nicht machen. Schweigen will ich nicht und werde ich nicht. Und damit handelt man sich mit Sicherheit Probleme ein.

Wir bleiben in Berlin. Die Kinder gehen schon zur Schule und in den Kindergarten. Ich kann mir nicht erlauben, meine Kinder nach der Berliner in eine russische Schule zu schicken. Meine Frau spricht deutsch. Ich spreche fließend Englisch und ein wenig deutsch.

Mit Vassili, der anonym bleiben will, sprach Tatiana Firsova am 28.11.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine, Russland und Belarus zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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