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John Cale: 50 Jahre „Paris 1919“

Published On: 4. Februar 2023 12:00

Cales bekanntestes und zugleich zugänglichstes Werk darf als Paradebeispiel für britischen Art-Pop der edelsten Sorte gelten und ist eine der schönsten und zugleich anspruchsvollsten Pop-Scheiben der 70er Jahre.

John Cale – nicht zu verwechseln mit J. J. Cale! – hatte Mitte der 60er Jahre mit Lou Reed die Avantgarderock-Legende The Velvet Underground gegründet, wo er sich insbesondere an Bass, Bratsche, Klavier und Orgel betätigte. 1968, nach zwei (verkaufsmäßig) gefloppten Schallplatten, verließ Cale die Band, um sich als Talentscout, Produzent und Solo-Künstler selbständig zu machen (vgl. dazu auch den Achgut-Beitrag über Jonathan Richman and the Modern Lovers).

In der Folgezeit schrieb er Songs für das erste Album der Ex-Velvets-Sängerin Nico namens „Chelsea Girl“ von 1967 und produzierte den mystisch-verwunschenen Nachfolger „The Marble Index“ sowie das selbstbetitelte Debüt der amerikanischen Proto-Punkband The Stooges um Frontmann Iggy „Stooge“ Pop, die beide 1969 erschienen sind. 1970 veröffentlichte Cale dann sein erstes eigenes Soloalbum unter dem Titel „Vintage Violence“. Darauf lassen sich viele eingängige Songs mit schönen, klassischen Pop-Melodien finden, die zuweilen an die frühen, psychedelischen Bee Gees erinnern – was jedoch alles andere als typisch für den aus Wales stammenden Multiinstrumentalisten ist. Denn der inzwischen 80-Jährige ist einer jener Künstler, die sich nie allzu sehr um kommerziellen Erfolg und Starruhm geschert haben.

Und so präsentiert er sich schon auf seinen beiden nächsten Alben, „Church of Anthrax“ (in Kooperation mit Minimal Music-Pionier Terry Riley) von 1971 und „The Academy in Peril“ aus dem Jahr darauf, ungleich experimenteller und sperriger. Im Gegensatz zum eher pop- und rockorientierten Debüt bestehen diese aus überwiegend instrumentalen Stücken, denen man Cales klassische Ausbildung sowie den Einfluss von Avantgarde-Künstlern wie John Cage und La Monte Young anhört. Das darauffolgende Album, um das es im Weiteren gehen soll, ist dann wieder eindeutig der Popmusik zuzuordnen. „Paris 1919“ erschien im Februar 1973 und gilt als Cales bekanntestes und zugleich zugänglichstes Werk.

Zudem darf es als Paradebeispiel für britischen Art-Pop der edelsten Sorte gelten; und das ungeachtet der Tatsache, dass die Scheibe in Los Angeles mit US-amerikanischen Musikern aufgenommen wurde. Die Studioband bestand nämlich aus so illustren Musikerpersönlichkeiten wie Lowell George (Gitarre) und Richie Hayward (Schlagzeug) von der Rockband Little Feat sowie Wilton Felder (Bass, Saxophon) von der Jazzfunk-Formation The Crusaders. Als Produzent konnte der Engländer Chris Thomas gewonnen werden, der schon bei den späten Aufnahmen der Beatles hin und wieder in die Produzentenrolle neben George Martin schlüpfen durfte (allerdings ohne explizite Nennung). Zu Beginn der 70er Jahre produzierte er dann mitunter die Alben von Procol Harum und Roxy Music. Im Anschluss an die Aufnahmen zu „Paris 1919“ flog Thomas wieder zurück nach London, um Pink Floyds Jahrhundertscheibe „The Dark Side of the Moon“ abzumischen. Und der Punkrock-Klassiker „Never Mind the Bollocks…“ von den Sex Pistols geht bemerkenswerterweise ebenso auf sein Konto. Das nenne ich mal Vielseitigkeit!

Anspielung auf den Vertrag von Versailles

Den Auftakt des „Paris 1919“-Albums macht das hymnische „Child’s Christmas in Wales“, dessen Titel von einer der bekanntesten Kurzgeschichten des walisischen Dichters Dylan Thomas entliehen ist. Cale verarbeitet darin Erinnerungen an seine Kindheit, die er mit feierlichen Kirchenorgelklängen unterlegt. Geboren im Jahr 1942 in einem kleinen walisischen Dorf namens Garnant, in der vom Kohlebergbau geprägten Grafschaft Carmarthenshire, erhielt er schon im Kindesalter Klavierunterricht und führte bereits als Achtjähriger in der BBC eine selbst komponierte Piano-Toccata auf. In der Kirche des nahegelegenen Ortes Ammanford spielte der begabte Knabe zudem im Gottesdienst die Orgel. Nach eigenen Aussagen wurde er sowohl von seinem Klavierlehrer als auch von dem anglikanischen Priester sexuell belästigt; was sicher auch mit der Grund dafür war, dass er, sobald er konnte, das Weite suchte.

Nachdem er die Bratsche als Instrument für sich entdeckt hatte, trat er im Alter von dreizehn Jahren dem National Youth Orchestra of Wales bei. Ein Stipendium für ein Musikstudium eröffnete ihm die Möglichkeit, zunächst nach London und dann nach New York zu gehen, wo er die Bekanntschaft namhafter Vertreter der Neuen Musik wie Aaron Copland, John Cage und La Monte Young machte. In New York lernte er auch den Songwriter und Gitarristen Lou Reed kennen, mit dem er eine Rockgruppe gründete, aus der schon bald die Kultband The Velvet Underground hervorgehen sollte, der Cale insbesondere mit seinem sägenden, schleifenden Bratschespiel – der sogenannten Drone-Technik – seinen Stempel aufdrückte. Als Cale 1968 der Band den Rücken kehrte, ging mit ihm auch der avantgardistische Einfluss, der beispielsweise Stücke wie „Venus in Furs“, „The Black Angel’s Death Song“, „The Gift“ oder „Sister Ray“ prägte.

Aber wieder zurück zu „Paris 1919“. Dem Eröffnungsstück folgen drei ruhigere, aber nicht minder elegant komponierte Songs: Zuerst die surrealistische Ballade „Hanky Panky Nohow“, in der Cale bekennt: „Nothing frightens me more than religion at my door.“ (vor dem Hintergrund seiner Kindheitserfahrungen mehr als verständlich). Dann das düstere „The Endless Plain of Fortune“ mit den bleischweren Streichern des UCLA Symphony Orchestra, bei dem Cale drei kryptische Charaktere auf die Bühne seines absurden Theaters schubst, um sie in dadaistischer Manier sogleich wieder abtreten zu lassen – während das Publikum ratlos zurückbleibt. Und schließlich seine innige Liebeserklärung an das südspanische „Andalucia“ (oder geht es vielleicht doch um eine Frau?), dem der Waliser die vielleicht schönsten Harmonien des ganzen Albums gewidmet hat. Mit dem letzten Stück der ersten Seite wollte Cale wohl bewusst einen Kontrapunkt setzen: Das ungestüme, geradezu glamrockige „Macbeth“ fällt im Vergleich zum Rest des Albums ziemlich aus dem Rahmen – was wohl auch ein Stück weit der blutrünstigen Shakespearschen Vorlage geschuldet ist – und erinnert mich vom Gitarrenriff her immer irgendwie ein bisschen an Norman Greenbaums „Spirit in the Sky“.

Die zweite Seite wird von dem titelgebenden Stück „Paris 1919“ eröffnet; einer feinen, gediegenen Komposition im orchestralen Gewand, die für mich neben „Yesterday“ und „Eleanor Rigby“ zu den gelungensten Versuchen gehört, klassische Elemente mit Popmusik zu verbinden. Der Song, der von Musikkritikern mit Etikettierungen wie „neo-romantisch“ oder „Baroque-Pop“ versehen wurde, handelt von einer attraktiven Dame, die im Salon wie ein Geist zu erscheinen pflegt und es offenbar bewusst darauf abgesehen hat, alle Blicke auf sich zu ziehen. Wohl so eine Art Madame Chauchat, wie aus Thomas Manns „Der Zauberberg“. Der Songtitel soll jedoch auf das Schicksalsjahr 1919 Bezug nehmen, in dem die Pariser Friedenskonferenz stattfand, bei der unter anderem der Versailler Vertrag geschlossen wurde. Dem Hobby-Historiker Cale zufolge sei dieser mitverantwortlich für die Entstehung des Dritten Reiches und somit, in letzter Konsequenz, für die verheerendste von Menschen angezettelte Katastrophe der Weltgeschichte. Zwar bezieht sich keiner der Songtexte explizit darauf, aber immer wieder schimmern zwischen den Zeilen Themen wie Verlust, Angst, Verzweiflung und Tod durch.

Da werden persönliche Erinnerungen wach…

Sicher auch kein Zufall, dass eines der Stücke nach einem der größten politischen Romanciers des 20. Jahrhunderts, „Graham Greene“, benannt ist. Und im nachdenklichen „Half Past France“ gibt Cale Eindrücke und Gedanken während einer Zugfahrt vom Norden Frankreichs nach Paris wieder, wobei ihm geschichtsträchtige Namen durch den Kopf gehen und er sich in die Situation eines Soldaten auf dem Schlachtfeld hineinversetzt, wo es schlichtweg nur noch um eines geht: die oder ich („It’s a simple case of them or me“). Das Album endet schließlich mit einer Ballade, die beim oberflächlichen Hören recht süßlich daherkommt. Aber die Harmonie ist nur vorgegaukelt. Die trügerische Leichtigkeit wird von paranoiden Wahnvorstellungen in Beschlag genommen, die in eine schaurige Ernüchterung münden: „The anaesthetics wearing off. Antartica starts here“ („Das Betäubungsmittel lässt nach. Die Antarktis beginnt hier.“).

Trotz aller thematischen Schwere, die dem Album konzeptionell innewohnen mag, ist John Cale mit „Paris 1919“ eine der schönsten und zugleich anspruchsvollsten Pop-Scheiben der 70er Jahre gelungen (der selbst seine knödelige Stimme keinen Abbruch tut). Oder wie er selbst einmal anmerkte: „… ein Beispiel für die netteste Art, etwas Hässliches zu sagen“; und noch dazu very british und das, was der smarte Engländer als sophisticated bezeichnet. Ich persönlich verbinde mit der Platte auch noch etwas ganz Besonderes: Zu der Zeit, als ich sie für mich entdeckte – ich muss so um die 20 gewesen sein –, war ich mit einer Französin liiert, die ich oft in Paris besuchte. In ihrer winzigen Studentenbude, einer kleinen, schmalen Bedienstetenkammer unter dem Dach eines großen, typischen Pariser Wohnhauses, unweit vom Champ-de-Mars und dem Eiffelturm, hörten wir „Paris 1919“ oft auf einem alten Kassettenrekorder an. An der Wand über dem Bett hing ein riesiges Kinoplakat von „Il était une fois dans l’Ouest“. Und als Kühlschrank diente eine einfache Einkaufstüte aus Plastik, die draußen am Fenster hing. Während ich das schreibe und die Bilder wieder vor meinem inneren Auge wach werden, muss ich mir die Tränen verkneifen. Eine ist mir gerade über die Wange gekullert und auf die Tastatur getropft (ich habe ihr geschworen, sie niemals zu vergessen).

P.S. Es gab noch eine weitere Platte von John Cale, die in unserer Clique ganz hoch im Kurs stand: sein 1982er-Album mit dem programmatischen Titel „Music for a New Society“ – der wie kein anderer den jugendlichen Eifer triggerte, Teil von etwas Neuem, Großem und Bedeutsamem sein zu wollen. Cales Bewunderern gilt das spröde Werk als sein bestes (wenn nicht als das beste überhaupt). Erst kürzlich veröffentlichte er nach über zehn Jahren wieder ein neues Album mit dem Titel „Mercy“ und kommt im Rahmen seiner Europa-Tournee auch nach Deutschland.

P.P.S. Beim Wiederhören von „Paris 1919“ musste ich auch immer wieder an den Kanadier Ron Sexsmith denken, der die Musikwelt allerdings erst gut drei Jahrzehnte später mit seinem begnadeten Songwriting beglückte. Seit einem Vierteljahrhundert veröffentlicht er ein wunderbares Album nach dem anderen (mit nur ganz wenigen Ausfällen). Kein Gibb, kein Wilson, kein McCartney und schon gar kein Lennon, nicht einmal ein Bacharach – durchaus Namen, die einem dazu in den Sinn kommen – kann so eine gehaltvolle Bilanz vorweisen.

YouTube-Link zur Baroque Pop-Perle „Paris 1919“

YouTube-Link zum Albumopener „Child’s Christmas in Wales“

YouTube-Link zu einer Live-Aufnahme des Schlussstückes „Antarctica Starts Here“ mit Band und Orchester um das Jahr 2011

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