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Flucht ohne meine Tochter

Published On: 6. Februar 2023 11:06

Seit drei Jahren bin ich praktizierende Psychotherapeutin. Ich arbeite nach der Methode der kognitiven Verhaltenstherapie. Ich arbeite mit Psychiatern zusammen. Ich bin Hypnotherapeutin. Wenn die Psychiater die medikamentöse Behandlung beendet haben, setze ich an und schließe die Therapie mit Hypnose ab.

Ich lebte und arbeitete in Kiew, ich hatte Patienten und eine Praxis am Goldenen Tor. Es ging mir sehr gut. Einen Monat vor dem Krieg habe ich ein neues Haus gekauft, das gleich in der ersten Kriegswoche zerbombt wurde. Ein Haus in Meschyhirja Jetzt hat man es wieder aufgebaut. Die Bauunternehmer zeigten sich sehr anständig.

Als in der Nähe zum ersten Mal eine Bombe gefallen war, vereinbarten wir, dass sie das Haus auf jeden Fall fertigbauen. Es war niemand im Haus, es kam niemand zu Schaden. Aber ich habe alles verloren. Im Juli habe ich mich von meinem Mann getrennt, wir haben sechs Jahre lang zusammen gelebt.

Der 24. Februar: Kampfjets vor dem Fenster

Am 24. Februar waren mein Mann und ich zu Hause. Wir wohnten in Wyschhorod, das ist ein Vorort von Kiew. Ich sah die russischen Kampfjets vor meinem Fenster. Unser mehrstöckiger Plattenbau fing an zu wackeln, man hatte das Gefühl, er fällt gleich zusammen.

Mein Ex-Mann war in der ATO [Anti-Terroristen-Operation-Zone im Osten der Ukraine; Red]. Wir haben zusammen sehr viel durchgemacht, um ihn aus dem Zustand der posttraumatischen Belastungsstörung herauszuholen. Aber dann kamen die Flashbacks. 2016 erlitt er zweimal ein Explosionstrauma, eine Verletzung am Bein strahlte in den Rücken aus. Jetzt kann er nicht laufen, es hat wieder alles angefangen.

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Am 24. Februar war meine Tochter bei ihrer Großmutter in Obolon [Stadtteil von Kiew; Red.]. Als die Kampfjets kamen und überall Explosionen waren, sahen wir, wie über Meschyhirja ein Hubschrauber abgeschossen wurde. Ich rief die Großmutter an – sie ist meine ehemalige Schwiegermutter, das Kind stammt aus meiner ersten Ehe. Ich sagte, sie sollten packen.

In dem Moment kommt mein Mann in die Küche gestürzt und sagt, es wird nichts gepackt, das Kind bleibt. Denn wenn wir jetzt wegfahren, dann stehen wir im Stau, und dann werden wir vielleicht beschossen, und dann kommen wir um, und das Kind auch. Wir können nicht fliehen. Also fuhren wir ohne das Kind.

Einen Monat vor dem Krieg hatte ich angefangen, meinen Umzug nach Spanien zu planen, denn ich hatte das alles vorausgesehen, ich wußte Bescheid, ich habe sehr viele hochgestellte Kunden, die sagten, ich müsse weggehen. Mein Ex-Mann erlaubte mir nicht, das Kind rauszubringen.

Wir flüchteten ohne meine Tochter

Die Entscheidung, das Kind am 24. Februar nicht mitzunehmen, war richtig gewesen, denn wir standen tatsächlich im Stau. Wir hätten tatsächlich unter Beschuss geraten können, Gott sei Dank gab es keinen. Anderthalb Monate lang konnte ich mein Kind nicht nachholen. Jetzt ist meine Tochter bei mir. Sie ist acht Jahre alt.

Wir fuhren zu einem Bekannten in der Nähe der Oblast Ternopil. Unterwegs sagte er, dort würden alle zur Armee eingezogen. Mein Mann hatte seinen Einberufungsbescheid schon erhalten. Und ich bin auch wehrdienstpflichtig, meiner ersten Ausbildung nach bin ich Militärjournalistin.

Mein Mann telefonierte mit seinen Freunden, und wir fuhren nach Bukowel in den Karpaten. Dort wohnten wir eineinhalb Monate im Hotel. Mit dem Kind standen wir immer in Verbindung, aber mein Ex-Mann wollte sie nicht weglassen. Wie schickten mehrmals freiwillige Helfer hin, um sie abzuholen.

Mein Ex-Mann war mit seiner Mutter, seinem Bruder und unserer Tochter in der Nähe von Kiew. Er sagte wieder, es sei alles in Ordnung und bald sei das alles vorbei. Er hat eine Freundin. Mir ihr habe ich ein gutes Verhältnis. Sie waren im Haus ihres Vaters. Er ist ein ehemaliger SBUler, ein Mann, der eigentlich alle diese Feinheiten verstehen sollte.

Dann sprach mein damaliger Mann mit meinem Ex-Mann, und dann wurde alles sehr schnell geregelt. Drei Tage später waren meine Tochter und meine ehemalige Schwiegermutter schon bei mir. Wir wohnten noch eine Woche bei unseren Freunden im Hotel, dann wurde uns klar, dass wir dort weg mussten.

Wir wollten nach Spanien, leben jetzt in Berlin

Wir planten, nach Spanien zu fahren. Ich bin halb Spanierin, mein Vater ist Spanier, meine Großmutter spricht spanisch mit mir, ich verstehe die Sprache sehr gut, spreche aber nicht. Außerdem hatten wir früher schon den Plan gehabt, wegzugehen, aber wir wollten uns vernünftig vorbereiten, mit Geld, dort eine Immobilie kaufen.

Ich telefonierte herum und versuchte, eine Wohnung für uns zu mieten, aber man verlangte von mir einen Einkommensnachweis. Wo soll ich einen Einkommensnachweis hernehmen, wenn im Land Krieg ist? Meine Konten waren alle gesperrt.

Schließlich fuhren wir nach Berlin. Ich habe hier einen Halbbruder, er ist aus Moskau. Ich kam mit Kind, Hund und Schwiegermutter an. Mit meiner Schwiegermutter habe ich ein wunderbares Verhältnis. Wir wohnen zusammen. Man hat uns geholfen, eine Wohnung zu finden. Wir haben zwei Wochen bei meinem Bruder gewohnt, aber dann gab es Probleme, weil dort Hunde nicht erlaubt waren.

Wir haben jetzt eine Wohnung sehr weit weg von Berlin. Wenn ich den Zug verpasse, komme ich nicht mehr hin und laufe vier Kilometer nachts durch den Wald.

Meine Tochter und ich werden sicher hierbleiben. Ich besuche Deutschkurse, ich habe sehr viele deutsche Freunde. Sie reden jetzt prinzipiell nur deutsch mit mir, damit ich lerne. Ich habe die Prüfung in A1 bestanden, ich verstehe recht gut, ich kann Filme sehen, Bücher lesen und spreche auch nicht schlecht.

Ich habe nicht vor, in die Ukraine zurückzugehen. Ich möchte hier ein Geschäft aufbauen. Das wird sicher keine Psychotherapie werden, denn das dauert sieben Jahre, und außerdem braucht man C1 Deutsch. Ich kann nur mein Diplom als Hypnotherapeutin anerkennen lassen.

Ich habe online in Moskau studiert, bin mehrmals dorthin gefahren. Ich hatte ein Geschäft in Moskau, ein Geschäft in Kasachstan. Ich bin sehr viel in der Welt herumgekommen. Ich habe in Belgien, in Italien und in Monaco gelebt.

Mit Natalya (Name geändert) sprach Tatiana Firsova am 9.12.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine, Russland und Belarus zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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