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„Ich will nach Kiew zurück – aber nicht jetzt“

Published On: 13. Februar 2023 16:27

Lesya Krisko lehnt die Begriffe „Kriegsflüchtling“ und „Flucht“ aus der Ukraine ab; sie findet, sie entsprechen nicht der Realität und geben ihre Geschichte nicht richtig wieder. Ihrer Meinung nach wäre es sinnvoller, den Begriff „Umzug“ zu verwenden. Das Interview wurde aus dem Ukrainischen übersetzt.

Die letzten zwei Jahre habe ich in Kiew gelebt. Geboren bin ich in der Region Winnyzja. In Winnyzja habe ich zwei Studien abgeschlossen: Biologielehrerin und Chemikerin. Aber jetzt bin ich Fotografin.

Ich liebe Kiew sehr und wollte schon immer dorthin umziehen. Zum Studium hat es noch nicht geklappt. Aber als ich die Universität in Winnyzja abgeschlossen hatte, hielt mich dort nichts mehr. Ich habe einfach meine Sachen genommen und bin losgefahren. Meine beste Freundin hat in Kiew studiert. Ich war ständig dort, ich hatte sogar Beziehungen in Kiew. Und überhaupt bin ich in Kiew verliebt.

Dann beschloss ich: Ich habe jetzt genug von Winnyzja, ich brauche etwas Großes. Kiew ist eine Stadt für jemanden, der jung ist, der viel Energie hat und diese Energie verausgaben will. Winnyzja ist eine Familienstadt. Sehr bequem und gemütlich. Aber ich wollte Action.

Ukrainische Frau:

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Ich zog am 1. September 2020 nach Kiew um. Ich nahm nur einen Rucksack mit meinem Notebook mit, meine neue Kamera und sonst nichts. Ich nahm nicht einmal Kleidung mit. Die ersten zwei Wochen wohnte ich bei meiner Freundin. Dann suchte ich einen Job und fand eine Unterkunft. So begann mein Leben in Kiew.

Ich fotografiere verliebte Paare

Ein Fotograf ist man, wenn man sich selbst und seinen Weg begreift. Deshalb habe ich zuerst jeden Auftrag angenommen. Ich fotografierte Hochzeiten, standesamtliche Trauungen, Geburtstage, Familien- und Kinderfeste, Love-stories. Ich mag Menschen, deshalb kam Sachfotografie für mich überhaupt nicht in Frage.

Ich wollte, dass die Fotografie nicht nur Hobby ist, sondern meine Hauptbeschäftigung, von der ich auch anständig leben kann. Jetzt fotografiere ich verliebte Menschen, etwas reifere, 25- bis 35-Jährige. Verliebte Paare, die ihre Liebe in die Welt aussenden.

Die Fotografie ist für mich ein Weg. Es begann im fünften Studienjahr an der Universität. Ich besuchte einen Kurs, dann noch einen. Dann begann ich mit der Praxis.

Ein Fotograf ist ein Mensch, der sich ständig entwickeln muss, denn es gibt Trends, es gibt Veränderungen. Jetzt höre ich viele Vorträge von superguten Lehrern, als Hilfe für die Ukraine. Mir gefällt, wie Taras Terletkyj fotografiert, das ist ein Hochzeitsfotograf aus der Ukraine. Er zeigt sehr intensive Emotionen. Ich mag echte Fotografien.

Der 24. Februar: „Ich fühlte mich einsam“

In meinem Bekanntenkreis wurde über den Krieg gesprochen, aber niemand hat daran geglaubt. Vor dem Krieg hatte ich das Angebot, für einen Monat nach Georgien zu reisen. Ich reise gern, und ich beschloss zu fahren.

Ich hatte Tickets für den 26. Februar. Davor bin ich am 20. Februar zu meinen Eltern nach Winnyzja gefahren. Meine Mietwohnung in Kiew habe ich untervermietet, meine Papiere und meine Sachen brachte ich zu meinen Eltern, weil ich sie nicht in Kiew lassen wollte. Am 23. Februar, spät nachts, kam ich aus Winnyzja nach Kiew zurück. Das heißt, der 24. Februar hatte schon angefangen.

Um 7 Uhr morgens stand Fahrunterricht an, ich wollte in Georgien ein Auto mieten und brauchte ein wenig Praxis, um meine Fahrfähigkeit aufzufrischen. Ich wachte um 5 Uhr früh in Obolon auf. Um 5.25 Uhr hörte ich die ersten Explosionen. Sofort riefen alle bei mir an, ich begann zu packen, ging auf die Straße, ohne zu wissen, was ich tun sollte. Es war Chaos. Ich wollte mit meiner Freundin und ihren Eltern aus Kiew rausfahren, aber es gab dichte Staus.

Ich war eine Woche in Kiew. Ich ging nicht in den Luftschutzkeller. Ich fuhr zu Freunden auf das linke Ufer und verbrachte alle diese Tage bei ihnen. Niemand wusste, was Krieg bedeutet. In den ersten Tagen hat kaum jemand geschlafen. Danach bist du todmüde, du schaltest ab, während um dich herum Explosionen sind. In dieser Wohnung waren sehr viele Menschen. Aber ich fühlte mich dort einsam.

„Ich fuhr, weil man mich eingeladen hatte“

Am ersten Tag, nachdem der Krieg angefangen hatte, schrieb mir eine Freundin, die in Berlin lebt. Sie stammt aus Polen, lebt aber seit mehr als zwanzig Jahren in Deutschland. Sie ist verheiratet und hat ein Kind. Sie schrieb, ich solle zu ihr nach Berlin kommen.

Aber ich brauchte Zeit, um mir darüber klar zu werden, was ich machen sollte. Zuerst habe ich mir überlegt, einfach zu Besuch hinzufahren, vielleicht für einen Monat, zumal ich nicht mehr als Fotografin arbeiten konnte. Aber irgendetwas musste ich tun. Aber ich dachte nicht daran, einfach wegzufahren, wie es viele machten. Ich fuhr, weil man mich eingeladen hatte.

„Die Menge schob mich in den Zug hinein“

Es war schwierig, aus Kiew herauszukommen. Das erste Problem war, vom linken Ufer aufs rechte zu gelangen, weil keine öffentlichen Verkehrsmittel fuhren und überall Staus waren. Der Horror.

Die Leute kamen [am Bahnhof; Red.] tagelang nicht in die Züge rein. Ich dachte, ich schaffe es nicht. Aber die Menge schob mich einfach in den Zug hinein. Als ich drin war, fing ich hysterisch an zu heulen, wegen diesem ganzen Stress.

Ich fuhr in einem Liegewagen. In einem Abteil für sechs Personen waren 24. Das war beschwerlich. Ich saß auf der oberen Pritsche mit drei weiteren Personen. Von Kiew fuhr ich bis nach Lwiw, aber dort einen Zug zu kriegen war auch unrealistisch. Ich saß die ganze Nacht im Bahnhof, dann fand ich etwas, wo ich übernachten konnte, bis ich abgeholt wurde.

Von Lwiw aus brachten mich Bekannte meiner Freundin mit dem Auto nach Polen. In Polen verbrachte ich ein paar Tage bei ihrem Bruder. Am 10. März kam ich in Berlin an.

Starke Gefühle in und für Kiew

Nach dem Umzug nach Deutschland bin ich einmal in die Ukraine gefahren, im September. Ich war in Kiew, in Lwiw und in Winnyzja. In Kiew hatte ich Shootings, Freunde erwarteten mich, alle zwei Stunden hatte ich Termine.

Ich kam um 9 Uhr morgens in Kiew an, man holte mich ab. Ich mietete eine Wohnung in einem Industrieviertel, es war sehr deprimierend, alles war grau, und es regnete. Das hat mich ziemlich bedrückt.

Nach zwei Tagen wurde ich krank, ich lag mit 38 Grad Fieber im Bett, frustriert. Trotzdem spürte ich in der Ukraine eine Kraft in mir. Weil ich alle Entscheidungen selbst traf. Ich ging zum Arzt, ich ging zu einer Kosmetikerin, sprach mit allen, mit denen ich sprechen wollte und regelte alles. Ich selbst. In Berlin fühle ich mich nicht selbständig. Das war im Gegensatz dazu ein sehr starkes Gefühl.

„Ich will in die Ukraine zurück – aber nicht jetzt“

Nach Winnyzja war Kiew mir immer riesig vorgekommen, großstädtisch. Aber diesmal, nach den europäischen Städten, erschien es mir anders. Das war überraschend. Als wäre das nur eine Verliebtheit gewesen, und als hätte ich vor dem Krieg Kiew durch eine rosa Brille betrachtet.

Aber trotzdem habe ich mich sehr wohl gefühlt. Vielleicht weil ich dort viele Freunde habe, einen festen Kundenkreis, eine Basis, ich wusste, wohin ich gehen muss, wo ich was finde, wo das beste Fotostudio ist.

Ich will in die Ukraine zurück, ich möchte eine Wohnung in Kiew kaufen. Aber nicht jetzt. Am zweiten Tag nach meiner Ankunft in Kiew gingen um 4 Uhr morgens die Alarmsirenen los. Ich wachte auf und konnte nicht mehr einschlafen. Das war stressig.

Vielleicht ist das so bei denen, die weggegangen sind – sie geraten leichter in Panik als diejenigen, die in der Ukraine geblieben sind. Außerdem hatte ich zu Beginn des Kriegs eine „Überdosis“ an Nachrichten und Informationen abbekommen. Und diese Sirenen erinnerten mich daran. Das war ein unangenehmes Gefühl.

„Meine Eltern wollen nicht weg“

Nach Kiew fuhr ich nach Winnyzja, zu meiner Familie. Ich habe eine kleine Schwester und zwei Brüder. Meine Eltern wollen nicht weg. Menschen, die ihr ganzes Leben darauf gegründet haben, wenigstens etwas zu besitzen, die wollen nicht weg.

Meine Eltern sind 47 Jahre, sie sind noch nicht alt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie in ein anderes Land umziehen. Was sollten sie dort machen? Sie können es sich auch nicht vorstellen.

Für mich ist es leichter, weil ich noch Ehrgeiz habe, ich kann Sprachen lernen, ich kann Englisch. Sie nicht. Sie können ihr Zuhause nicht aufgeben. Meine Schwester ist in die elfte Klasse gekommen, mein kleiner Bruder in die siebte, und die Kleinste ist grad vier Jahre alt.

Meine Schwester ist nicht weggegangen, weil es unvernünftig wäre. Sie sollte die Schule abschließen. Ich habe immer gesagt, sie soll nach der Schule in Kiew studieren, aber jetzt weiß man nicht, was man machen soll. Man könnte darüber nachdenken, zur Ausbildung ins Ausland zu gehen, aber unsere Eltern wollen ihre Kinder nicht weglassen.

Ich habe vor Kurzem mit meiner Mutter gesprochen, und sie sagte: „Lesya, knüpf dort nicht zu enge Kontakte zu den Menschen, damit du dich in Berlin nicht zu heimisch fühlst, damit du zurückkommst.“ Meine Eltern wollen, dass ihre Kinder bei ihnen bleiben, wenigstens im selben Land.

„Ich glaube, ich werde zurückgehen“

Solange der Krieg noch dauert, bleibe ich sicher in Berlin. Ich fühle, dass ich zurückgehen werde, sobald das alles vorbei ist. Jetzt möchte ich auch zu meinen Eltern fahren, aber es gibt Ausreisebeschränkungen.

Ich habe einen Integrationskurs angefangen, und ich darf nur 21 Tage im Jahr außerhalb von Deutschland sein. Ich bin erst seit zwei Wochen bei dem Kurs, und bis jetzt kann ich nur sagen, wie ich heiße und woher ich komme. Die ersten Tage waren schwer. Wenn man dir vier Stunden am Tag Deutsch auf Deutsch erklärt, tut dir anschließend ziemlich der Kopf weh. Aber ich will Deutsch sprechen.

Ich bin Fotografin und will Fotografin sein. Jetzt habe ich nicht viel Zeit, und ich fotografiere nur ein wenig. Das ist wie bei einem Maler, der nicht mehr malt, er verliert seine Fähigkeit. Genauso ist es mit der Fotografie. Ich fotografiere Ukrainer, meine Bekannten.

Im Moment bekomme ich Sozialhilfe. Ich wohne bei meinen Freunden, sie haben mir ein Zimmer gegeben. Neue Freunde habe ich bisher noch nicht gefunden.

„Berlin ist wie Kiew, aber dort sind die Menschen familiärer“

Für mich hat Berlin Ähnlichkeit mit Kiew. Doch ja, hier gibt es mehr unterschiedliche Menschen, unterschiedliche Nationalitäten, aber die Städte selbst ähneln sich. Obwohl: Als ich in Berlin ankam, bin ich um drei Uhr nachts aus dem Zug gestiegen und spürte sofort den Geruch von Marihuana. Überall lagen Kippen herum, es war dunkel. Und ich dachte: „Oh Gott, wo bin ich hier bloß gelandet!“

Ich habe tatsächlich ein ambivalentes Verhältnis zu Berlin. Ich liebe es, aber vollständig entspricht es nicht meinen Werten. In der Ukraine sind die Menschen traditioneller und familiärer. Mich hat hier sehr erstaunt, dass die Menschen mit 40 sich noch nicht kennen, ihren Weg noch nicht gefunden haben. Ich mag es nicht, wenn Menschen einfach nur sinnlos „rumchillen“.

Ich habe zwar eigentlich nicht solche traditionellen Ansichten, etwa dass Frauen mit 20 heiraten und Kinder kriegen müssen.  Aber ich verstehe auch nicht, wie man über das Leben nicht nachdenken kann. Daher kommt eine gewisse Dissonanz in den Gefühlen.

Ich mag die Vielfalt in Berlin, in den Menschen, in der Stadt selbst. Aber ich mag keine Clubs, ich bin keine Partygängerin. Berlin wegen seines Nachtlebens zu mögen, das ist nicht mein Ding.

„Ich habe immer ukrainisch gesprochen“

Ich habe mein Leben lang immer ukrainisch gesprochen. Obwohl mein Vater russisch sprach, als er meine Mutter kennenlernte. Aber er ging auch zum Ukrainischen über. In der Universität sprach die Hälfte ukrainisch, die Hälfte russisch. Mit meinen Kunden spreche ich ukrainisch, sogar wenn sie mit mir russisch sprechen.

Ich liebe die ukrainische Sprache. Lesen kann ich beide, die Literatur habe ich immer gleichermaßen in der einen und der anderen Sprache wahrgenommen. Ich kann auf Russisch kommunizieren, aber ich hatte immer die Auffassung, wenn ich mich in der Ukraine befinde, warum soll ich dann russisch sprechen. Ich wechsle nur dann in die Sprache eines anderen Menschen, wenn er mich nicht versteht.

„Cool war, wenn du russisch sprichst“

Ich hatte eine Bekannte aus Russland, die nach Kiew umgezogen war. Mit ihr sprach ich erst russisch, aber dann sagte ich zu ihr: „Du willst in Kiew leben, dann los, ich helfe dir, ukrainisch zu lernen.“ Das war mehr als eine Motivation.

Ich war immer für das Ukrainische. Aber die Ukrainer standen lange unter einem Trend: „Du bist cool, wenn du russisch sprichst.“ Bei uns gab es viel russische Musik und russische Angebote. Wenn jemand ukrainisch sprach, dann hielt man ihn für jemand vom Dorf.

Das hat sich jetzt alles verändert. Nach 2014 fingen die Menschen an, zum Ukrainischen überzugehen und fanden das gut.

In Berlin spreche ich lieber Englisch als ins Russische zu gehen. Es macht mir nichts aus, Russisch zu hören, aber ich will nicht darin kommunizieren. Ich fühle mich nicht wohl damit. Ich fühle mich nicht als ich selbst. Manchmal ist es hier für mich ein Problem, wenn ich U-Bahn fahre und Russisch höre, und ich verstehe nicht, was das für ein Mensch ist, wo dieser Mensch herkommt. Das ist das Problem, wenn Ukrainer nicht ukrainisch sprechen.

Mit Lesya Krisko sprach Tatiana Firsova. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine, Russland und Belarus zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

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