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„Sie sahen aus wie Cyborgs“

Published On: 20. Februar 2023 17:37

Ich bin ausgebildete Ingenieurin für Lebensmitteltechnologie. Kurze Zeit arbeitete ich in einer Fabrik. Bevor ich in die Ukraine umzog, heiratete ich und war im Mutterschaftsurlaub. In der Ukraine habe ich eine gewisse Zeit in meinem Beruf gearbeitet, dann fuhr ich hin und wieder zum Geldverdienen nach Russland. Dort arbeitete ich als Verkäuferin in einem Geschäft, die Bezahlung war nicht schlecht. In der Ukraine hätte ich so viel Geld nicht verdienen können.

Meine Tochter war zu der Zeit schon an der Universität, und mein Mann und ich wollten finanziell besser abgesichert sein. Deshalb fuhren wir beide zum Geldverdienen nach Russland. Er fuhr sogar zuerst. Aber dann haben wir uns getrennt.

Die Firma, bei der ich damals in der Ukraine arbeitete, löste sich langsam auf. Das war Ende der 90er-Jahre, und viele Leute fuhren zum Geldverdienen nach Polen oder nach Russland.

Wegen der Propaganda verlor ich eine Freundin

2014 zog ich wieder nach Hause, weil die Situation sich verändert hatte. In so einer feindseligen Umgebung konnte man einfach nicht sein.

Meine Tochter ging auf den Maidan. Die Krim war schon besetzt. Die Leute, mit denen ich arbeitete, freuten sich alle, dass die Krim „unser“ sei. Das war wahnsinnig schwer zu ertragen. Ich verstehe nicht, wie man sich darüber freuen kann. Das ist doch nicht ehrlich verdient, das ist einfach einem schwächeren Nachbarn geklaut.

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Auf der Arbeit hat mir keiner zugehört, da schauten alle Fernsehen und sagten: „Guck mal da in Slowjansk werden Säuglinge gekreuzigt. Ich hatte einen Klassenkameraden in Slowjansk. Seine Frau wohnt in einer Wohnung, deren Fenster gerade auf diesen Platz gehen, wo in dieser erfundenen Geschichte „ein Junge gekreuzigt wurde“. Und genau diese Frau schreibt plötzlich im Internet: „Oh wie furchtbar, sie kreuzigen einen kleinen Jungen“. Ihr Mann sagt zu ihr: „Meine Liebe, du wohnst doch hier gleich nebenan, geh runter auf den Platz und sieh selber nach.“ Aber sie glaubt nicht ihren eigenen Augen, sie glaubt dem Fernsehen.

Als das im Donbass losging, verlor ich eine Freundin. Sie wohnte in Russland, ihre Eltern aber in Donezk, und ihr Bruder auch in Donezk. Und sie sagte zu mir: „Wenn du eine gute Mutter wärst, ginge deine Tochter nicht auf den Maidan. Das in Donezk passiert alles nur wegen dem Maidan.“ Seitdem spricht sie nicht mehr mit mir.

„Bis zu den Okkupanten 68 Kilometer“

Dass es 2022 einen Krieg geben würde, darüber wurde schon länger geredet. Mein Vater starb in dieser Zeit, und meine Mutter kann sehr schlecht laufen. Wir lebten in unterschiedlichen Häusern, aber nicht weit voneinander entfernt. Ich pendelte drei, vier Mal am Tag hin und her, besuchte sie, half, wo es nötig war.

Dass es vermutlich Krieg geben würde, darüber hatten wir schon lange gesprochen. Ich sprach darüber mit meiner Tochter, die in Deutschland war. Sie sagte, wir müssten uns darauf vorbereiten, sie erkundigte sich, wie man bei Bedarf ausreisen könne. Ich habe einen Führerschein, auch ein Auto, aber ich war immer nur in der Stadt gefahren, nie außerhalb, ich kenne die Überlandstraßen nicht. Ich hatte Angst, größere Entfernungen zu fahren.

Irgendwie ist es seltsam, sich auf einen Krieg vorzubereiten, den es nicht gibt. Ich hatte vorher nie Vorräte angelegt, aber jetzt macht ich das. Wenn es Krieg gibt, sagte ich zu meiner Tochter, packen wir die Katze und die Oma ein und fahren in die Westukraine.

Wir dachten ja, wenn der Krieg anfängt, dann kommt er aus der Richtung vom Donbass. Aber dass es so plötzlich und so nah losgeht, das glaubte niemand. Mein Mann war Psychiater, ich hatte viele Bücher über Psychiatrie. Ich hatte den Eindruck, dass Putin psychisch nicht gesund ist.

Der 24. Februar: Das ganze Haus wackelte

Am 24. Februar war ich in Nowa Kachowka. Dort gibt es eine Militärbasis, von der wir gar nichts wussten. Ich habe ein eigenes Haus, ein zweistöckiges. Um fünf Uhr morgens hörte ich eine Explosion, und das ganze Haus wackelte. Ich schaute aus allen Fenstern und sah Rauch in Richtung des Kanals. Ich öffnete unseren städtischen Chat, und dort schrieben sie: „Die Sojafabrik ist explodiert, die Gastankstelle ist explodiert.“

Ich stand am Fenster, als ich das las, und in dem Moment kam die zweite Explosion. Im Chat schrieb jemand: „Der Krieg hat angefangen, schaut Doshd.“ (TV-Sender; Red.) Und da lief gerade die Rede von Putin. Ich saß da, sah mir diese Rede an, und mir wurde ganz schwindlig im Kopf. Jetzt war völlig klar, dass tatsächlich der Krieg angefangen hatte.

Ich saß bis 6 Uhr morgens zu Hause. Danach gab es keine Explosionen mehr. Aber man fängt an, darauf zu lauschen, und tatsächlich hörte man irgendwann vereinzelte Explosionen.

Bei uns in der Stadt gab es einen Zaun, auf dem stand: „Bis zu den Okkupanten 68 Kilometer“. So weit war es bis zur Krim.

In der Falle: „Wir sind besetzt“

Ich fing an zu überlegen, wie ich rauskommen konnte. Ich ging zu meiner Mutter, sie schlief auch nicht mehr, aber sie verstand nicht, was da passierte. Wir schalteten unseren Fernseher ein, und da hieß es, es hätten Kriegshandlungen begonnen. Zu der Zeit hörte man die Explosionen schon näher. In der Nähe gab es Kämpfe. Um 8 Uhr morgens flogen dicht über den Häusern Kampfjets, Hubschrauber kreisten über unserem Wasserkraftwerk.

In unserer Stadt sind an manchen Orten Webkameras installiert, und man kann sehen, was da passiert. Ich schaltete ein und sah eine Formation von Panzern. Ich weiß nicht, wie man in einem Panzer 70 Kilometer in zweieinhalb Stunden zurücklegen kann. Sie sind offenbar auf keinen Widerstand gestoßen.

Ich schaute in unseren Chat und sah, dass sie schon um halb 10 Uhr morgens die russische Flagge auf unserem Wasserkraftwerk gehisst hatten. Und das ist unsere einzige Brücke über den Dnipro. Also konnten wir schon nicht mehr weg, der Weg war versperrt. Wir waren besetzt.

Ich holte meine Mutter zu mir. In meinem Haus gibt es einen Keller. Die Explosionen kamen immer näher. Sie versuchten, die Panzer auf der anderen Seite des Dnipro aufzuhalten, es gab Artilleriegefechte, die beiden Nachbarsiedlungen wurden schon beschossen. Alles Weitere lag wie im Nebel.

Die zweite Brücke, die Antoniwkabrücke, führt direkt nach Cherson. Darüber rollte der größte Teil ihrer Truppen. Als wir dann später, schon im April, wegfuhren, gelangten wir genau über diese Straße in Richtung Cherson. Da lag überall zerstörte Militärtechnik.

In unseren Straßen gab es keine Gefechte. Aber dort sahen wir sehr viele ausgebrannte zivile Lebensmittellastwagen. Das ist die Melitopoler Landstraße, auf der es immer viel Lastverkehr gab. Und da standen überall diese Autos herum. Und Panzer von uns und von denen.

Probleme mit den Lebensmitteln

Eine Woche lang verließ niemand das Haus. Das ist ein Viertel mit lauter Einfamilienhäusern, anscheinend hatten alle genug Essen zu Haus. Nach einer Woche musste man mal raus. Ich fuhr mit dem Fahrrad zu unserem Markt, um zu sehen, wie es da aussieht.

Als die Geschäfte geöffnet waren, verkauften sie die Restbestände. Diese Lebensmittel verschwanden sehr schnell, nur die teuersten blieben übrig. Die Geschäfte schlossen, aber auf dem Markt gab es noch Lebensmittel. Während ich da war, wurde nichts mehr nachgeliefert. Sie verkauften nur aus ihren Lagerbeständen.

Als ich wegfuhr, begannen sie, Lebensmittel von der Krim einzuführen, und das ATB-Geschäft wurde in „Sozmarkt“ umbenannt, da wurden russische Lebensmittel verkauft. Lebensmittel für uns bekam man leicht, schwierig war es mit Katzenfutter. Ich versuchte, meinem Kater irgendwelche Konserven zu geben, aber er hatte noch nie etwas anderes gefressen als sein eigenes Futter.

Die Angriffe bei uns kamen alle von der Krim. Aus dieser Richtung gingen sie nach Melitopol, nach Cherson und Nowa Kachowka. Über die Antoniwkabrücke brachten sie die ganze Militärtechnik. Nur Mykolajiw hielt sie auf. Jetzt ist Kachowka von den Russen besetzt, wie schon zu Anfang. Brücken gibt es nicht, man kommt dort nicht mehr hin.

Ausreise aus der okkupierten Stadt

Ich hatte lange Angst, mich ans Steuer zu setzen und loszufahren. Ich suchte Mitfahrer, die mein Auto steuern könnten. Wir hatten schon weder Lebensmittel noch Benzin.

Meine Tochter fand Mitfahrer für mich. Das war um zehn Uhr abends. Ein junges Paar mit einem kleinen Kind, sie wollten nach Odessa. Sie sagten: „Lassen Sie uns um 6.30 Uhr abfahren.“ Um sechs Uhr morgens war die Ausgangssperre zuende, die die Russen verhängt hatten. Sie führten damals sofort ihre eigenen Regeln ein.

Meine Mutter schlief vom ersten Tag an im Keller, ich habe ihr dort ein Heizgerät aufgestellt. Der Notfallkoffer und meine Papiere waren gepackt. Ich hatte die ganze Nacht lang gepackt und überlegt, was ich wo verschließen soll, und in der Nacht ging ich noch zur Wohnung meiner Mutter. Ich gab Mutters Nachbarn den Schlüssel. Die Nachbarn nahmen auch Mamas Katze.

Um 5 Uhr morgens ging ich zu meiner Mutter runter und sagte, dass wir jetzt losfahren. Ich gab ihr ein Beruhigungsmittel, packte den Kater ein und den Rollator, und dann fuhren wir los, um die Familie abzuholen.

Der Mann setzte sich ans Steuer. Ich war bis dahin nur einmal mit meiner Nachbarin aus der Stadt rausgefahren, um den Kater impfen zu lassen. Und da hatte ich ein einziges Mal Russen von Angesicht zu Angesicht gesehen. Überall hatten sie Kontrollpunkte in der Stadt eingerichtet und kontrollierten die Papiere.

Ich sah ihm in die Augen und dachte, dass ich hier nicht mehr leben kann, ich halte es nicht aus. Ich werde irgendwann vor Empörung in die Luft gehen, und dann wird man mich töten. Danach hatte ich begriffen, dass ich hier nicht mehr bleiben und den Mund halten konnte.

Über das Wasserkraftwerk durfte man nicht fahren, sie schossen auf die Leute, die versuchten, dort vorbeizufahren. Wir fuhren durch die Kontrollstellen auf der Überlandstraße, die nach Cherson führt. Alle fünf Kilometer war ein russischer Kontrollpunkt. Die Brücke war schon voller Löcher, aber Pkws konnten noch hinüber, man musste bloß um die Löcher herumfahren.

„Cyborgs aus dem Donbass und Tschetschenen“

Um auf die Brücke zu kommen, standen wir drei Stunden an. Erst um drei Uhr nachmittags erreichten wir Cherson. Unsere Leute sagten, in Cherson würden sich selbstorganisierte Kolonnen bilden, die dann anschließend Richtung Odessa aufbrachen. Wir fuhren zu ihnen. An diesem Tag sagte man uns, die letzte Kolonne sei unter Artilleriebeschuss geraten. Wir trauten uns nicht, in der Nacht dorthin zu fahren. Wir beschlossen, bis zum Morgen zu warten, und fanden freiwillige Helfer, die uns in einem Wohnheim unterbrachten.

Am nächsten Morgen fuhren wir um 6 Uhr zu dem Ort, wo sich die Kolonnen organisierten. Die Kolonne setzte sich in Bewegung, und wir fuhren hinterher. Die Kolonne kam durch Ortschaften, die von Russen besetzt waren. Meine Mutter sagte: „Sie sind wie Kakerlaken, sie laufen überall herum, wo man nur hinguckt.“

Es waren sehr viele. In unserer Stadt waren sie angezogen wie Cyborgs, in Helm und Maske. Aber die auf der Straße nach Cherson, das waren mit Sicherheit Soldaten aus der DNR („Donezker Volksrepublik“). Sie hatten den typischen Zungenschlag von da. Manchmal schnorrten sie Zigaretten.

Außerdem gab es Tschetschenen. Die Tschetschenen zogen eine Show für uns ab: Wir fuhren überall sehr langsam durch die Felder. Niemand überholte. Das Auto vor uns wurde an einem Kontrollpunkt überprüft und dann durchgelassen. Man hielt uns an. Wir dachten, man würde uns auch durchlassen. Aber nein. Sie kamen in einem Wagen des ukrainischen Rettungsdiensts angerast. Den stellten sie quer auf die Straße. Die Tschetschenen kletterten aufs Dach und begannen herumzuhüpfen und mit den Gewehrkolben auf das Auto einzuschlagen. Was sie davon hatten, uns das vorzuführen, weiß ich nicht.

Und daneben standen zwei Panzer. Auf den Panzern waren irgendwelche Decken ausgebreitet, auch Stühle und Sessel standen da. Vielleicht ruhten sie sich darauf nachher aus.

Sie schlugen weiter auf das Auto ein, und wir schauten schweigend zu. Dann kamen sie zu uns, hielten uns ein Telefon hin und fragten: „Was sagen die da?“ Da sagte eine Stimme auf Ukrainisch, es gebe kein Netz.

Dann kletterten sie auf das Auto und fingen wieder an, nach einem Netz zu suchen. Dann kamen sie wieder zu uns. Sie hielten uns drei Packungen Medikamente hin und sagten: „Lest uns vor, wofür diese Medikamente sind. Ein Freund von uns ist krank, wir brauchen Medikamente.“

Wir hatten das Kind dabei, ein zweieinhalbjähriges Mädchen. Dass sie bei uns war, hat uns tatsächlich beruhigt, das war unsere Rettung. Sie sagten: „Ihr habt da ein Kind, nehmt die Tabletten.“ Das waren Zäpfchen für Kinder. Sie warfen uns die Medikamente hin und gingen weg. Dann brachten sie dem Kind Schokolade, und endlich sagten sie: „Macht euch keine Sorgen, wir lassen euch bald durch.“

Dann begann der Panzer sich um sich selbst zu drehen, um zu sehen, wo er hinfahren will. Endlich ließen sie uns durch. Aber vor uns waren noch viele Kontrollpunkte, an allen überprüften sie die Telefone und die Papiere.

Der junge Mann, der am Steuer saß, hat die Strecke sehr gut bewältigt. Ich hätte das nicht gekonnt, ich wäre irgendwo steckengeblieben. Unser Benzin reichte.

Wir fuhren weiter, und da stand auf einmal ein Panzer mit dem Buchstaben Z drauf, aber die Uniformen der Soldaten waren schon unsere. Sie hatten den Panzer erbeutet. Also hatten wir die besetzten Gebiete hinter uns gelassen.

In Mykolajiw lagen sehr viele Raketen herum. Wir gingen in unser ATB-Geschäft – und da kamen mir die Tränen. Zucker kostete wie früher 28 Griwna, bei uns auf dem Markt kostete er 100. Katzenfutter im Überfluss. Unter der Besetzung hatte man das Gefühl gehabt, es wäre überall so schlecht, aber jetzt stellte sich heraus, das stimmte gar nicht. Hier klappte die Versorgung, das Leben konnte weitergehen. Bei uns dagegen war das Leben einfach stehengeblieben.

Ich verlor meine Mutter auf dem Bahnhof

Dann fuhren wir weiter nach Odessa. Die Familie und mein Auto ließ ich zurück. Meine Tochter hatte uns Tickets für den Zug nach Lwiw gekauft. Eine Stunde vor Abfahrt kam Luftalarm. Wir saßen zuerst im Luftschutzkeller unter dem Bahnhofsgebäude. Dann wurden wir woanders hingebracht, sie sagten, es bestehe die Gefahr, dass der Bahnhof zerstört würde. Wir wurden in einen unterirdischen Gang verlegt, dort war es unglaublich kalt. Wir standen dort etwa eine Stunde. Ich hatte meine Sachen im Wartesaal gelassen und nicht abgeholt, und der Wartesaal war geschlossen. Ich hatte nur den Kater bei mir, eine Handtasche und Oma ohne Gehhilfe. Die Soldaten sagten: „Heute fahren keine Züge mehr.“ Meine Mutter konnte kaum mehr stehen, sie ist 86 Jahre,

Dann sagten sie: Alte und Kinder werden zum Privos-Markt gebracht. Man musste den ganzen Platz überqueren bis zum Privos-Markt. Meiner Mutter halfen Freiwillige, wir wurden in einen geheizten Luftschutzkeller gebracht. Gerade hatte meine Mutter sich hingesetzt und aufgewärmt, da kamen Soldaten und sagten: „Wer Tickets für den Zug nach Lwiw hat – fix zum Zug.“ Eine Frau erklärte sich bereit, meine Mutter hinzubringen, während ich loslief, um unsere Sachen zu holen.

Ich komme auf den Platz – Mama ist nicht da. Ich werfe unsre Sachen in den letzten Waggon, behalte nur den Kater auf dem Arm. In dem Moment begann wieder Luftalarm, der Zug setzte sich in Bewegung, meine Mutter war nicht da. Ich bekam einen hysterischen Anfall, es schüttelte mich regelrecht. Ich setzte mich einfach auf die Erde. Die Territorialverteidigung sagte: „Gehen Sie weg, Sie dürfen hier nicht sitzen.“

Ich rufe sie an, und da erscheint sie auf einmal auf diesem Platz. Sie hatte gedacht, ich würde von der anderen Seite kommen und war mir entgegengegangen, hatte sich hinter die Säulen gestellt und in die andere Richtung geschaut. Und ich konnte sie da nicht sehen. Ich sage: „Mama, ich habe doch geschrien!“ Und sie sagt: „Ach, woher soll ich wissen, wer da so schreit.“ Sie hatte es gehört, aber nicht reagiert.

Ich rufe meine Tochter an, meine Stimme zittert. Und sie ist schon in Polen angekommen, sie sollte uns am nächsten Tag dort abholen. Da kommt wieder die Territorialverteidigung und sagt, dass man da nicht sitzen darf. Ich sage, ich rühre mich nicht von der Stelle. Und wenn man mich erschießt, ich bleibe. Sie sagen, in zwei Stunden käme ein Evakuierungszug in die gleiche Richtung.

Wir fuhren die ganze Nacht durch und kamen um 3 Uhr nachmittags in Lwiw an. Weil es jemandem schlecht ging, wurde die Ambulanz gerufen, der Zug hielt an. Wir fuhren sitzend, in einem Abteil waren acht Personen. Mama ertrug alles geduldig.

Mich hat die Hilfsbereitschaft der Menschen erstaunt. Ich ging zum Schaffner und sagte, dass meine Sachen in dem vorangehenden Zug seien. Jemand hat sie gefunden, sie sagten, ich könne sie beim Diensthabenden auf dem Bahnhof in Lwiw abholen. Das habe ich gemacht.

In meinem Haus wohnten Russen

Jetzt wohnen wir bei meiner Tochter. Wir können nicht zurück. Mein Haus wurde noch nicht getroffen, das Nachbarhaus schon; dort ist alles kaputt. In meinem Haus hätten russische Soldaten gewohnt, erzählten meine Nachbarn.

Was soll ich machen. Sie sind einfach über den Zaun geklettert, sagten sich, prima, hier gibt es eine Banja, und haben sich dort niedergelassen. Ich weiß nicht, was jetzt mit meinem Haus ist, die Fenster sind heil, aber im Haus daneben auf der anderen Seite sind alle Fenster kaputt.

Die Russen haben dort die Macht übernommen. Der Bürgermeister von Stara Kachowka hat sich nach Kiew abgesetzt. Der Bürgermeister von Tawrijsk, das ist der Nachbarort, hat sich krankschreiben lassen und dann die Kündigung eingereicht. Man hatte Gewehre auf ihn gerichtet und gesagt, dass er hier ein Niemand ist, und entweder er arbeitet mit ihnen zusammen und sagt, es ist alles wunderbar, oder er kündigt.

Nicht weit von meinem Haus ist ein Waggondepot, wo Passagierwagen instandgesetzt werden. Natürlich stellten sie dort gleich am ersten Tag die Arbeit ein, aber man zahlte weiter Lohn. Als die Russen kamen, sagten sie, der Betrieb müsse wiederaufgenommen werden. Sie verkündeten, alle, die dort gearbeitet hatten, sollten wieder zurückkommen. Niemand kam.

Irgendwann sagte einer meiner Bekannten, er ginge doch dorthin als Wachmann. Dann wurde es aus Richtung der Ukraine beschossen. Sie sagten, dort seien Raketen stationiert. Das ist ein sehr guter Ort, um Sachen mit dem Zug dorthin zu transportieren und zu lagern. Der Bekannte sagte, man habe ihm 100 Dollar pro Schicht gezahlt. Dieser Ort wird als Lager benutzt, und außerdem zerschneiden sie Ausrüstung zu Altmetall und bringen es auf die Krim.

Die Leute, die auf diesem Territorium wohnen, verlieren nach und das Gefühl für die Realität, für Gerechtigkeit. Ich verurteile sie nicht. Eine Bekannte sagte mir, dass Russland dort den Rentnern hilft, sie bekommen 10000 Rubel. Ich habe nichts dagegen, dass die Leute das annehmen. Denn sie müssen ja von irgendetwas leben. Aber loben sollt man sie nicht dafür.

Mit Jekaterina, die ihren Namen nicht preisgeben will, sprach Tatiana Firsova am 9.12.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine, Russland und Belarus zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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