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Russlands Regierung: „Gewöhnliche Banditen“

Published On: 6. März 2023 8:48

Musikakademie in Moskau. Am 24. Februar war ich zu Hause in Moskau. Ich bin spät zu Bett gegangen, und noch in der Nacht habe ich mich durch die Website von Medusa geblättert, wie immer vor dem Einschlafen. Und da begriff ich schlagartig, dass nichts mehr so war wie bisher.

Irgendjemand hatte mir gesagt, der Opa [Putin; Red.] hätte eine Rede gehalten, aber ich hatte sie nicht gesehen, nichts davon gehört. Je tiefer der Wald, desto dicker die Partisanen. Ich las weiter bei Medusa und konnte bis 6 Uhr morgens nicht einschlafen, weil ich sah, dass da eine Riesenscheiße angefangen hatte.

Mit diesem Gefühl lebte ich etwa einen Monat lang. Dann wurde mir klar, dass es nicht so weitergehen kann, dass ich das alles in eine kreative Richtung lenken musste, dass ich etwas tun musste. Ich machte immer noch dasselbe wie früher, ich spielte, ich arbeitete. Die Psyche verlangte eine Auszeit.

Der 24. Februar: Für uns ein Tritt in den Hintern

Ich beschloss in diesem Moment, wegzugehen. Diesen Gedanken hatten wir schon anderthalb Jahre früher gehabt, und wir hatten auch ein wenig mit den Vorbereitungen begonnen, was die Papiere angeht, aber sehr langsam. Der 24. Februar war in dieser Hinsicht ein Tritt in den Hintern für uns.

Ich bin seit mehr als fünf Jahren mit meinem Partner zusammen. Nach russischem Gesetz können wir nicht heiraten. Deshalb nahmen wir verschiedene Wege. Ich fuhr über Istanbul nach Berlin, und er nach Istanbul. Er fuhr ins Nirgendwo. Ich hatte mehr Angst um ihn. Aber weil er ein gebildeter Mensch mit gesundem Menschenverstand ist, zudem gut organisiert, bekam er dort innerhalb eines Monats eine Aufenthaltsgenehmigung und einen Job.

Er wird nach Berlin kommen, aber das ist ein langer Prozess. Wir setzen uns keine „Deadline“, um uns nicht unter Druck zu setzen. Wie es kommt, so kommt es. Es soll ruhig und ohne Stress laufen, sonst wird es einem zu viel.

Ich bin Gegner der russischen Regierung

Ich bin ein radikaler Gegner unserer gesamten Regierung, die ich einfach für eine kriminelle Organisation halte. Dort sitzen ganz gewöhnliche Banditen, die sich die Taschen vollschaufeln. Und wenn sie sich früher nur einfach die Taschen vollgeschaufelt haben, dann schaufeln sie jetzt auf Teufel komm raus. Natürlich, ich war eine Million Mal in der Ukraine, ich war immer wieder auf Tourneen, mit einem Theater sind wir durch die ganze Ukraine gereist. In Kiew war ich sicher Dutzende Male, ich habe dort Wettbewerbe gewonnen.

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Dieser Wettbewerb wird nächstes Jahr in der Schweiz stattfinden, das ist super. Es ist ein großer internationaler Wettbewerb. Ich liebe Kiew sehr, ich liebe die Ukraine, ich mag die Menschen. Ich habe dort viele Freunde und Bekannte. Als das alles anfing, was soll ein normaler Mensch schon davon halten, der versteht, dass weiß weiß ist und zwei und zwei vier, und dass die Wolga ins Kaspische Meer mündet?

„Natürlich fallen sie auf die Propaganda herein“

Hier ist alles sehr individuell. Diese ganze Psychose wegen der Fernsehpropaganda, in die man Unsummen reinsteckt und die auf hohem Niveau gemacht wird. Natürlich fallen die Leute darauf rein. Die Polittechnologen sind sehr gute Psychologen, sie wissen ganz genau, was sie machen müssen, womit man worauf Druck ausüben muss. Propaganda wirkt auf die niedrigsten Bereiche der Persönlichkeit, auf die höheren überhaupt nicht. Sie sagt, dass alles in Ordnung ist, dass alles so läuft wie es muss.

Ich wohnte im Zentrum von Moskau. Dort haben die Leute ein anderes Verhältnis zu LGBT. Das ist ein anderes Land. Das ist sogar ein anderes Land als der restliche Teil von Moskau, der hinter dem dritten Verkehrsring. Bekanntlich waren die Menschen in Moskau schon immer sehr gebildet, mit viel Verstand. Umso mehr im alten Moskau, wie es früher war.

Hinter dem dritten Verkehrsring sind viele Neuankömmlinge, und je billiger der Wohnraum, desto mehr sind das „Nichtmoskauer“.

Ich habe nie irgendwelchen Hass mir gegenüber gespürt, denn im Zentrum, das ich nie verließ, ist alles ganz korrekt. Aber wenn du an den Stadtrand kommst, denkst du die ganze Zeit, ob du nicht gleich was auf die Fresse kriegst, einfach so. Ich habe einen Freund, der wohnt am Stadtrand von Krasnodar, und jedes Mal, wenn er mich darum bittet, ihm etwas aus dem Ausland mitzubringen, sagt er, kauf bloß nichts zu Buntes. Weil er Angst hat, dass man ihm eins über den Schädel gibt, einfach nur, weil er so angezogen rumläuft. Das ist der ganze Unterschied.

Als sich die erste Psychose ein wenig gelegt hatte, habe ich mir ein Schengenvisum besorgt. Anfangs habe ich mir selbst eingeredet, ich würde Freunde in Europa besuchen und überlegen, ob ich umziehen soll oder nicht. In der Mitte meiner Europareise, das waren sechs Länder in einem Monat, habe ich beschlossen, nicht zurückzugehen. Es gab wieder einen Trigger bei Medusa.

„Ich will nichts zu tun haben mit dem Irrsinn“

Ich war nur einmal auf einer Protestaktion in Moskau. Ich hatte Angst, dass man mich durch die Mangel dreht, und meine Hände sind meine Arbeitswerkzeuge. Ich kann anschließend niemandem etwas beweisen und muss meinen Beruf aufgeben.

Ich habe an der Gnessin gekündigt, als ich schon in Istanbul war. Ich bat um ein Urlaubsjahr, aber sie lehnten ab, und ich sagte, dann kündige ich. Es gab keinen Streit. Manche haben mit Verständnis reagiert, aber es gab eine Gruppe von Leuten, die von diesen Fernsehberieselungen komplett vernagelt waren. Das hat mich überrascht, denn das waren große Profis mit langer Berufspraxis und Erfahrung. Und auf einmal kommt aus denen diese Fernsehsprache raus.

Einmal habe ich eine sehr große Enttäuschung erlebt. Und dann sagte Newsorowin irgendeiner Sendung: „Wenn ich sowas sehe, dann ist bei mir Schluss, dann leck mich am Arsch“. Und ich dachte, das passt auf mich. Ich habe weder die Zeit noch das Verlangen, mich in den Gemächern fremden Verstands umzutun. Ich will nichts zu tun haben mit dem allgemeinen Irrsinn, ich will nicht zu diesem Scheißdrecks gehören, da ich ja nun mal dagegen bin. Ich bin jung, ich habe nur ein Leben. Warum muss mir jemand sagen, was ich tun soll? Ohne mich, Genossen.

Ich denke, es wird noch schlimmer. Dann kommt es zu einem Wendepunkt. Hier kommt man mit schönen Worten nicht mehr weiter. Ich denke, es wird wieder eine Riesenscheiße, aber schon im Inneren. Danach kann vielleicht eine gewisse Erwärmung eintreten.

„Mir gefällt es sehr in Berlin“

Aber ehrlich gesagt: Macht das unter euch aus. Ich bin draußen. In mir gibt es keinen Aktivismus, ich bin kein Funktionär, ich habe nicht so viele Ambitionen, dass ich mich mit dieser Kärrnerarbeit befassen wollte. Vorerst kann ich über meine eigene Zukunft noch nichts sagen. Im Moment soll es so laufen wie es läuft.

Jetzt bin ich in Berlin. Ich habe vor hier zu leben. Mir gefällt es hier sehr. Ich hatte ein etwas schöpferisch-snobistisches Verhältnis zu der Art und Weise, wie man lebt, aber als ich nach Berlin kam und sah, dass es das hier nicht gibt, verstand ich, dass das absolut meine Stadt ist.

Natürlich sind wir in Moskau sehr verwöhnt, denn Moskau ist absolut eine Vierundzwanzigstundenstadt. Der Service arbeitet auf höchstem Niveau, wegen der großen Konkurrenz. Davon kann Berlin nur träumen. In Moskau findet man alles, zu jeder Tages- und Nachtzeit, zu jeder für dich interessanten Summe. Man überlegt kurz, geht ins Internet, und eine halbe Stunde später hast du alles gefunden. So etwas gibt es hier nicht. Ich stelle mich um. Aber das ist überhaupt nicht kritisch.

Mit Nikolai Medvedev sprach Tatiana Firsova am 6.11.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine, Russland und Belarus zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

Categories: Deutsch, Karenina, QuellenTags: , Daily Views: 1Total Views: 39
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