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Proteste in Israel: „Denn, ach, die Leidenschaft macht blind“

Published On: 20. März 2023 12:00

Eine Justizreform in Israel bringt auch viele hierzulande in Wallung. Im Kern aber geht es darum mit diesem Vehikel die Regierung Netanjahu zu stürzen. Alle Schleusen sind geöffnet, die trüben Wasser sinnloser Stigmatisierung ergießen sich über uns, sobald wir einen Blick in die Medien riskieren.

In Israel versucht eine motivierte, lautstarke Minderheit seit einigen Wochen, die eben gewählte sechste Regierung Netanyahu zu stürzen. Dazu finden jeden Samstagabend Massendemonstrationen statt, meist in den großen Wirtschaftszentren Tel Aviv und Haifa, neuerdings auch so genannte „Days of Disruption“, an denen der Verkehr – vor allem auf dem zentralen Ayalon Highway – und andere vitale Funktionen des Landes gezielt gestört werden. Der Effekt ist enorm: weltweite Aufmerksamkeit, die guten Ratschläge und die „Besorgnis“ tausender Außenstehender. Leidtragende der spektakulären Aktionen sind – wie bei den deutschen „Klima-Klebern“ – unbeteiligte, weitgehend unschuldige Mitbürger, die in Verkehrsstaus warten und alle möglichen Einbußen hinnehmen müssen.

Das eigentliche Ziel vieler Demonstranten – der Sturz einer zwar demokratisch und mehrheitlich gewählten, doch ihnen unliebsamen Regierung – wird nicht offen deklariert. Offiziell richten sich die das Land erschütternden Proteste gegen eine von dieser Regierung geplante „Justizreform“, von der die meisten Israelis, mich eingeschlossen, nicht genug verstehen, um wirklich mitreden zu können. Offensichtlich ist, dass Israels Oberstes Gericht einzigartige Rechte und Machtmittel hat, die es in diesem Extrem in anderen westlichen Demokratien nicht gibt. Deshalb hat eine Justizreform auch viele Fürsprecher außerhalb der Regierung, sie werden jedoch in den Medien weniger gern erwähnt. Einer der prominenten Befürworter der Reform, der Nobelpreisträger und Mathematiker Israel Aumann, erklärte: 

„Es sollte möglich sein, ein Gesetz durch das Oberste Gericht für ungültig zu erklären, aber nicht so einfach, wie es jetzt der Fall ist. Heute kann ein Gremium von drei Richtern ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz außer Kraft setzen, wenn zwei Richter dafür und einer dagegen sind. Das muss geändert werden.“

Hinsichtlich der Souveränität der Gerichte könnte Deutschland viel von Israel lernen

Solche Urteile des Obersten Gerichts ergehen oft binnen weniger Tage. Auch Petitionen israelischer Bürger – nicht selten israelischer Rechtsanwälte im Auftrag palästinensischer Petitenten, die eigentlich keine israelischen Staatsbürger sind – werden innerhalb weniger Wochen (und mit auffallend geringen Gebühren) vom Obersten Gericht entschieden. Zum Vergleich: Das deutsche Bundesverfassungsgericht brauchte zweieinhalb Jahre, um den offenen Verfassungsbruch der Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer Einmischung in die Wahl eines Thüringer Ministerpräsidenten auch nur festzustellen – für Konsequenzen war es nach der Verschleppung des Urteils ohnehin zu spät. Kein Wunder, möchte man sagen, da der Präsident dieses angeblich unabhängigen Gerichtshofs, Stephan Harbarth, ein alter Mitstreiter Angela Merkels in der CDU-Fraktion des Deutschen Bundestages ist, wo er neun Jahre lang eng mit ihr zusammenarbeitete – solche undemokratischen Verquickungen von Legislative und Judikative wären in Israel undenkbar. Was die Souveränität der Gerichte betrifft, könnte manches westliche Land, vor allem Deutschland, viel von Israel lernen. Es wirkt lachhaft, wenn sich deutsche Politiker – wie jüngst Scholz und Steinmeier – berufen fühlen, Israel Ratschläge in Sachen Demokratie und Gewaltenteilung zu geben.

Israel neigte in den letzten zwei Jahrzehnten eher zum anderen Extrem: zu einer zu großen Machtfülle des Obersten Gerichts. In Israel genügen derzeit zwei nicht vom Volk gewählte Richter, um ein Gesetz außer Kraft zu setzen, das vom gewählten Parlament beschlossen wurde. Diese Regelung sei elementar undemokratisch, argumentiert die jetzige Regierung und zeigt sich entschlossen, es mit Hilfe ihrer soliden Parlamentsmehrheit abzuändern. Was wird folgen, fragen sich besorgt die Anhänger der Opposition, vor allem angesichts in der Regierung massierter ultra-religiöser Gruppen, die bekanntermaßen zu Verboten und Restriktionen neigen.

Aus dieser wiederum in sich zersplitterten Szene werden wirklich einige schockierende Vorschläge gemacht, doch darin bereits „die Abschaffung der liberalen Demokratie“ zu sehen, wie der jüdische Israel-Schmäher Meron Mendel im deutschen Fernsehen, ist maßlos übertrieben. Die israelische Linke, in den letzten Wahlen ruhmlos untergegangen, arbeitet mit dystopisch dräuenden Visionen, die Angst und Schrecken auslösen sollen. Leichtfertige Lippen und furiose Federn zeichnen Israel als kommende „Diktatur“, faschistoiden Unterdrückungsstaat oder fundamentalistische „Theokratie“, alle Schleusen sind geöffnet, die trüben Wasser sinnloser Stigmatisierung ergießen sich über uns, sobald wir einen Blick in die Medien riskieren. Wie immer können sich die großen Zeitungen nicht auf ihre eigentliche Aufgabe, die Berichterstattung, beschränken, sondern müssen Partei ergreifen, die Stimmung anheizen und sich ihrerseits als Macht aufspielen.

Immer wieder ist Adjustierung vonnöten, darum geht es jetzt in Israel

Das Prinzip der Gewaltenteilung ist tief in der abendländischen Tradition verwurzelt, am tiefsten vermutlich bei den Juden. Bereits in der Bibel wird Volksführer Moses ein Ältestenrat zur Seite gestellt, ein Apparat von Richtern, ein weiterer von Priestern, die das Regieren und Rechtsprechen unter sich aufteilen und sich gegenseitig kontrollieren sollen. Aristoteles, Thomas von Aquin, John Locke und andere europäische Denker kamen im Lauf der Jahrhunderte auf die Idee der Gewaltenteilung zurück, schließlich umriss der französische Schriftsteller Charles de Montesquieu in seinem 1748 erschienenen staatstheoretischen Werk Vom Geist der Gesetze das Prinzip der Gewaltenteilung für die modernen westlichen Gesellschaften: eine Balance zwischen Legislative, der gesetzgebenden, Judikative, der richterlichen, und Exekutive, der vollziehenden Gewalt.

Heute sprechen wir von einer vierten Gewalt, den Massenmedien, inklusive den sogenannten „alternativen“, die es inzwischen an Macht und Einfluss durchaus mit den vorgenannten aufnehmen können. Checks and Balances nennt die amerikanische Verfassung das Prinzip gegenseitigen Ausgleichs und gegenseitiger Kontrolle. Ob Checks and Balances funktioniert, ist eine Frage der Proportion, des Maßes, der Feinabstimmung – keine der vier Gewalten darf auf Kosten der anderen überproportional viel Macht gewinnen. Immer wieder ist Adjustierung vonnöten, kritischer Blick und Korrektur. Und darum geht es jetzt in Israel. 

Ich bin, was die neue Regierung betrifft, neutral, denn ich habe keine der ihr angehörenden Parteien gewählt. Weder den von Netanjahu dominierten Likud noch die von sephardischen Juden bevorzugte strikt religiöse Shas-Partei, noch die Partei der Ultraorthodoxen, noch das Otzma jehudit („Jewish Power“) genannte Bündnis des radikalen Siedler-Anwalts Itamar Ben-Gvir. Dennoch erkenne ich an, dass diese Regierung von der Mehrheit der Israelis gewählt wurde. Und deshalb legitim ist und das Recht hat, zu regieren und Gesetze zu erlassen. Das scheint mir zunehmend das Problem in Demokratien: die Entscheidungen der Mehrheit zu respektieren, auch wenn sie mir selbst unsinnig, ja wahnsinnig erscheinen.

Der Minderheit bleiben alle möglichen Formen des Protests und Widerstandes. Ich habe die halbe Zeit meines Lebens damit verbracht und darf mich zu Recht als Spezialist auf diesem Gebiet bezeichnen. Mein Widerstand war allerdings immer schriftlich. Ich habe nie eine Straße blockiert und unschuldige Mitbürger daran gehindert, zur Arbeit, zum Kindergarten oder zur Oma ins Krankenhaus zu fahren. Oppositioneller Furor berechtigt für mein Gefühl nicht dazu, auf Fairness zu verzichten. „Denn, ach, die Leidenschaft macht blind“, spottete im neunzehnten Jahrhundert der Schweizer Literatur-Professor Rodolphe Töpffer in seiner Histoire de Monsieur Jabot, wenn seinen Protagonisten der wilde Aktivismus packte.  

Maßlosigkeit, Massenhysterie und sinnlose Wut

Auch heute sollten manche Protestler lieber einmal mehr als zuwenig darüber nachdenken, wozu sie sich hinreißen lassen. So wandte sich, angeführt vom Schriftsteller David Grossman, eine Hundertschaft von Intellektuellen aus dem Großraum Tel Aviv – der sich selbst irrtümlich für ganz Israel hält – mit einem Brief an die deutsche Regierung: man solle Netanyahu in Berlin nicht empfangen, da er zu Hause in Israel gerade die Demokratie abschaffe. Andere israelische Linke appellierten an die amerikanische Regierung, dem wegen seiner radikalen Auftritte umstrittenen Finanzminister Bezalel Smotrich kein Visum zu erteilen, damit er nicht zum geplanten Besuch in die Vereinigten Staaten einreisen könne. Hinter solchen Aktionen mag echte Empörung stehen, achtbare Sorge um ihr Land, dennoch wirkt es jämmerlich: dieses Betteln bei fremden Regierungen, ihnen zu einer Macht zu verhelfen, die ihnen die eigenen Landsleute nicht zugestehen wollen. Die darin enthaltene Arroganz und de-facto-Entmündigung aller Israelis, die nicht ihrer Meinung sind, macht den ganzen Ansatz unglaubwürdig.

Proteste gibt es derzeit, mal aufflackernd, mal abflauend, in fast allen westlichen Ländern. In Frankreich ist es die Rentenreform des Präsidenten Macron, die demnächst wieder Zehntausende auf die Straße bringen wird. Diese Proteste sind legitim, nicht selten notwendig. Sie gehören zu den Ausdrucksformen der öffentlichen Debatte in Demokratien. Es liegt in ihrer Natur, dass sie laut, womöglich gewalttätig werden, dass ihre Redner und Transparente eine radikale Sprache sprechen. Doch auch hier schaden Maßlosigkeit, Massenhysterie und sinnlose Wut.

Unsere Enkelin Sarah, achtzehn Jahre alt, ein sanftes Kind mit blauen Augen, ist am vergangenen Montag zu ihrem Wehrdienst bei der israelischen Armee eingerückt, und erst kurz zuvor erfuhren ihre wenig begeisterte Mutter und Großmutter, dass sie sich freiwillig zum Dienst in einer Kampfeinheit gemeldet hat. Als sie uns zum Abschied besuchen kam, sagte sie etwas, was ich nicht vergessen werde: Sie sei keine Anhängerin der Proteste, denn diese Leute verbreiteten – selbst, wenn sie ursprünglich gute Absichten geleitet hätten – einen das ganze Land vergiftenden Hass. Ich denke an sie, wenn ich in der Zeitung von neuen lautstarken Auftritten in Tel Aviv lese, während sie sich irgendwo in der Wüste dazu ausbilden lässt, Israels südliche Grenzen zu schützen.

Und nun tue auch ich das, was derzeit so viele aufgebrachte Israelis tun: Ich äußere mich zu den hiesigen Vorgängen durch ein Medium des Auslands. Hier in Israel würde mir in diesen Tagen ohnehin kaum jemand zuhören: Ich versuche eine neutrale, eine Mittlerposition zu vertreten, und das ist in Zeiten aufgeregter Gemüter die undankbarste Rolle, die sich denken lässt.

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