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Die Verteufelung Russlands

Published On: 29. März 2023 17:50

Der Weg nach Osten führt diesmal durch die Wüste. In David Leans Sand- und Schlachtenepos „Lawrence von Arabien“ verblüfft Peter O’Toole als titanblonder Brite die schicksalsgläubigen Araber, will trotz Warnungen umkehren, um einen Jungen zu retten. „Gasims Zeit ist gekommen. Es steht geschrieben“, beharren seine Begleiter. O’Toole unbeeindruckt: „Nichts steht geschrieben.“ Natürlich bringt er den Jungen zurück.

Bewundernd erkennen die Araber, dass für manche Männer wohl wirklich „nichts geschrieben steht“. Gegenüber dem westlichen Verständnis von Geschichte als ergebnisoffene Entwicklung wirkt der „orientalische“ Fatalismus gestrig und lahm.

Von der heutigen Debatte über Russland, die Ukraine und den Lauf der Zeit ist der Film weniger weit entfernt, als man denken könnte. Seit dem russischen Überfall versuchen langjährige Wissenschaftlerinnen und frisch gebackene Experten zu erklären, warum es so weit kommen musste. Neben viel Bedenkenswertem findet man da oft einen verblüffend altmodischen Ton, fast die Wiederkehr eines überwunden geglaubten Determinismus, wie man ihn hierzulande aus dem 19. Jahrhundert kennt, von Hegel, von Marx und Engels, in hartnäckig verteidigten Schwundstufen auch von der DDR-Historiografie. Es ist, grob formuliert, die Vorstellung davon, dass der Gang der Dinge bestimmten Gesetzen folgt und der Einzelne lediglich einen Beitrag leisten kann.

Am augenfälligsten ist diese Lesart im Urteil über die jüngste Vergangenheit, über die vermeintlich von Anfang an fahrlässige deutsche Russlandpolitik. Der Zeit-Redakteur Michael Thumann formuliert die Kritik exemplarisch in seinem Buch „Revanche“ (Verlag C.H. Beck): „Westliche Gutgläubigkeit, Kumpanei und ein riesiger Vertrauensvorschuss haben Wladimir Putin großgemacht“, schreibt er dort. Die deutsche Hoffnung auf Mäßigung durch wirtschaftliche Kooperationen sei eine Illusion gewesen, so Thumann. Schon einmal, 1922, habe mit dem Vertrag von Rapallo „das ganze Drama einer nicht zu Ende gedachten Verflechtung mit Russland seinen Lauf“ genommen. Deutschland hätte es besser wissen müssen. Es stand geschrieben.

Russlands Sonderweg

Es spricht nichts dagegen, aus der Geschichte zu lernen. Etwas flau wird einem allerdings angesichts der Geschwindigkeit, mit der selbst manche Historiker die Vergangenheit neu sortieren, sie „überdenken“, bis sie schlüssiger, widerspruchsfreier klingt.

Karl Schlögel ist inzwischen einer der sprachmächtigsten Propagandisten dieser neuen Russland-Exegese. Und sie erstreckt sich nicht nur auf den Putinismus, sondern auf die gesamte russische Geschichte. Der Krieg gegen ein Nachbarland, so hatte er auf der Frankfurter Buchmesse angekündigt, „wird uns veranlassen, auch die russische Geschichte neu zu denken“, zu untersuchen, was sie mit dem Moskauer Zarenreich zu tun habe, was mit dem Erbe des mongolischen Reichs: „Was hat das mit dem Sonderweg Russlands zu tun, der sich offensichtlich früh getrennt hat von dem Weg, den die Ukraine gegangen ist?“

Noch zugespitzter formulierte es der Berliner Politikwissenschaftler Jörg Himmelreich in der NZZ: „Viele Merkmale der Mongolenherrschaft sind für die russische politische Kultur bis heute prägend geblieben“, sind „asiatisch“, nicht „europäisch“. Von da aus ist es nur ein kleiner Schritt bis zum offenen Ressentiment: Russlands Kultur, so schreibt ein Twitter-Nutzer, bestehe aus „tausend Jahren Bestialität, Grausamkeit, Brutalität, Alkoholismus, Sklavenmentalität, Nihilismus und Fatalismus, die wohl epigenetisch verankert sind“. Es folgen dann Verweise auf die Dystopien Wladimir Sorokins, in denen alles längst enthalten gewesen sei, als seien Bücher wie „Der Tag des Opritschniks“ nicht belletristisch Bannflüche gewesen, sondern ernst gemeinte Zukunftsprognosen.

Russlands „imperialer Phantomschmerz“

Man würde diese Pathologisierung gern als Ausrutscher in den sozialen Medien abtun, aber so leicht ist es nicht. Dass zwischen Woronesch und Wladiwostok mehr oder minder gestörte psychische Wracks leben, die an einem Trauma, einem „psychomentalen Syndrom“ leiden, ist eine These, die vor allem der Publizist Gerd Koenen vertritt. Wieder ist es die gewaltige Geschichte, die die Russen heimsucht, ein „imperialer Phantomschmerz“.

Aber stimmt das nicht? Muss man nicht in die Geschichte blicken, um die Gegenwart zu begreifen? Was ist mit dem russischen Stalin-Kult, der Sowjet-Nostalgie, was mit Putins Rückgriffen auf Eroberer wie Peter I.? Beschwört das russische Fernsehen nicht Abend für Abend das eschatologische Ringen gegen den satanischen Westen, einen Überlebenskampf, den es schon immer geführt hat und immer führen müsse? Sind das nicht die oft beschriebenen „Kontinuitäten“ der Lüge, der Unterdrückung und der Unfreiheit?

Der Münchner Historiker Martin Schulze Wessel ist davon nicht überzeugt. In seinem soeben erschienenen Buch mit dem fragwürdigen Titel „Der Fluch des Imperiums“ (Verlag C.H. Beck) spricht er zwar von einer „langen imperialen Kontinuität“. Aber die populäre Lesart einer „durchgehend gewaltbetonten Tradition der russischen Geschichte“ lehnt er ab. Überhaupt hält er viele der oft zitierten imperialen Leitideen in ihrer Wirkung für überschätzt.

Die Vorstellungen von Moskau als „Drittem Rom“ etwa oder von einer „Russischen Welt“, also von einer „kulturellen Totalität des Russischen“, werden oft als Belege für eine immanente russische Aggressivität herangezogen, die sich erst in der Ukraine erneut Bahn bricht. Nach Schulze Wessel haben sie bei Weitem nicht die lange Dauer, die ihnen zugeschrieben wird. Die neue „Dämonisierung“ Russlands, schreibt er, sei nur ein „Zwilling der Romantisierung“.

Russlands Syndrom, Komplex, Trauma

Die Bonner Osteuropa-Historikerin Katja Makhotina sieht die versprochene Umdeutung der Vergangenheit ohnehin skeptisch. Man könne nicht ohne neue Quellen jedes Mal die Historie umschreiben, wenn es die Tagespolitik erfordere. Ebenso wenig dürfe man neuzeitliche Konzepte von Staatlichkeit oder Nationalismus dem jahrhundertelangen hochkomplexen Aushandlungsprozess in Osteuropa aufstülpen.

Noch größer sind ihre Vorbehalte gegenüber der Vorstellung, dass Russland oder zumindest Putin unter dem Eindruck eines „postimperialen Syndroms“ gar nicht anders handeln könnten: „Putin versucht auf rhetorischer Ebene, seine Handlungen historisch zu legitimieren. Doch nicht die Rhetorik ist handlungsleitend, sondern umgekehrt: Politische Praxis ruft die Rhetorik hervor“, sagt sie: „Begriffe wie Syndrom, Komplex, Trauma haben nichts verloren in unserer kognitiven Auseinandersetzung mit Quellen und Empirie.“

Die Beschreibung eines russischen „Sonderwegs“ schließlich hält sie für irreführend und anachronistisch, ein Echo früherer deutschen Debatten vielleicht, aber eben auch ein Echo der Kreml-Propaganda. Herolde eines russischen Exzeptionalismus wie der Vorsitzende der Russischen Historischen Gesellschaft, der Geheimdienstchef Sergej Naryschkin, verbreiten den Mythos von der russischen Mission, Europa zu befreien: „Russland, so sagen sie, sei nicht Europa und nicht Asien, sondern etwas ganz Besonderes“, so Makhotina. „Wir machen also dasselbe wie Putin, verorten uns aber moralisch auf der richtigen Seite.“

Der härteste Schlag gegen die Kreml-Indoktrination und zugleich der originellste Forschungsansatz für osteuropäische Geschichte steht damit fest: Was wäre, wenn man dieses gewaltige, gefährliche, vermeintlich rätselhafte Russland wie ein völlig normales Land behandelte? Die Ergebnisse wären ganz sicher interessant.

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 17.3.2023 / Alle Rechte vorbehalten: Süddeutsche Zeitung GmbH, München

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