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Der Sonntagsfahrer: „Klimaseniorinnen” in der Steilkurve

Published On: 2. April 2023 6:15

Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagen „Klimaseniorinnen“, weil der Klimawandel ihr Leben unzulässig verkürzen könnte. Dabei gibt es viel einfachere und kreativere Wege, sein Dasein auf dem Planeten zu verlängern.

Für die selbstbewusste und aktive Oma gibt es heutzutage eine Menge Angebote, die Welt nachhaltig zu beglücken. Da locken so illustre Vereinigungen wie „Omas gegen Rechts“ („Mit augenfälliger Symbolik erheben ältere Frauen, sogenannte OMAS, ihre Stimme zu den gefährlichen Problemen und Fragestellungen der heutigen Zeit“). Die Konkurrenz heißt Omas for Future („Wir wollen zeigen, dass jeder Mensch eine klimagerechte Gesellschaft aktiv mitgestalten kann. Dazu informieren wir darüber, welche Auswirkungen persönliche Konsum- und Lebensgewohnheiten auf die natürliche Balance des Lebens haben“). Ein bisschen praktischer blicken die „Leihomas“ durch die letzte Brille (Granny Aupair ist ein niveauvolles, mehrfach preisgekröntes Online-Portal, über das lebenserfahrene Frauen als Leihoma, auch Oma-Aupair, Aupair-Grannies oder mature best ager Nannys genannt, ins In- und ins Ausland vermittelt werden“. In China – andere Länder andere Sitten – wollen die Omas es hingegen noch einmal bei „Glamma Beijing“ krachen lassen, „Glamma“ steht nämlich für Glamour („Es geht auf ihrem Account um Mode, Make-up, ums Schönsein. Angefangen hat der Hype, als die Freundinnen in traditionellen Qipao-Kleidern und High Heels einen Shopping-Distrikt in Peking hinuntercatwalkten“). Damit stehen die flotten Chinesinnen einer bekannten deutschen Langlebensmaxime zweifellos am nächsten: „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“.

Aktuell liegen allerdings die „KlimaSeniorinnen“ im Aufmerksamkeitsrennen vorne. Dabei handelt es sich um eine Schweizer Vereinigung von „über 2000 älteren Damen mit einem Durchschnittsalter von 73 Jahren“, die dem fossilen Zeitalter ein Ende bereiten wollen. Laut Gründungsmitglied und Copräsidentin Rosemarie Wydler-Wälti verklagen sie die Schweizer Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, weil der Klimawandel zu „häufigeren Hitzewellen“ führe und damit das Leben der mature best ager Nannys unzulässig verkürzen könnte. „Hitzebedingte Todesfälle sind nicht zufällig über die Bevölkerung verteilt, sondern betreffen deutlich gehäuft ältere Menschen, vor allem Frauen – dies aufgrund ihrer altersbedingt beeinträchtigten Thermoregulation“, sagt Frau Wydler-Wälti. Das ist durchaus richtig, allerdings ein wenig verkürzt formuliert. 

Todesfälle sind ja grundsätzlich nicht zufällig verteilt, sondern betreffen immer deutlich gehäufter ältere Menschen, sehr zu meinem Bedauern, glauben Sie mir, Frau Wydler-Wälti. Und die Tatsache, dass es häufiger Frauen betrifft, mag auch zu damit zusammenhängen, dass die Opas sich auch ohne Hitzewelle schon vom Acker des Herren gemacht haben – werden sie in der Schweiz im Durchschnitt doch nur 81,1 statt wie die Frauen 85,2 Jahre alt. Kurzfristige Abhilfe könnte die Aupair-Granny von Welt übrigens durch einen sofortigen Umzug nach Hongkong schaffen, denn dort werden die Frauen im Schnitt sogar 88 Jahre alt. Außerdem könnte sie in der fernen Metropole der interessanten Frage nachgehen, warum Frau in Honkong älter wird als in Zürich, obwohl die Jahresdurchschnittstemperatur in Hongkong satte 25,2 Grad beträgt, gegenüber fröstelnden 9,8 Grad in Zürich, wo der Mensch sozusagen gefriergetrocknet endet wie ein isländischer Stockfisch. 

Per Individualklage „juristische Opfereigenschaft“ durchfechten

Erwähnenswert finde ich auch, dass die durchschnittliche Lebenserwartung (zum Zeitpunkt der Geburt) um das Jahr 1800 weltweit höchstens 30 Jahre betrug, mit 35 Jahren war man schon ein Methusalem. Mehr als die Hälfte der Menschen erreichten nicht das Erwachsenenalter. Seit dem 19. Jahrhundert stieg die Lebenserwartung immer schneller an, in schönem Einklang mit dem Fortschreiten der Industrialisierung und ihren Segnungen für das Wohlergehen der Erdenkinder. Mit dem Beginn der Industrialisierung stieg also nicht nur nur der CO2-Ausstoss  an, sondern geradezu deckungsgleich auch die Lebenserwartung. Das verführt mich zu folgendem steilen Gedanken: Je mehr CO2 die Menschheit ausstößt, desto älter wird sie. Ich würde mir das mit der Dekarbonisierung also nochmal überlegen. Zumindest in der gerade beliebten Form allgemeiner Wohlstandsvernichtung.

Der Weg von Klima-Aupair Wydler-Wälti zum approbierten Klimaopfer könnte beispielsweise durch folgendes von ihr selbst angeführtes biografisches Detail erschwert werden: „Viele von uns sind ehemalige 68erInnen und wir setzen uns schon lange für den Umweltschutz ein“, erzählt sie, „wir haben unter anderem auch mitgeholfen, in den 70igern das AKW-Kaiseraugst zu verhindern“. In Sachen Kohlendioxid könnte man also von einem gerontologischen Selbstmordkommando sprechen, schließlich wurde auf diese Weise die Hinwendung zu abgasfreier Energie unter Aufrechterhaltung des Wohlstandes nachhaltig verhindert. Es gilt hier das ewig güldene Bonmot: „Einen Tod muss man sterben“. Die Seniorin fällt sich an dieser Stelle sozusagen selbst zum Opfer, aber ich möchte sie nicht beim jüngsten Klimagericht in Straßburg verpfeifen, das gehört sich gegenüber einer alten Dame nicht. 

„Studien belegen, dass bei der ersten, großen Hitzewelle im Jahr 2003 in Europa tausende ältere Menschen starben, vorwiegend ältere Frauen“, meint die Klimaseniorin, die vor dem Menschenrechtsgerichtshof per Individualklage ihre „juristische Opfereigenschaft“ durchfechten muss, so sie denn Aussicht auf das ewige Leben ohne Hitzewellen haben will.

Die Hitzeperiode von 2003, immerhin 20 Jahre her, machte damals vor allem in Frankreich Schlagzeilen als „grand Canicule“. Auch hier stimmt es, dass sehr viele ältere Menschen starben, wozu allerdings auch ein kleines meist unerwähntes Detail gehört. Zahllose ältere Menschen lebten nämlich ohne jeden Kontakt zu Nachbarn, Freunden oder Kindern – und starben in jener glühenden Sommerhitze in völliger Einsamkeit in ihren Mansarden unterm Pariser Blechdach. Und jenen in den Pflegeinrichtungen wurde auch nicht geholfen, beispielsweise öfter mal ein Glas Wasser gereicht. Im August waren Familienangehörige, Betreuer und Ärztinnen allesamt im Urlaub – oft ohne dass sie sich untereinander abgestimmt oder eine Vertrauensperson beauftragt hatten, öfter mal nach dem Rechten zu sehen. 

Eine soziale Katastrophe, keine Klimakatastrophe

45 Prozent der alten Menschen starben in Spitälern und Kliniken, 19 Prozent in Altersheimen – und 35 Prozent zu Hause. Unter den 75- bis 94-Jährigen schnellte die Sterblichkeit um 70 Prozent in die Höhe, unter den über 95-Jährigen gar um 120 Prozent. In diesen Altersklassen waren die Frauen fast doppelt so stark betroffen wie Männer (dieses Alter wird häufiger von Frauen erreicht als von Männern). Frankreich erlebte also eine soziale Katastrophe aus Verantwortungslosigkeit und Gleichgültigkeit, keine Klimakatastrophe.

„Die Erkenntnis einer nationalen Katastrophe für ein Land, das sich als sozial versteht, aber im Alltag nur wenig Solidarität kennt, ließ nicht auf sich warten“, schreibt der österreichische Standard, „mehrere Untersuchungsberichte legten die Missstände offen, und die Regierung reagierte einmal sehr prompt“. Die 7.400 öffentlichen Altersheime im Land wurden zu den erforderlichen Maßnahmen verpflichtet und auch entsprechende Notfallpläne für alte Menschen zuhause beschlossen, „diese Maßnahmen haben sich als wirksam erwiesen“ so Der Standard , „in Hitzeperioden seit 2003 ist die Sterblichkeit in deutlich niedrigeren Dimensionen geblieben.“ 

Wer seiner Oma ein langes Leben wünscht, kann sich also an die Straße kleben oder stattdessen die alte Dame öfter mal im Heim besuchen – und raten Sie mal, welche Methode den unmittelbareren Erfolg zeitigt. Eine Sonntagsfahrt mit der Familienkutsche zu Omi mit einem schönen Kuchen im Gepäck kann meiner Erfahrung nach Wunder bewirken und ist jeden CO2-Ausstoß wert. „Wenn Sie eine Nachbarin kennen oder wenn Sie eine Großmutter haben, die weit weg wohnt; wenn Sie geschwächte oder betagte Personen in Ihrem Umfeld kennen, dann nehmen Sie sich Zeit, bei ihnen anzuklopfen, um sicherzugehen, dass sie genug trinken und dass es ihnen gutgeht,“ empfiehlt ein Sprecher der Pariser Stadtverwaltung.  

Mich persönlich hat die Lektüre der Statistiken zu diesem Thema aber auf eine ganz andere, rettende Idee gebracht. Die neue Möglichkeit, seinen Vornamen und Geschlecht selbst zu wählen, eröffnet doch ganz neue Horizonte jenseits des Katastrophen-Gedröhnes, schließlich soll man öfter mal was neues ausprobieren. In Deutschland wird die Durchschnittsfrau 83,4 Jahre alt, der durchschnittliche Mann aber nur 78,6 Jahre. Durch eine schlichte Formalität im Standesamt könnte ich meine potenzielle Restlaufzeit also als Frau klimaneutral um rund fünf Jahre verlängern. Und wenn sie mich weiter so ärgern, dann ziehe ich danach nach Hongkong und werde dort 88. 

Lesen Sie zum Thema Klimatote durch Hitzewellen auch:

Von Hitze und Kaeltetoten – journalismus im Klimafieber

Nimmt die Zahl der Hitzetoten in Deutschland zu?  

Hitzetote – noch einmal zur Abkühlung

Von Dirk Maxeiner ist in der Achgut-Edition erschienen: „Hilfe, mein Hund überholt mich rechts. Bekenntnisse eines Sonntagsfahrers.“ Ideal für Schwarze, Weiße, Rote, Grüne, Gelbe, Blaue, sämtliche Geschlechtsidentitäten sowie Hundebesitzer und Katzenliebhaber, als Zündkerze für jeden Anlass(er). Zu beziehen hier.

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