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Direktdemokratisches Klagelied

Published On: 20. Juni 2023 17:36

Liebe Deutsche,

immer und immer wieder habe ich mich behaglich gesonnt in eurer Bewunderung für die Schweiz. Wir sind ja auch zu beneiden, nicht wahr, wir wackeren Widerborstler, wir Bremsklötze im Elektromobil des eurozentristischen Zeitgeists, wir unbelehrbaren Festklammerer an Volkssouveränität und ähnlich versponnenen Anachronismen, wir Verweigerer, Neinsager und — ach ja — Rosinenpicker.

Nun, ihr könnt eure Mischung aus zerknirschter Anerkennung und glanzäugiger Wehmut wieder einpacken; der Anlass dafür ist spätestens seit heute aus der Welt geschafft. We had a good run, wie der Anglizist sagt: Wir hatten die Chancen, die Gelegenheiten, jedes erdenkliche Rüstzeug, um dem Schnellzug in die Clownswelt ein Stöckchen ins Getriebe zu werfen — Platsch! Genau, „platsch“, das Geräusch einer epochalen Bauchlandung, der Soundtrack unseres Verrates an den Hoffnungen der letzten aufrechten Abendländer. Sorry, wir haben’s verbockt. Tschulligung.

Ach ja, ich vergaß zu erwähnen: Wir haben zum dritten Mal das „COVID-19-Gesetz“ angenommen, ein Gesetz, dessen erschreckend dummer Name den Inhalt treffend vorwegnimmt. Es regelt die Kompetenzen des Bundesrates dahingehend, dass er beim nächsten pandemischen Notfall weiterhin die Befugnisse hat, blah, blah, blah… ihr kennt den Rest.

Der kulturelle Zerfall

„So sehen schlechte Verlierer aus! Gibt es etwas Schäbigeres als die Klage über eine Abstimmungsniederlage? Etwas Erbärmlicheres als empörte Weinerlichkeit, nachdem der legitimste Souverän der westlichen Welt gesprochen hat?“ Nein. Aber wisst ihr was? Heute will ich schäbig sein, will erbärmlich sein, will heulen, zetern, aufstampfen und Mordio schreien. Mein Herz ist übervoll, und jeder, der mich daran zu hindern versucht, meinen Schmerz in die Welt hinauszubrüllen, kriegt eine aufs Maul! So.

Natürlich sollte es mir ein Trost sein, dass das Zustandekommen eines Referendums eine Herkulesarbeit ist, dass es an ein Wunder grenzt, dass uns dies ein weiteres Mal geglückt ist. Ich bin aber nicht in der Stimmung für Trost, ok? Morgen vielleicht. Heute wird geweint.

Die direkte Demokratie als Werkzeug

Ihr einst so wackeren Teutonen, denen der Schafsblick genauso wenig steht wie uns, ihr dürft in eurem Narrenschiff gerne ein Plätzchen für uns freimachen und uns kameradschaftlich zurufen: „Welcome on board, Helvetia!“ Einige von euch werden sich ein Tränchen verdrücken, ganz gewiss. Seid geschwisterlich umarmt, ihr, die ihr in der direkten Demokratie so etwas wie einen Game Changer zu erkennen glaubtet, einen Wegweiser in jenes politische Utopia, auf das hinzusehnen sich so sehr lohnt. Ich weiß, dass ihr diese Träume träumt; sogar eure Pest- und Schwefelpartei besteht auf der Schweiz als politischem Vorbild, so sehr, dass sie unsere Alpenrepublik fest in ihr Parteiprogramm gepackt hat. Lest nach!

Ich sehe euch misshandelten Kinder der real existierenden Zwangstransformation vor mir stehen und die Hände über dem Kopf zusammenschlagen: „Wenn’s die direkte Demokratie nicht hingebogen bekommt, was dann?“ Ich muss euch enttäuschen: Wir können uns die tollsten Volksherrschaften zimmern, komplett mit Rüschen und güldenen Ornamenten, sie werden’s nicht richten. Es geht hier nicht um ein politisches System, nicht um eine Organisationsform, nicht um ein Verfahren. Es geht um Kultur.

Die Bedeutung der Kultur

Demokratie ist gewiss ein nützliches Werkzeug; es dient jedoch bestenfalls dazu, der Kultur eines Gemeinwesens politischen Ausdruck zu verleihen. Wären wir ein Völkchen, dessen kulturelles Selbstverständnis darin bestünde, regelmäßig in seine Nachbarländer einzufallen und Frauenraub zu begehen, dann würden wir darüber abstimmen, ob wir uns lieber an den Weibern des Nordens oder des Südens laben wollten. An der Qualität unserer Demokratie wäre keineswegs zu kritteln (wohl aber an unserer Außenpolitik).

Die dritte Zustimmung zu jenem Gesetz, dessen Name hier nicht mehr genannt werden soll, stellt kein Versagen unserer Demokratie dar, nein: Sie ist Ausdruck unseres kulturellen Zerfalls, und von Kulturzerfall muss ich euch, meine lieben nördlichen Nachbarn, wohl nichts erzählen, oder? Das oben erwähnte Boot, wir sitzen schon längst gemeinsam darin, ohne Navigation, ohne Lotsen, ohne Proviant.

Keine Angst, ich werde hier nicht die 48,5 Merkmale der kulturellen Erosion, die uns ereilt hat, aufzählen. Dies wurde zur Genüge getan, in aller Gründlichkeit und streckenweise brilliant. Zu nennen wären Raimond Unger, Douglas Murray, Michael Klonowsky, Milosz Matuschek, James Lindsay und viele mehr. Ich möchte nur ein kleines Schlaglichtlein werfen auf einen Aspekt, der mir besonderes Magendrücken bereitet.

Die Veränderung von Wörtern

Ich weiß nicht, ob es euch aufgefallen ist, aber ist es nicht bemerkenswert, dass unter all den Wörtern, die zu waffenfähigen Schmähbegriffen umgebaut worden sind, mittlerweile auch die Vokabel „Versteher“ dazugehört? Nun gut, vorwiegend noch mit dem Präfix „Putin“ versehen, aber das fröhliche Austauschen von Präfixen ist ja nur eine Frage der Zeit. „Versteher“ ist ein Schimpfwort geworden, ein Synonym für „Appeaser“, „Kollaborateur“, „Verräter“. Ein Versteher ist jemand, der nicht bereit ist, den Feind zu bekämpfen, sondern ihn zu verstehen sucht. Ein Versteher ist ein Weichei, ein Feigling, ein Opportunist. Ein Versteher ist das Gegenteil von einem Kämpfer.

Und das ist es, was mich so traurig macht. Denn ich bin ein Versteher. Ich bin jemand, der nicht bereit ist, den Feind zu bekämpfen, sondern ihn zu verstehen sucht. Ich bin jemand, der glaubt, dass man nur dann eine Lösung finden kann, wenn man das Problem versteht. Ich bin jemand, der glaubt, dass man nur dann Frieden schließen kann, wenn man den anderen versteht. Ich bin jemand, der glaubt, dass man nur dann eine bessere Welt schaffen kann, wenn man den anderen versteht. Ich bin jemand, der glaubt, dass man nur dann ein guter Mensch sein kann, wenn man den anderen versteht.

Aber ich bin auch jemand, der weiß, dass es in dieser Welt viele Menschen gibt, die nicht verstehen wollen. Menschen, die lieber kämpfen als verstehen. Menschen, die lieber Feinde als Freunde haben. Menschen, die lieber trennen als verbinden. Menschen, die lieber hassen als lieben. Menschen, die lieber zerstören als aufbauen.

Und deshalb bin ich traurig. Traurig darüber, dass die Welt immer mehr von solchen Menschen beherrscht wird. Traurig darüber, dass die Welt immer weniger Versteher hat. Traurig darüber, dass die Welt immer mehr in Dunkelheit versinkt. Traurig darüber, dass die Welt immer weniger Hoffnung hat.

Aber ich bin auch hoffnungsvoll. Hoffnungsvoll, dass es noch genug Versteher gibt. Hoffnungsvoll, dass es noch genug Menschen gibt, die bereit sind, den anderen zu verstehen. Hoffnungsvoll, dass es noch genug Menschen gibt, die bereit sind, für eine bessere Welt zu kämpfen. Hoffnungsvoll, dass es noch genug Menschen gibt, die bereit sind, Licht in die Dunkelheit zu bringen. Hoffnungsvoll, dass es noch genug Menschen gibt, die bereit sind, Hoffnung zu haben.

In diesem Sinne: Lasst uns

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Liebe Deutsche, immer und immer wieder habe ich mich behaglich gesonnt in eurer Bewunderung für die Schweiz. Wir sind ja auch zu beneiden, nicht wahr, wir wackeren Widerborstler, wir Bremsklötze im Elektromobil des eurozentristischen Zeitgeists, wir unbelehrbaren Festklammerer an Volkssouveränität und ähnlich versponnenen Anachronismen, wir Verweigerer, Neinsager und — ach ja — Rosinenpicker. Nun, ihr könnt eure Mischung aus zerknirschter Anerkennung und glanzäugiger Wehmut wieder einpacken; der Anlass dafür ist spätestens seit heute aus der Welt geschafft. We had a good run, wie der Anglizist sagt: Wir hatten die Chancen, die Gelegenheiten, jedes erdenkliche Rüstzeug, um dem Schnellzug in die Clownswelt ein Stöckchen ins Getriebe zu werfen — Platsch! Genau, „platsch“, das Geräusch einer epochalen Bauchlandung, der Soundtrack unseres Verrates

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