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Sprache ohne Sein

Published On: 4. Juli 2023 22:15

Die Macht der Sprache im Dritten Reich

„Es gibt keine schlimmere Krankheit als den Verlust der individuellen Sprache, wenn ein Mensch eine kollektive Sprache gänzlich zu seiner privaten macht.“ – Olga Tokarczuk, Übungen im Fremdsein, Seite 94

Das Wort im Hals umgedreht zu bekommen ist nicht nur ein gut und gern beobachteter Gestus bei Narzissten, sondern zugleich eine Annäherung an das Lebensgefühl jener, die – trotz allen inneren Widerstands – die Sprache des Dritten Reiches zu ihrer eigenen machen mussten. Sie, die LTI, die Lingua Tertii Imperii, wie der Philologe Victor Klemperer sie in seinen Notizbüchern nannte, war schließlich mehr als ein Mittel der Kommunikation: Sie war Ausdruck und Distinktionsmerkmal der gesinnungsbasierten Zugehörigkeit der Rassenideologie unter Hitler, die zum Sprechchor gewordene braune Soße der Nationalsozialisten. Eingesetzt als mentales Unterjochungsinstrument, verdrehte sie den ursprünglichen Sinn von Sprache, die Menschen zu verbinden, in sein Gegenteil.

Anstatt Ausdruck menschlichen Bedürfnisses zu sein, hatte sich fortan alle Vernunft und jedes Gefühl allein an ihr auszurichten. Es galt: Die LTI dient nicht, ihr wird gedient. Was ihr nicht passt, wird passend gemacht. Und das ganz gleich, ob Medium, Masse oder doch noch Mensch – die LTI durchdrang jeden Winkel des sogenannten Miteinanders. Die Kategorien von privat und öffentlich galten für sie nicht. Alles in der LTI war Rede und alles war Öffentlichkeit. Jede Mitteilung und jedes Gespräch, jedes Gebet, jede Bitte und jeder Befehl hatte nur noch einen Zweck: den des Anrufs, der Anrede und Aufpeitschung zur Beschwörung des ewigen Reiches.

Sprache als kollektive Gedächtnisumkehr

Die von der LTI gewünschte, „gemeingermanische“ Wortbedeutung konnte anfangs noch dadurch hergestellt werden, sowohl dem Reden als auch dem Schreiben eine großzügige Prise „Volk“ beizumischen; alles als „volksnah“, „volksfremd“ oder „volksentstammt“ zu betiteln. Doch das Bekenntnis zu ihr verlangte ein zwanghaft zunehmendes Maß an Wirklichkeitsverneinung. Aus den anfänglichen Euphemismen von „verreist“ oder „fehlend“ wurde das spätere „geholt“ oder „der Endlösung zugeführt“. Und wo früher noch von „Mord“ gesprochen worden wäre, wurden nun Menschen „erledigt“ oder für „beendet“ erklärt, als wären sie Sachwerte. Je deklinierter die Sprache wurde, desto zementierter schien der Boden der Entmenschlichung.

Die Auffassung „niederen Lebens“ unterband jede Assoziation von Menschlichkeit und legitimierte jede Form von Misshandlung. Der Prozess einer kollektiven Gedächtnisumkehr hätte folglich nicht umfangreicher vollzogen werden können. War ein Begriff wie „erledigen“ erst einmal von der Realität seiner Bedeutung eingeholt, waren auch die Geschehnisse, die er bezeichnen sollte, so abstumpfend alltäglich geworden, „dass man sie eben als alltägliche und allgemeinübliche Vorgänge bezeichnet, statt sie in ihrer düsteren Schwere herauszuheben“. Damit war es für Klemperer diese Veränderung von Wortwerten und Worthäufigkeiten, die die Sprache durchtränkt und sie ungenießbar macht.

Indem sie sich in den Dienst eines fürchterlichen Systems stellte, verkehrte sie sich aus seiner Sicht in ein gleichsam öffentliches wie geheimes Werbemittel und verriet sich selbst. Aus geschichtlicher Sicht bedeutete dies für Klemperer die erneute Auslöschung dessen, „was dauernd im Gedächtnis eines Volkes oder der Menschheit lebt, weil es unmittelbare und dauernde Wirkung auf das Volksganze oder die ganze Menschheit ausübt.“ Die Neubesetzung von Sprache war für ihn gleichbedeutend mit dem Auslöschen des kollektiven Gedächtnisses und der mit diesem verbundenen kollektiven Bedürfnisse.

Sprache im Dienst des Systems

Bis heute gilt die LTI als die Sprache des Massenfanatismus. „Du bist nichts, dein Volk ist alles“, lautete eines ihrer Spruchbänder. Ihre Bedeutung zu ergründen, sie als das Mittel des Fanatisierens und der Massensuggestion festzumachen, das sie war – darin lag das Anliegen Klemperers. So schrieb er als Zeitzeuge und Überlebender des Holocausts später als Einleitung in seine Notizbücher: „Nein, die stärkste Wirkung wurde nicht durch Einzelreden ausgeübt, auch nicht durch Artikel oder Flugblätter, durch Plakate oder Fahnen, sie wurde durch nichts erzielt, was man mit bewusstem Denken oder bewusstem Fühlen in sich aufnehmen musste. Sondern der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch

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Sprache ohne Sein

„Es gibt keine schlimmere Krankheit als den Verlust der individuellen Sprache, wenn ein Mensch eine kollektive Sprache gänzlich zu seiner privaten macht.“ — Olga Tokarczuk, Übungen im Fremdsein, Seite 94 Man kann auch in der Sprache sterben Das Wort im Hals umgedreht zu bekommen ist nicht nur ein gut und gern beobachteter Gestus bei Narzissten, sondern zugleich eine Annäherung an das Lebensgefühl jener, die ― trotz allen inneren Widerstands ― die Sprache des Dritten Reiches zu ihrer eigenen machen mussten. Sie, die LTI, die Lingua Tertii Imperii, wie der Philologe Victor Klemperer sie in seinen Notizbüchern nannte, war schließlich mehr als ein Mittel der Kommunikation: Sie war Ausdruck und Distinktionsmerkmal der gesinnungsbasierten Zugehörigkeit der Rassenideologie unter Hitler, die zum Sprechchor

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