kontertext: Die Wahrnehmung des Älterwerdens

Johannes Kaiser / 9.11.2023 Eine ältere Frau berichtet über ältere Frauen, die noch etwas vom Leben wollen, auch Sex. Sie werden als liebevolle, beschützende Großmütter, etwas vergessliche, leicht demente Senioren, asexuelle Alte angesehen. Was für ein Irrtum. Auch sie verspüren noch Lust, sehnen sich nach körperlichem Kontakt und wissen sogar, wie man Sex als Waffe einsetzt. Das erzählt uns zumindest die englische Schriftstellerin Jane Campbell in 13 Geschichten in ihrem Debüt „Kleine Kratzer“, das nun auf Deutsch erschienen ist. Zum Beispiel die Geschichte „Edelmut“: Diese Geschichte handelt von Leo, einem 78-jährigen ehemaligen erfolgreichen Chirurgen. Er spaziert jeden Tag mit seinem hässlichen Monsterhund am Strand entlang. Arrogant, von sich überzeugt, ein Frauenheld. Die Erzählerin, im gleichen Alter, kategorisiert sich selbst als „abgetakelte Fregatte“ und hasst den Mann, den sie als „unfair großgewachsen, gutaussehend“ und „unfair mit Schönheit, Gesundheit und Reichtum beschenkt“ empfindet. Für sie ist er ein absolutes „Arschloch“, nicht zuletzt, weil er seine kleine dumme Frau Mattie tyrannisiert und sich hemmungslos herumtreibt. Als Mattie ins Krankenhaus muss, beschließt die Ich-Erzählerin, den Mann zu verführen und zu bestrafen. Sein Hund kommt ihr gerade recht. Skrupellos entwickelt sie einen abgefeimten, tückischen Plan und freut sich über seinen Erfolg. Nein, so stellt man sich keine alte Frau vor. Sie ist eine von 13 Frauen, die sich nichts gefallen lassen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und ihr Ende selbst bestimmen. Sie kämpfen um ihre Selbstbestimmung, selbst wenn sie im Krankenbett liegen. Es sind selbstbewusste alte Frauen, die sich zu wehren wissen, ihre Träume nicht aufgeben und nichts passiv ertragen. Die Sichtweise alter Frauen auf ihr Leben Jane Campbell, mittlerweile selbst über 80 Jahre alt, hat in ihrem früheren Berufsleben als Psychoanalytikerin in Oxford viele Notizhefte mit Geschichten von Patienten gefüllt, bevor sie begann, eigene Geschichten zu schreiben. Sie war bereits im Ruhestand und mit ihren Geschichten ist sie wahrscheinlich eine der ältesten Debütantinnen in der Literaturgeschichte. Ihre Geschichten tauchen tief in eine unbekannte Welt ein, die die Literatur bisher gemieden oder vergessen hat: die Welt der alten Frauen. Zum ersten Mal sind sie die „Heldinnen“ und ihre Erzählungen brechen eines der letzten Tabus: Auch alte Frauen haben Sex oder träumen davon. Dennoch unterscheiden sie sich in vielerlei Hinsicht von der Welt der Jüngeren. Sie wissen um ihre Gebrechlichkeit, ihre Endlichkeit, ihre gesundheitlichen und geistigen Einschränkungen. Und sie wissen, was von ihnen erwartet wird: nicht zu klagen, sich anzupassen, sich zu unterwerfen, zu schweigen. Dreizehnmal erzählt Jane Campbell, wie Frauen mit ihrem Alter umgehen, sich auflehnen, sich wehren, verzweifeln und träumend in ihre Vergangenheit zurückkehren. Starke Situationen, starke Bilder Die 86-jährige Susan liegt im Krankenhaus und verliebt sich in eine junge Pflegerin. Obwohl sie dagegen ankämpft, kann sie ihre Gefühle für die junge Frau nicht leugnen. Ihre Sympathie wird erwidert. Die Erzählerin der Geschichte „Katzenbuckel“, die Campbell bereits 2017 als erste ihrer Geschichten veröffentlicht hat, beklagt den Verlust von Erotik, Genuss und Befriedigung. Für die ehemalige Lehrerin ist das Altern ein „Prozess der Enteignung. Freiheit, Respekt, Lust, all das, was man früher selbstverständlich besessen hat, wird einem nach und nach genommen.“ So sitzt sie zu Hause mit einer Katze auf dem Schoß, das Bild einer friedlichen alten Frau, die strickt, während es in ihr brodelt. Solche Bilder tauchen immer wieder auf und erzählen, was die Protagonistinnen noch vom Leben erwarten und wie sie mit ihren Einschränkungen umgehen. Einige haben mit dem Leben abgeschlossen und sehen im selbstgewählten Tod eine friedliche Lösung. Es ist schwer, mit der Vergangenheit abzuschließen. Enttäuschend ist es, wenn sie einen ehemaligen Geliebten bewusst aufsuchen, der sie zwar wiedererkennt, sie aber mit seiner deutlich jüngeren Freundin allein lässt. Was bleibt, ist die Erinnerung und der Entschluss, sie auf drastische Weise zu bewahren. Die Macht der Fantasie Alle Geschichten erzählen schnörkellos, unverblümt und manchmal mit drastischer, ungeschminkter Wortwahl von früheren Affären, neu erwachten Hoffnungen und der Gewissheit, dass eine Lösung kaum vorstellbar ist. Alle Geschichten enden überraschend, unerwartet, verblüffend. An Fantasie mangelt es der Schriftstellerin nie. So erfindet sie angesichts einer Pandemie, Corona lässt grüßen, für alle über 70-Jährigen, also die besonders gefährdete Gruppe, eine Art Zwangsisolierung in speziellen Wohnblöcken. Für die quasi eingesp

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kontertext: Die Sichtbarkeit des Alters

Johannes Kaiser / 9.11.2023  Eine alte Frau schreibt über alte Frauen, die noch etwas wollen vom Leben, auch Sex. Sie gelten als liebvolle, behütende Omas, etwas vergessliche, leicht demente Seniorinnen, asexuelle Alte. Welch ein Irrtum. Auch sie verspüren noch Lust, sehnen sich nach körperlichem Kontakt, wissen sogar Sex als Waffe einzusetzen. Das jedenfalls erzählt uns die englische Schriftstellerin Jane Campbell in 13 Geschichten in ihrem jetzt auf Deutsch erschienenem Debüt Kleine Kratzer. Zum Beispiel die Erzählung «Edelmut» Diese Geschichte handelt vom achtundsiebzigjährigen Leo, einst ein erfolgreicher Chirurg. Er flaniert jeden Tag in einem kleinen englischen Küstenort mit seinem hässlichen Monster von Hund am Strand entlang. Arrogant, von sich überzeugt, ein Frauenheld. Die Erzählerin, gleichaltrig, Kategorie, «abgetakelte Fregatte» (so ihre eigene

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