Gegenargument: Lasst euch nicht täuschen!
Michel Mettler / 17.11.2023
Medien stehen unter Druck, ihre Konsumenten bequem zu bedienen. Doch wer wirklich verstehen will, muss sich selbst anstrengen. Vor nicht einmal zehn Jahren erlebte ein Dozent an der Kunsthochschule eine unangenehme Überraschung. Während er über philosophische Themen sprach und sich auf Nietzsche und seine Auswirkungen bezog, öffneten sich plötzlich Bildschirmfenster und die Studierenden begannen im Internet zu suchen und zu lesen. Sie verloren für einige Minuten ihre Aufmerksamkeit. Als die Studierenden dann ihre Meinung über den Dozenten abgeben sollten, hieß es: „Eigentlich ist er nett und sein Enthusiasmus ist rührend. Aber er setzt zu viel Wissen voraus und schafft es nicht, uns abzuholen.“
Ich habe das letzte Mal vor einem halben Jahr jemanden abgeholt, meinen gehbehinderten Onkel. Ich wollte ihm den steilen Weg zwischen dem Bahnhof und seiner Wohnung ersparen. Barrierefreie Zustände waren in meiner Jugend selten, man musste Hürden überwinden. Wer das nicht schaffte, verlor den Anschluss und wurde oft in minderwertige Berufe gedrängt. Fleißige und ehrgeizige Menschen wurden zwar gelobt, aber sie zahlten einen hohen Preis dafür. Sie wurden als Streber bezeichnet und galten als erotisch minderbemittelt. Meine Eltern hätten mir damals gesagt: „Wenn du dem Dozenten nicht folgen kannst, dann musst du dir das Wissen selbst aneignen. Das ist Lernen. Lernen tut weh und beginnt erst, wenn man etwas nicht versteht. Aber es lohnt sich. Du bekommst ein Zeugnis und wirst in die Freiheit entlassen.“
Die heutige Zeit hat einen Fetisch für Niederschwelligkeit entwickelt. Das Zauberwort „Inklusion“ wird oft benutzt, um Komplexität zu vereinfachen. Man soll alles auf einen gemeinsamen Nenner bringen, was zu einer Verkürzung führt. Schon Albert Einstein hat gesagt: „Man soll die
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kontertext: Lasst euch nicht abholen!
Michel Mettler / 17.11.2023 Medien unter Konkurrenzdruck chauffieren ihre Konsumenten bequem. Doch wer verstehen will, muss selber gehen. Nicht ganz zehn Jahre ist es her: Der Dozent an der Kunsthochschule redet sich ins Feuer, streift Philosophisches und bezieht sich auf Nietzsche und die Folgen. Die Quittung kommt sofort: Bildschirmfenster öffnen sich, Äpfelchen leuchten ihm entgegen, es wird gegoogelt und gelesen – für einige Minuten ist er alle Aufmerksamkeit los. Die zweite Quittung kommt, als die Studierenden ihn beurteilen sollen. Da heisst es dann: «Eigentlich ist er ein Netter, und seinen Enthusiasmus finden wir rührend. Nur setzt er halt viel zu viel Wissen voraus. Es gelingt ihm nicht, uns abzuholen.» Abgeholt habe ich zum letzten Mal vor einem halben Jahr jemanden
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