Der Mythos des Gleichgewichts – Das Streben nach Parität als Antrieb für die Aufrüstung

Parität in der Rüstung anzustreben, klingt gut. Zumindest zuerst. In Wirklichkeit hat sich das Streben nach Gleichgewicht oft als Motor einer wechselseitigen Aufrüstungsspirale erwiesen. Was stattdessen notwendig ist, ist eine Wiederbelebung des „Neuen Denkens“. Von Leo Ensel. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Podcast: Play in new window | Download

Stellen Sie sich bitte mal Folgendes vor: Ihr Nachbar im Haus nebenan ist ein, sagen wir, nicht besonders freundlicher Zeitgenosse. Manchmal fühlen Sie sich sogar regelrecht bedroht von ihm. Da Ihnen vor Jahren zu Ohren kam, er hätte in seiner Garage zehn Kanister Benzin gebunkert, mit denen er im Falle eines Streits mit Ihnen, nein: nicht – Gott bewahre!! – Ihr Haus abfackeln, aber doch mit einer solchen Tat, sollte er sich dazu (natürlich durch Sie) gezwungen fühlen, drohen könnte, haben Sie als Gegenmaßnahme seinerzeit in Ihrer Garage ebenfalls zehn Kanister Benzin gehortet. Seitdem konnten Sie jahrelang ruhig schlafen, schließlich hatten Sie in – unfreiwilliger, aber doch symmetrischer – Koordination mit Ihrem Nachbarn ein „Gleichgewicht des Schreckens“ hergestellt: Mit der glaubhaften Gegendrohung, im Falle eines Angriffs sein Haus ebenfalls niederzubrennen, hatten Sie mit Ihrem Nachbarn zwar keinen Frieden geschlossen, ihn aber doch immerhin so weit zivilisiert, dass aus dem latenten Konflikt kein offener Krieg werden konnte. Kurz: Sie hatten ihn abgeschreckt.

Die „Benzinkanisterlücke“
Wie gesagt, jahrelang funktionierte das gut. Nun wurde Ihnen jedoch kürzlich von einem guten Bekannten (zufälligerweise Tankstellenbesitzer) mitgeteilt, dass Ihr Nachbar in den letzten Monaten heimlich aufgerüstet hat. Statt zehn Kanistern lagern nun sage und schreibe 25 Kanister in seiner Garage, mit denen er Ihr Haus nicht nur einmal, sondern zweieinhalbmal in Schutt und Asche legen könnte – mit einem Wort: Ihr guter Bekannter hat eine höchst bedrohliche „Benzinkanisterlücke“ (ein „Petrol Barrel-Gap“) entdeckt, auf die Sie sofort reagieren müssen, wenn Sie Ihren hart erkämpften Frieden nicht fahrlässig aufs Spiel setzen wollen! Natürlich ließ Sie diese Bedrohung nicht ruhen, und kurze Zeit später entschieden Sie sich – wenn auch schweren Herzens, da die Anschaffung nicht ganz billig war -, aufzurüsten. Sie haben weitere 15 Kanister gekauft – und tatsächlich: Seitdem konnten Sie wieder viel besser schlafen! Das Gleichgewicht und die Parität waren wiederhergestellt, Ihnen konnte also nichts mehr passieren. Um ehrlich zu sein, aber das bleibt unter uns: Sie haben noch fünf zusätzliche Kanister gelagert. Denn in Wirklichkeit sind es nicht 25, sondern 30 Kanister, die Sie nun stolz Ihr Eigen nennen dürfen. Und mit denen könnten Sie im Ernstfall – der hoffentlich nie eintritt – das Haus Ihres bedrohlichen Nachbarn gleich dreimal abfackeln, während er Ihr Haus nur zweieinhalbmal zerstören kann. Sicher ist sicher. Aber das haben Sie natürlich nur getan, damit es niemals so weit kommt! Eine rein friedenserhaltende Maßnahme, versteht sich. Deshalb nennen Sie Ihre 30 Kanister manchmal augenzwinkernd „Peacekeeper“. Aber, wie es im Leben so ist: Nach kurzer Zeit kam die Sache ans Licht – hoffentlich hatte Ihr guter Bekannter, der Tankstellenbesitzer, nichts damit zu tun! – und Ihr Nachbar musste nun seinerseits eine bedrohliche Benzinkanisterlücke feststellen. Jedenfalls drohte er Ihnen mit einer noch nie dagewesenen massiven Aufrüstungswelle, mit der er Sie übertrumpfen würde. Schließlich wisse er sehr genau, wie begrenzt Ihr finanzielles Budget tatsächlich sei, trotz aller anderslautenden Behauptungen! Gemeinsame Obergrenzen Damit hat Ihr Nachbar tatsächlich Ihren wunden Punkt getroffen und Sie gezwungen, Ihre Strategie zu überdenken. Obwohl Sie immer noch alles abstreiten, bieten Sie ihm nun Rüstungskontrollverhandlungen mit dem Ziel gemeinsamer Obergrenzen an. Und siehe da: Ihr Nachbar lässt sich wider Erwarten darauf ein! Nach einem halben Jahr harter Verhandlungen ist es endlich geschafft: Sie einigen sich nicht nur auf eine gemeinsame Obergrenze von jeweils 50 Kanistern, sondern installieren auch ein ausgeklügeltes Kontrollregime. Und nicht nur das: Zusammen mit Ihrem unsympathischen Nachbarn verkünden Sie auf einer Pressekonferenz im ganzen Stadtviertel, dass Sie beide bereit sind, nach Erreichen des gemeinsamen Ziels – einer Parität auf der Grundlage von insgesamt 100 Benzinkanistern – Verhandlungen über koordinierte Abrüstungsschritte aufzunehmen! (Bevor dies geschieht, muss jedoch das Gleichgewicht auf dem vereinbarten Niveau hergestellt werden.) Das ganze Stadtviertel, das jahrelang unter dem Damoklesschwert gelebt hat, im Ernstfall als Geisel genommen zu werden, atmet erleichtert auf: Das Gleichgewicht wird bald wiederhergestellt sein, der Frieden ist also gesichert! Wirklich? Natürlich nicht! Tatsächlich hat sich die

Original Artikel Teaser

Mythos Gleichgewicht – Paritätsstreben als Motor der Aufrüstung

Parität in der Rüstung anzustreben, klingt gut. Jedenfalls zunächst. In Wirklichkeit erwies sich das Streben nach Gleichgewicht allzu oft als Motor einer wechselseitigen Aufrüstungsspirale. Was stattdessen nottut, ist eine Renaissance des „Neuen Denkens“. Von Leo Ensel. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Podcast: Play in new window | Download Stellen Sie sich bitte mal Folgendes vor: Ihr Nachbar im Haus nebenan ist ein, sagen wir, nicht besonders freundlicher Zeitgenosse. Manchmal fühlen Sie sich sogar regelrecht bedroht von ihm. Da Ihnen vor Jahren zu Ohren kam, er hätte in seiner Garage zehn Kanister Benzin gebunkert, mit denen er im Falle eines Streits mit Ihnen, nein: nicht – Gott bewahre!! – Ihr Haus abfackeln, aber doch mit einer solchen Tat, sollte

Details zu Mythos Gleichgewicht – Paritätsstreben als Motor der Aufrüstung