Gegentext: Die vorgeschriebene Liebe zum Nächsten

Michel Mettler / 31.12.2023

An diesen Tagen ist es üblich, mit seinen Liebsten zu feiern. Doch manchmal sind auch ungeliebte Verwandte dabei: Blutsverwandte. Haben Sie auch einen Bruder? Und denken Sie wie ich, dass dieser Mensch kein Recht hat, über Sie zu bestimmen, nur weil er durch dieselbe Tür zur Welt gekommen ist? Dann geht es Ihnen wie mir. Denn ausgerechnet zwischen den Jahren wird mein Bruder fünfzig und möchte diesen Tag mit Menschen feiern, die ihm etwas bedeuten. Offenbar zähle ich auch dazu, obwohl wir nichts miteinander zu besprechen haben. Sie lachen? Früher oder später wird auch Ihr Bruder einen runden Geburtstag feiern. Sie haben nichts dagegen, aber fragen sich vielleicht: „Muss ich wirklich dabei sein? Und woher nimmt er das Recht, mir stundenlang Fotos von den Möbeln, Reisen und Haustieren seiner Töchter zu zeigen? NUR WEIL ER MEIN BRUDER IST?“ Mein Bruder hat keine Töchter und wenn mich jemand fragen würde, warum ich kaum Kontakt zu ihm habe, würde ich sagen: „Es gibt keinen spezifischen Grund. Es ist die Kombination von allem. Ihr müsstet ihn so kennen wie ich und dann würdet ihr verstehen.“ Die Menschen in meiner Umgebung wollen mich nicht verstehen. Offenbar haben sie ihre Herzen voller Bruder- und Schwesterliebe. Offenbar leben sie ohne den Wunsch nach Ausbruch in einem Käfig, in dem politische Reden, Gemeinplätze und anzügliche Bemerkungen akzeptiert werden, die anderswo empört zurückgewiesen würden. Und in Kanada? In der Schweiz ist die Zwangsgemeinschaft der Familie ein fester Wert: Die Politik verehrt sie, die Kirche kleidet sie in einen seidenen Mantel. Vielleicht stellen Sie sich vor, wie viel einfacher es in Kanada wäre. Sie träumen ein wenig von diesem riesigen Land und stellen sich vor, wie Sie in unwegsamem Gelände leben und mit ein paar Skype-Anrufen im Jahr davonkommen könnten. Wer würde schon fünfhundert Meilen durch Permafrost reisen, um sich von einem betrunkenen Narzissten Vorwürfe anhören zu müssen? Der Familienkerker hat umso dickere Mauern, je kleiner ein Land ist und je stärker die soziale Kontrolle. Schauen Sie sich um: Fast jeder Ihrer Nachbarn hat Geschwister. Alle leben sie ihre Eintracht geradezu exzessiv aus. Sie sind ein Schwesterherz und eine Bruderseele, wenn sie auf die Terrasse treten. Sie winken sich zum Abschied zu und prahlen mit den Erfolgen des anderen. Ist es wirklich abnormal, einen Bruder widerlich zu finden, der mit seiner Anspruchshaltung, seinen Vorurteilen und seinem Mundgeruch alle quält? Es ist lange her, dass Sie zusammen auf dem Sofa eingeschlafen sind, während die Eltern sich leise gestritten haben. Eigentlich wäre es schön gewesen, so zusammen zu leben, wie man es aus Filmen kennt: emotional verbunden, mit Hund, Kleinwagen und Bergurlaub – eine Festung gegen die Kälte der Welt. Aber können Sie sich überhaupt daran erinnern, jemals mit Ihrem Bruder gespielt zu haben? Nur vage, denn Sie waren froh, als es vorbei war. Sie erinnern sich nur an einen

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kontertext: Die verordnete Nächstenliebe

Michel Mettler / 31.12.2023  In diesen Tagen soll man mit seinen Liebsten feiern. Doch da können auch herzhaft Ungeliebte dabei sein: Blutsverwandte. Haben auch Sie einen Bruder? Und denken Sie wie ich, dieser Mensch habe kein Recht, über Sie zu verfügen, nur weil er durch dieselbe Pforte zur Welt gekommen ist? Dann gleicht Ihre Lage der meinen. Denn ausgerechnet zwi­schen den Jahren wird mein Bruder fünfzig und will diesen Tag mit Menschen feiern, die ihm etwas bedeuten. Dazu zählt er offenbar auch mich, obwohl wir uns nichts zu sagen haben. Sie lachen? Früher oder später wird auch Ihr Bruder einen runden Geburtstag feiern. Sie werden nichts dagegen haben, sich aber vielleicht fragen: «Muss ich wirklich dabei sein? Und woher nimmt

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