Was hätten die Ukraine und der Westen tun sollen?

In der Debatte darüber, warum Russland in die Ukraine einmarschiert ist, macht der britische Soziologe und Forscher Noah Carl zwei grosse Lager aus, berichtet der Daily Sceptic. Er nennt sie das «Mearsheimer-Lager» und das «Nicht-Mearsheimer-Lager». John Maersheimer ist ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler, der seit Jahren die NATO-Expansion gegen Osten kritisiert.

Die Vertreter des «Mearsheimer-Lagers», insbesondere John Mearsheimer selbst, sähen den Hauptgrund für den russischen Einmarsch darin, dass man einer angestrebten NATO-Mitgliedschaft habe entgegenwirken und die bedrängten ethnisch russischen Ukrainer schützen wollte, erklärt Carl.

Für Vertreter des «Nicht-Mearsheimer-Lagers» hingegen sei es Wladimir Putins Revanchismus und Imperialismus. Gemäss diesem Lager wäre er früher oder später ohnehin in die Ukraine einmarschiert, auch wenn man auf die Gründe des «Mearsheimer-Lagers» gehört hätte.

Jene hätten eine klare Vorstellung davon, was die Ukraine und der Westen hätten tun sollen, um die gegenwärtige Krise zu vermeiden, so Carl. Etwa dies: Die Ukraine wird ein neutraler Staat, erkennt die Krim und die beiden abtrünnigen Republiken im Osten an und verspricht, die Rechte der ethnisch russischen Ukrainer zu respektieren.

Natürlich könne man nicht sicher sein, dass dieser Plan funktioniert hätte, stellt Carl fest. Es sei durchaus möglich, dass Russland auch dann eine Invasion gestartet hätte, wenn die Ukraine und der Westen alles oben Genannte erfüllt hätten. Eines sei allerdings sicher: Die Ukraine hat diese Dinge nicht getan, und Russland hat eine Invasion gestartet. Mit anderen Worten, wir wissen, dass die aktuelle Politik der Ukraine die russische Aggression nicht verhindert hat.

Das werfe die Frage auf, was die Ukraine nach Ansicht des «Nicht-Mearsheimer-Lagers» stattdessen hätte tun sollen. Selbst wenn man Russland die alleinige Schuld geben würde, könne eine Invasion nicht als gutes Ergebnis für die Ukraine angesehen werden. Somit lohne es sich sicherlich zu fragen, wie sie hätte vermieden werden können, konstatiert Carl.

Die Vertreter des «Nicht-Mearsheimer-Lagers» würden hingegen viel Zeit damit verbringen, sich über den schrecklichen Putin zu entrüsten; viel weniger als damit, was die Ukraine angesichts Putins angeblicher Schrecklichkeit hätte tun sollen.

Carl spekuliert, dass die Ukraine ihnen zufolge in den Jahren seit 2014 noch mehr Militärhilfe hätte anfordern sollen – da sie ja um eine bevorstehende Invasion wissen konnten. Das allerdings hätte Putin dann zu einem noch früheren Einmarsch veranlassen können. Oder hätte nach den «Nicht-Mearsheimern» die Ukraine gar keine Möglichkeit gehabt, eine russische Invasion zu verhindern – ausser dass sie Russland erlaubt hätten, das gesamte Land zu annektieren?

«Um es klar zu sagen: Das würde bedeuten, dass jedes andere mögliche Ergebnis genauso schlimm oder schlimmer gewesen wäre als das jetzige, was schwer zu glauben ist. Aber vielleicht haben sie ja recht. Um jedoch zu rechtfertigen, dass der vom «Mearsheimer-Lager» favorisierte Plan nicht zumindest ausprobiert wird, bedarf es eines extrem starken Arguments. Sie müssen erklären, warum die Umsetzung dieses Plans schlimmere Folgen gehabt hätte als den russischen Artilleriebeschuss ukrainischer Städte und die massenhafte Flucht aus dem Land», merkt Carl an.

Carl bleibt gegenüber der Position des «Nicht-Mearsheimer-Lagers» skeptisch – bis jemand aus diesem Lager erklärt, was die Ukraine und der Westen nach 2014 hätten tun sollen oder warum der vom «Mearsheimer-Lager» favorisierte Plan nicht einmal einen Versuch wert war.