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«Ich fühle, also bin ich»

Published On: 14. April 2022 0:05

Veröffentlicht am 14. April 2022 von LK.

Seit zwei Jahren bewegen sich viele Menschen auf einer Achterbahn zwischen Angst, Anpassung, Frust und Wut. Im Gespräch mit Corona-Transition erklärt Life-Coach Dr. phil. Fiona Waltraud Berle, wie Menschen wieder Zugang zu ihren Gefühlen erhalten und durch Wut in Bewegung kommen.

Corona-Transition: Was raten Sie Menschen, die durch die Corona-Krise aus der Bahn geworfen wurden und mutlos, ja, vielleicht gar depressiv geworden sind ?

Dr. phil. Fiona Waltraud Berle: Viele Menschen haben ihren Job verloren oder ihre Existenz ist gefährdet, weil sie Umsatzeinbrüche erlitten haben. Ich denke, dass die Arbeit im Homeoffice und die zunehmende Digitalisierung dazu führen, dass Menschen emotional einfrieren. Im Coaching bringe ich meine Klienten wieder in Kontakt mit ihren Empfindungen – auch mit der unterdrückten Wut. Leider ist die Wut in unserer Gesellschaft verpönt. Wut ist eine Emotion. «Motion» kommt ja vom Lateinischen «Bewegung». Wer Wut hat, ist nicht depressiv. Ich bekomme Menschen dazu, etwas zu bewegen, in den Lebensflow zu kommen, wenn sie wütend oder begeistert sind. Aus dem Lateinischen übersetzt heisst furor rasende Wut und zugleich glühende Begeisterung. Einer der Leitsprüche der Aufklärung war ja «Ich denke, also bin ich» des Philosophen René Descartes. Der portugiesische Neurowissenschaftler Antonio R. Damasio hat den Satz in «Ich fühle, also bin ich» umgemünzt. Die Emotionen machen den Menschen aus – neben dem Grosshirn. Erst wenn ich bewegt bin, kann ich auch etwas bewegen. Durch Bewegung – körperlich, intellektuell, emotional – werden Adrenalin, Noradrenalin und Serotonin ausgeschüttet, Aktions- und Glückshormone. Es ist ja heute weit verbreitet, möglichst cool zu sein. Wer aber nur über einen Bildschirm kommuniziert, wird entemotionalisiert und kann auch die Mimik, die Körpersprache seiner Mitmenschen nicht mehr entschlüsseln, was zur Kommunikationsfähigkeit gehört.

Worin liegt die Gefahr dieser Entemotionalisierung?

Sie hat aktuell auch marxistische Wurzeln. In den 1970er Jahren war es en vogue, die Kinder antiautoritär zu erziehen. Die wurden sich selber überlassen, nicht geführt, mit Belehrungen zugetextet. Die Folge davon: desorientierte Kinder ohne Übung im Umgang mit Gefühlen, die nur im Grosshirnmodus unterwegs waren. Durch pausenloses Reden und das Unterdrücken von Emotionen haben die Eltern ihre Kinder in diesen Grosshirnmodus gedrängt. Solche Personen tendieren dazu, ohne Empathie einen Plan zu verfolgen und ihre Emotionen auszuschalten. Ein gutes Beispiel dafür sind unsere heutigen Politiker in Deutschland.

An wen richtet sich ihr Coaching in erster Linie?

Ich coache hauptsächlich Führungskräfte und Unternehmer. Oft handelt es sich um hochbegabte, sehr intelligente Menschen, die jahrelang gegen ihre Emotionen gelebt haben. Die im Anpassungsdruck Wut und Empörung unterdrückten. Das führt zu einem Burnout. Solche Menschen müssen wieder in Bewegung kommen. Und ich bringe sie in Freude und Zuversicht. Die Konvois der kanadischen Trucker entstanden aus der Empörung. Wut, Zorn, Empörung gegen den Impfzwang war auch bei den Pflegekräften der Motor, für Selbstbestimmung den Job aufzugeben.

Hat die Zahl der Klienten und Klientinnen seit 2020 zugenommen?

Während der ersten Lockdowns kam gar keiner mehr. Ich nehme an, dass die Lebensplanung von vielen Menschen durchkreuzt war und sie sich erst einmal neu orientieren mussten. 2021 war ein umsatzstarkes Jahr. Die Menschen schienen sich an Corona gewöhnt zu haben und kehrten wieder zu ihren Problemen zurück.

Erleben Sie, dass bei vielen Menschen durch Corona ein Umbruch erfolgt und sie sich vielleicht Dinge trauen, die für sie vor zwei Jahren vielleicht noch unvollstellbar waren? Oder klammert sich die Mehrheit der Menschen an alte Strukturen und fällt es ihnen schwer loszulassen?

Ich denke, dass sich ein Grossteil der Menschen an die alten Strukturen klammert. Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Menschen an alles anpassen, was ihnen verordnet wird und sie es hinnehmen, dass ihre Freiheit so sehr eingeschränkt wird. Wenn ich Leuten Angst mache, dann ziehen sie sich in sich zurück. Man müsste überall Transparente mit der Aufschrift: «Empört euch!» aufhängen. Die meisten Menschen empören sich erst, wenn es an den eigenen Geldbeutel geht. Ich finde, dass man nicht nur über die Auswirkungen der Corona-Krise reden sollte. Es wurden ja bereits Unmengen von Büchern darüber geschrieben. Es müsste eine Art Action-Gruppen geben, die Menschen dazu bringen, in freudige oder zornige Bewegung zu geraten. Nur Bewegung bewegt.

Auf Ihrer Internetseite steht unter dem Punkt «Freude», dass Menschen nach dem langen Angst- und Maskentragen wieder Freude lernen müssten. Wie bringen Sie Menschen dazu, wieder in die Freude zu kommen?

Wenn Menschen erstarrt sind, wecke ich sie auf! Wer lacht, ist nicht traurig und kriegt Zuversicht – das ist Seelenmathematik. Dadurch erhalten sie eine neue Perspektive. Eine überangepasste Sängerin etwa habe ich provozierend so sehr aus der Reserve geholt, bis sie mehrere Wutsongs über mich geschrieben hat. Sie sagte: «Ich habe noch nie so authentische Songs getextet!» Meinen Klienten empfehle ich auch Fitboxen oder Joggen, um die Wut rauszulassen. Auch Schauspielunterricht hilft, weil man dort stark mit seinen eigenen Emotionen konfrontiert wird. Singen hilft sehr. Expression statt Implosion.

Durch die Corona-Krise und den aktuellen Ukraine-Konflikt sind sicherlich viele Menschen verunsichert und haben Zukunftsängste. Auf ihrer Website steht ein Kommentar einer Klientin, die schreibt: «Du wirst angefeuert, beseelt und angestiftet, ein rauschendes Leben zu führen, das sprüht und knallt!» Wie erreichen Sie das?

Meine Art des Coachings erstreckt sich über die intellektuelle und die emotionale Ebene. Ich helfe Menschen dabei, dass sie wieder mit ihren Gefühlen in Kontakt kommen. Dann erst kann man Lebensplanung machen. Durch Internet und ein digitales Leben ist bei vielen der Zugang zu den Emotionen gekappt. Sie führen – noch durch die verheerenden Lockdowns, das social distancing – kein analoges Leben. Ich arbeite seit 20 Jahren als Coach. Damals schrieb ich mir mit meinen Klienten noch lange Mails über Gott und die Welt. Ich beobachte seit einigen Jahren, dass die Mails immer kürzer werden. Schnell werden sie ins Smartphone getippt. Kaum einer hat noch die Musse, lange Texte zu schreiben. Darunter leidet das komplexe Denken. Ich kann doch meine emotionale Power nicht durch ein Smiley ausdrücken.

Fotografin: Dorothee Elfring, Barcelona be-artist.com

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Dr. phil. Fiona Waltraud Berle arbeitet seit über 20 Jahren als Life-Coach in München und Stuttgart. Sie hält regelmässig Vorträge, betreibt einen Blog und hat einige Bücher zu den Themen Selbstbewusstsein, Mut und – durch die Demenz ihrer Mutter bewegt – über die Pflegekatastrophe geschrieben.

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