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Kultur-Kompass: „Dienstboten“

Published On: 5. Juni 2022 10:00

Ulrich Greiner schreibt in seinem Buch „Dienstboten“: „Da die Ungleichheit keineswegs verschwunden ist, entstehen seltsame Verrenkungen. Man will keine Situation herbeiführen, die das soziale Gefälle allzu deutlich markiert.“

Wenn man sich die Selbstverständlichkeit anschaut, mit der in bestimmten Kreisen Lebensläufe „aufgehübscht“ oder in Dissertationen und Büchern „schludrigerweise“ Zitationen seitenweise als Eigenleistung ausgegeben werden, muss man feststellen: manche Gruppen meinen, sie lebten in einem Universum, wo Recht und Gesetz ausschließlich für sie außer Kraft treten. Diese Abgehobenheit erinnert unweigerlich an eine Mentalität, die wir meinten, schon längst hinter uns zu haben: das Denken in feudalen Kategorien. Oben, die Mächtigen, die gottähnlichen Wesen. Unten, die „vogelfreien“ Bediensteten, deren Lebensmittelpunkt das Glück der Mächtigen sei. Daher könnte man das, was wir gegenwärtig beobachten, auch einen „versteckten“ oder „verdeckten“ Feudalismus nennen. Unter anderem auf diesen Punkt geht der Journalist Ulrich Greiner in seinem Essay „Dienstboten. Von den Butlern bis zu den Engeln“ ein.

Sein Fokus auf die Dienstboten unserer Zeit, wie etwa Paketboten und IT-Spezialisten, bietet reichlich Denkanstöße. Zum Beispiel ob und inwiefern Volkssouveränität (Trend sinkender Wahlbeteiligung), Rechtsstaatlichkeit (einrichtungsbezogene Impfpflicht) und Pluralismus (zunehmende sexuelle Vielfalt bei gleichzeitig abnehmender akzeptierter Meinungsvielfalt) wanken, namentlich die Grundpfeiler eines demokratischen Systems. Oder inwiefern soziale Ungleichheit ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft ist: „Da die Ungleichheit keineswegs verschwunden ist, entstehen seltsame Verrenkungen, um nicht zu sagen Verlogenheiten. Man will keine Situation herbeiführen, die das soziale Gefälle allzu deutlich markiert“.

Banalitäten werden zu lebenswichtigen Entscheidungen erhöht

Doch zurück zum Essay: Greiner schafft es gekonnt, den Leser in die Welt der Dienstboten zu entführen. Ebenso wissenschaftliche Untersuchungen und Gedanken wie literarische und filmische Darstellungen fließen hierbei mit ein. Da wären zum einen „Die höfische Gesellschaft“ des Soziologen Norbert Elias oder die bekannte Abhandlung der Dialektik von Herr und Knecht seitens G. W. F. Hegels, Theodor Fontanes „Der Stechlin“ oder die britische Fernsehserie „Downtown Abbey“. Sie alle kreisen um das Verhältnis von Herrschaft und Dienerschaft.

So beschreibt Greiner nicht nur die Lebensumstände der Dienerschaft während des Bürgertums, sondern geht auch auf jene der Herrschaft ein, sowie auf die wechselseitige Beziehung beider Gruppen. Es wird ersichtlich: Während die Herrschaften für sich selbst den Mittelpunkt der Welt darstellen, kreisen die Diener um sie als Lebensmittelpunkt herum. Und während alltägliche Banalitäten zu lebenswichtigen Entscheidungen erhöht werden, kämpft die „einfache Bevölkerung“ ums Überleben. Greiner verdeutlicht diesen Sachverhalt mittels Stefan Zweigs „Marie Antoinette“: „[…] all diese wahrhafte Welt außerhalb ihres Adelkreises war faktisch nicht für sie vorhanden“.

Das weckt unweigerlich Assoziationen zu unserer Zeit: Auf der einen Seite eine von der Wirklichkeit der Mehrheit abgekoppelte Gruppe von Politikern und Wissenschaftlern, Medienleuten und Kulturschaffenden, die sich nur für Belange einzig ihrer Lebenswirklichkeit interessiert und engagiert. Auf der anderen Seite die „einfache“ Bevölkerung, die tagein tagaus überlegt, wie sie Kosten für den alltäglichen Bedarf, Kindererziehung und gelegentliche Ausflüge finanzieren kann.

Nicht nur im eigenen Wirkungsradius dümpeln

Ebendiese Existenz verschiedener Lebenswirklichkeiten ist jedoch Greiner durchaus bewusst, weswegen er nicht unkritisch mit sich selbst und seiner Zunft ins Gericht geht: „Aber ich [Ulrich Greiner] frage mich zum Beispiel, ob nicht die kommentierende Klasse in den Medien (zu der auch ich zähle) nicht ebenso Teil der ‚Leisure Class‘ ist wie der in den letzten Dezennien immer weiter gewachsene kulturelle Sektor mit all seinen zum Teil staatlich alimentierten Positionen und Institutionen.“ Dieser Wille zur Selbstreflexion, der die Grundlage dafür darstellt, die Wirklichkeit als Ganzes zu erfassen und nicht nur im eigenen Wirkungsradius zu dümpeln, fehlt vielen.

So ist es fast unausweichlich, dass Greiner die Welt der Sterblichen verlässt und sich zum Beispiel den Boten Gottes nähert, den Engeln, und ihren konkreten Aufgaben der Dienerschaft. Oder dass er sich mit einer Form des freiwilligen Dienens auseinandersetzt, die mittlerweile ausgedient hat, namentlich die Liebe: „Die Selbstverständlichkeit familiären Dienens ist fraglich geworden.“ Stattdessen fröne man heutzutage Ideologien, wie etwa der Rettung des Klimas, stellt Greiner fest.

Im Gegensatz hierzu dient Greiner, bei seinen Darstellungen, zwei anderen, unideologische Herren: Einerseits der literarischen Kunst, andererseits einer möglichst objektiven Darstellung. So verwundert es nicht, dass er dem Leser eine facettenreiche und intellektuell unterhaltsame Einführung in die Thematik der Dienstboten darbietet. Dass er hierbei einem kaleidoskopischen Aufbau folgt, tut der Lektüre keinen Abbruch. Im Gegenteil. Die fünfzehn „Kapitelchen“, die sich auf über 140 Seiten erstrecken, können, kreuz und quer, jedes einzeln für sich, oder alle in einem Rutsch, gelesen werden. Doch egal, für welche Herangehensweise man sich entscheidet, fest steht: Der Lesegenuss bleibt maximal.

„Dienstboten. Von den Butlern bis zu den Engeln“ von Ulrich Greiner, 2022, Springe: zu Klampen. Hier bestellbar.

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