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Ins Gefängnis geht jeder Zweite wegen eines Armutsdelikts

Published On: 9. Juni 2022 9:53

Andres Eberhard /  Wer wegen Schwarzfahrens oder einer Parkbusse in den Bau muss, hat schlicht kein Geld. Die Freiheitsstrafen kosten aber viel.

7345 Menschen mussten im Jahr 2020 ins Gefängnis. In 45 Prozent oder fast der Hälfte der Fälle war eine Busse oder Geldstrafe der Grund für die Einweisung – entweder wegen einer sogenannten Bussenumwandlung oder im Rahmen einer Ersatzfreiheitsstrafe. In den Jahren davor lag dieser Anteil gar leicht über 50 Prozent. Das zeigen Daten des Bundesamtes für Statistik.

Bei der Mehrheit dieser Ersatzfreiheitsstrafen handelt es sich um Schwarzfahren im öffentlichen Verkehr oder um Verstösse gegen das Strassenverkehrsgesetz (also z.B. Falschparken oder Geschwindigkeitsüberschreitungen). Dies hat eine Zürcher Studie aus dem Jahr 2019 ergeben.

Das heisst: fast die Hälfte muss wegen eines Armutsdeliktes ins Gefängnis. Denn zwar fährt längst nicht jeder schwarz, weil er oder sie kein Geld hat. Aber wer die Busse bis zum Haftantritt nicht bezahlt, der hat mutmasslich wirklich keines.

Dies stellt das Betreibungsverfahren sicher: Wer eine Rechnung nicht begleicht, wird zunächst betrieben. Bezahlt er oder sie noch immer nicht, folgt die Lohnpfändung. Das heisst, dass der Staat den geschuldeten Betrag bis zum betreibungsrechlichen Existenzminimum direkt vom Lohn abzieht. Oder anders gesagt: Alles, was übers Notwendigste hinausgeht, wird gepfändet. Das macht kaum jemand freiwillig, insbesondere nicht, weil auch der Arbeitgeber von der Lohnpfändung erfährt. Auch allfälliges Vermögen fällt der Pfändung zum Opfer.

«Die Massnahme ist einschneidend und richtet sich gezielt gegen jene, die eh schon nichts haben», sagte Lorenz Bertsch, Leiter der Caritas-Schuldenberatung St. Gallen-Appenzell kürzlich gegenüber der Wochenzeitung zu jener grossen Anzahl an Freiheitsstrafen, die auf Bussen oder Geldstrafen zurückgehen.

Typisches Delikt: Schwarzfahren

Als typisches Armutsdelikt gilt Schwarzfahren. Denn im Gegensatz zu Delinquenten im Strassenverkehr, die zumindest Zugang zu einem Auto haben müssen, verfügen ÖV-NutzerInnen, die ihre Busse nicht bezahlen, über fast keine Mittel. Die Studie aus Zürich beziffert deren durchschnittliches Jahreseinkommen auf gerade einmal 30’000 Franken.

Die Freiheitsstrafen kosten die Allgemeinheit einiges: Pro Person und Tag rechnet der Justizvollzug mit Kosten von 216 Franken. Zwar bleiben die meisten nur wenige Tage hinter Gitter, denn die Hälfte der Ersatzfreiheitsstrafen dauert weniger als acht Tage (pro angebrochene 100 Franken Geldstrafe muss man einen Tag in den Bau). Jedoch kommt wegen der grossen Anzahl an Delikten schnell ein Betrag von mehreren Millionen Franken zustande, welchen die öffentliche Hand für die «Bestrafung der Armut» aufwerfen muss.

Eine Alternative zur teuren und wenig sinnvollen «Bestrafung von Armut» gibt es bereits: Statt mit dem Gang ins Gefängnis können Betroffene auch mit gemeinnütziger Arbeit Busse zu tun. Das Problem: Die Betroffenen müssten dafür einen Antrag stellen, wobei die Voraussetzungen dafür je nach Kanton variieren. Von dieser Möglichkeit wissen jedoch die wenigsten, und darauf hingewiesen werden sie meist nicht.

Deutschland: Keine Haft dank Spenden

Auch in anderen Ländern kommt es wegen Schwarzfahrens zu vielen Haftstrafen. In Deutschland wandern Zehntausende pro Jahr ins Gefängnis. Aus diesem Grund diskutiert die Regierung derzeit darüber, das Fahren ohne gültigen Fahrschein zu einer sogenannten «Ordnungswidrigkeit» herabzustufen. Dies hätte wesentlich geringere Geldstrafen zur Folge. 

Eine bemerkenswerte Soforthilfe leistet eine private Initiative mit dem Namen «Freiheitsfonds». Diese begleicht durch Spenden die Geldstrafen von Gefangenen. Initiator Arne Semsrott sagte gegenüber dem ZDF, dass es häufig die Justizbeamten selbst seien, welche darum bitten würden, die Menschen freizukaufen. Mit dem jetzigen Gesetzesparagrafen, der das «Erschleichen einer Leistung» mit bis zu einem Jahr Haft bestrafen kann, sei niemandem geholfen. «Den Gefangenen nicht, weil sie ohnehin gestraft sind, den Steuerzahlern nicht und der Justiz auch nicht.»

Andernorts ist ÖV gratis

Andernorts geht man noch einen Schritt weiter: In Talinn, Luxemburg sowie in 35 Städten Frankreichs ist der ÖV für alle gratis. In Talinn* und Luxemburg wird damit – angeblich erfolgreich – versucht, die Städte von Staus zu entlasten. Und in den französischen Städten wird der Gratis-ÖV über eine Steuer für ansässige Unternehmen finanziert – aus der Logik heraus, dass deren Angestellte pendeln müssen.

Insbesondere würden Armutsbetroffene vom Gratis-ÖV profitieren. In der Schweiz sorgte zuletzt die Junge SP der Stadt Zürich für Aufsehen, als sie 2021 aus eben diesem Grund eine Initiative für einen Gratis-ÖV in der Stadt Zürich einreichten. Die Jungpartei rechnete vor, dass dies etwa 300 Millionen Franken pro Jahr kosten würde. Der Stadtrat erklärte die Initiative allerdings für ungültig. In der Bundesverfassung ist festgehalten, dass die Kosten des öffentlichen Verkehrs «zu einem angemessenen Teil» durch Ticketpreise gedeckt werden müssen.

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* Touristinnen und Touristen müssen im ÖV bezahlen. Nähere Informationen hier.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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