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Die Gesundheits-Arena blickte nicht über den Tellerrand

Published On: 11. Juni 2022 10:16

Urs P. Gasche /  Über Reformen, welche Kosten wirklich senken, wird nicht geredet, weil sie im Parlament keine Chance haben. Prämien steigen weiter.

«Woran krankt unser Gesundheitswesen?» Auf diese Frage sollte die 80-minütige Arena-Sendung vom 10. Juni Antworten geben. Mitnichten.

Moderator Sandro Brotz stellte als «wichtigste Akteure» sieben Männer und eine Frau vor. Aufhänger war eine Prognose des Kassenverbandes Santésuisse, wonach die Prämien nächstes Jahr um mehr als zehn Prozent steigen würden. «Die Prämien steigen automatisch, wenn die Kosten steigen», stellte Thomas Christen vom BAG fest.

Und die Kosten steigen weiter, weil es «zu viele falsche (finanzielle) Anreize gibt», so dass «niemand ein Interesse hat zu sparen». Diese Feststellung stammte von SVP-Nationalrat Albert Rösti. 

Die Profiteure von den 34,5 Milliarden Ausgaben für die Grundversicherung wissen selber am besten, welche finanziellen Anreize man wie ändern muss und welche anderen Massnahmen die wirksamsten sind, um Kosten tatsächlich zu senken. Doch Exponenten der Ärzte, Spitäler, Apotheken und der Pharma reden fast nie über Sparmöglichkeiten ihrer eigenen Zunft. Dafür reden sie umso lieber darüber, wo und wie die Anderen Kosten sparen könnten.

In dieser Arena-Runde gab es unter den angeblich «wichtigsten Akteuren» ohnehin zwei grosse Abwesende:

Erstens die Pharmakonzerne, obwohl die Krankenkassen 25 Prozent ihrer Prämieneinnahmen für Medikamente ausgeben müssen (die Spitalmedikamente eingeschlossen). Das ist ein europäischer Rekord. 

Zweitens die Spitäler, obwohl die Krankenkassen 30 Prozent ihrer Prämieneinnahmen für Spitalkosten ausgeben müssen (ohne Spitalmedikamente).

Unter den «wichtigsten Akteuren» war von den Grossverdienern an der Grundversicherung lediglich die Ärzteschaft mit FMH-Vorstandsmitglied und Chirurg Urs Stoffel vertreten. Doch wie zu erwarten brillierte er nicht mit Sparvorschlägen aus seinem eigenen Fachgebiet, der Ärzteschaft. SVP-Nationalrat Rösti erinnerte das Publikum daran, dass es eine Kernaufgabe eines Berufsverbandes wie der FMH sei, seinen Mitgliedern ein möglichst hohes Einkommen zu sichern.

So überhörte Stoffel geflissentlich die Zwischenbemerkung von SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen, wonach in ihrem Kanton Bern Operationen der Wirbelsäule zwanzigmal häufiger durchgeführt würden als im Kanton Obwalden (im Verhältnis der Zahl der Bevölkerung natürlich). Krankt hier das Gesundheitswesen?

Umso länger liess Sandro Brotz die Männer der Krankenkassenverbände Santésuisse und Curafutura und des BAG darüber diskutieren, weshalb man sich noch immer nicht auf das neue Tarifsystem mit dem Namen «Tardoc» geeinigt habe. Einig waren sich alle, dass das heute geltende Abrechnungssystem «Tarmed» veraltet sei, weil es viele Einzeltarife enthalte, die nicht mehr den Kosten entsprechen. Die Tarife seien deshalb falsche Anreize für Ärzte, lukrative Behandlungen häufiger durchzuführen. Eigentlich erstaunlich, dass FMH-Stoffel nicht protestierte. Denn die Ärzteschaft behauptet meistens, dass sie nur das Wohl der Patientinnen und Patienten im Auge habe und nicht darauf schauen würde, mit welchen Massnahmen sie mehr verdienen.

Weil Kosten und steigende Prämien das Thema waren, entstand der Eindruck, mit «Tardoc» entstünden weniger Kosten. Erstaunt vernahm man, dass der Bundesrat den neusten Vorschlag ablehnte, weil «Tardoc» zu noch höheren Kosten führen würde als «Tarmed». Curafutura-Direktor Pius Zängerle, der den «Tardoc» jahrelang zusammen mit der FMH ausgearbeitet hat, meinte optimistisch, das neue Tarifsystem könne 300 Millionen Franken pro Jahr sparen. Das wäre nicht einmal ein Hundertstel der 34,5 Milliarden Kosten der Grundversicherung.

Ein Advocatus Diaboli oder Spielverderber, der die «wichigsten Akteure» gezwungen hätte, auch einmal über den Tellerrand zu schauen, fehlte in der Arena. Er hätte darauf aufmerksam gemacht, dass das Schweizer System der Honorierung jeder Einzelleistung für Spezialärzte per se falsche finanzielle Anreize setzt: Mit jeder Einzelleistung erhöhen Ärzte ihr Einkommen – je mehr und länger die Patienten krank sind und sich behandeln lassen, desto mehr verdienen Arztpraxen. Ein Urologe, Pneumologe oder Dermatologe, dem es gelingt, seine Patienten schneller gesund zu bekommen als andere, wird mit einem geringeren Einkommen bestraft. 

In Holland und den meisten andern Ländern Europas sind die Ärzte im Monatslohn angestellt oder pro Kopf der behandelten Patientinnen und Patienten pauschal bezahlt. Sie können ihr Einkommen nicht mit Überbehandlungen aufbessern. 

Auch Spitäler verdienen mehr, wenn sie unzweckmässige Operationen – welche Chirurgen an ihren Verwandten und Freunden nie durchführen würden –, unnötige Untersuchungen mit Herzkathetern, Röntgenbildern, Computertomographien, Blutentnahmen und so fort durchführen. 

Mit anderen Anreizen und Entschädigungsformen könnten die kantonalen und eidgenössischen Behörden dafür sorgen, dass die Schweizerinnen und Schweizer nicht mehr häufiger und länger im Spital liegen müssen als die Holländer, Norwegerinnen oder Schweden. 

Falsche Anreize auch bei den Medikamenten: Apotheken und selbstdispensierende Ärzte kassieren eine höhere absolute Marge und verdienen mehr, wenn sie unter gleichwertigen oder sogar identischen Medikamenten jeweils die teureren verkaufen.

Doch in der Arena wäre gar keine Zeit geblieben, um über falsche Anreize konkret zu diskutieren. Denn Sandro Brotz liess auch noch über die Volksinitiativen der Mitte und der SP diskutieren. 

Mitte-Nationalrat Christian Lohr verteidigte seine «Kostenbremse-Initiative». Der neue Verfassungsartikel soll angeblich zu 6 Milliarden Franken Einsparungen pro Jahr führen. Doch ein Artikel in der Bundesverfassung bleibt toter Buchstabe, wenn ihm keine Gesetze folgen. Die Frage, wie es denn zu diesen 6 Milliarden Einsparungen kommen soll, beantwortete Lohr nicht. Er beruhigte nur, dass es «keine Rationierungen» geben soll. «Die Partner» müssten dann einfach «das Problem angehen».

SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen verteidigte die SP-Initiative, wonach niemand mehr als zehn Prozent des verfügbaren Einkommens für die Prämien ausgeben muss. Im Kanton Bern liege der Durchschnitt bei 19 Prozent. Die Frage, was diese zusätzliche Kostenumlagerung von Prämien- auf Steuerzahlende mit einer Kostensenkung im Gesundheitswesen zu tun hat, beantwortete Wasserfallen nicht.

SVP-Nationalrat Albert Rösti plädierte für «mehr Wettbewerb» verbunden mit einer teilweisen Lockerung des Vertragszwang, dem die Kassen unterliegen. Die Kassen sollten mit einzelnen Spitäler bessere Preise aushandeln können, wobei drei Viertel der Einsparungen den Mitgliedern zugute kämen und die Kassen als Anreiz zum guten Verhandeln ein Viertel als Gewinn behalten dürften.

Doch ein Wettbewerb um die günstigsten Leistungen kann nicht im Interesse der Patientinnen und Patienten sein. Ein Wettbewerb müsste sich um die besten Behandlungsresultate drehen. Diese aber müssten zuerst erfasst werden. Und daran krankt unser Gesundheitswesen am meisten. Die Niederlande und andere vergleichbare Länder erfassen und kontrollieren die Behandlungsresultate bereits deutlich besser. 

Fazit: Die Prämienzahlenden müssen sich weiterhin auf überdurchschnittlich steigende Prämien gefasst machen. Über den Tellerrand wird nicht geschaut, weil entsprechende Vorschläge nicht mehrheitsfähig wären. Die mächtigen Lobbys von Pharma, Ärzten und Krankenkassen haben das Parlament schon lange in Geiselhaft genommen. 

  • Die Kosten der Grundversicherung werden in der Schweiz auf absehbare Zeit die höchsten Europas bleiben. 
  • Die Bewohner der Schweiz werden weiterhin mehr Medikamente schlucken, häufiger operiert werden und länger in Spitälern liegen als in vergleichbaren Ländern. 

Ob dies eher zum Wohle oder zum Schaden gereicht, wollen Ärzte, Spitäler und Politiker lieber nicht herausfinden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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