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Gerechtigkeit für Russland?

Published On: 8. August 2022 12:00

Erstmals seit Jahrzehnten unternimmt mit Russland ein Staat den Versuch, die politische Landkarte in Europa gewaltsam zu verändern. Trotzdem gibt es in der öffentlichen Debatte lautstarke Stimmen, die die Sanktionen gegen Moskau für falsch halten und die Unterstützung der Ukraine ablehnen.

Die Gegner der deutschen Russlandpolitik sind sich sicher: Der Krieg in der Ukraine ist das Ergebnis der jahrzehntelangen Eindämmung Moskaus. Diese wiederum sei Ausdruck einer Politik, die mit dem Ende des Kalten Krieges systematisch von den USA vertieft worden sei. Demnach habe Washington seit 1991 das Kalkül verfolgt, Russland als geopolitischen Rivalen auszuschalten. Damit verbunden sei insbesondere die Neutralisierung seiner Einflusssphäre in Osteuropa gewesen. Dies habe man vornehmlich über die Osterweiterungen der NATO erreicht, obwohl Moskau die Ausdehnung der Militärallianz mehrfach als Bedrohung bezeichnet habe. Der Angriff auf die Ukraine sei folglich ein Akt von Selbstverteidigung.

Obwohl diese These im Westen auf massive Ablehnung stößt, wäre es töricht, ihre Argumente als absurd zurückzuweisen. Tatsächlich sind sie nämlich schon früh von prominenten Personen vertreten worden. Dazu zählte auch der Geostratege George F. Kennan. Als Architekt der amerikanischen Containment-Politik und ehemaliger US-Botschafter in Moskau hatte Kennan jahrzehntelang auf die Schwächung der Sowjetunion hingearbeitet. Bis zu seinem Tod im Jahr 2005 galt er in den USA als einer der intimsten Kenner Russlands. Als der US-Senat am 2. Mai 1998 beschloss, Polen, Tschechien und Ungarn im kommenden Jahr in die NATO aufzunehmen, äußerte Kennan gegenüber der New York Times: 

„Ich denke, die Russen werden allmählich ziemlich negativ reagieren, und das wird ihre Politik beeinflussen. Ich halte das für einen tragischen Fehler. Es gab überhaupt keinen Grund für diese Aktion. Niemand bedrohte irgendjemand anderen. Bei dieser Ausweitung würden sich die Gründerväter dieses Landes im Grabe umdrehen. Ich denke, das ist der Beginn eines neuen Kalten Krieges. Die Russen werden ziemlich negativ reagieren, und das wird ihre Politik beeinflussen. Ich halte das für einen tragischen Fehler.“ 

Und weiter kritisierte er: „Wir haben uns verpflichtet, eine ganze Reihe von Ländern zu schützen, obwohl wir weder die Mittel noch die Absicht haben, dies in irgendeiner Weise ernsthaft zu tun. Die NATO-Erweiterung war einfach die leichtfertige Aktion eines Senats, der kein wirkliches Interesse an auswärtigen Angelegenheiten hat. Besonders gestört haben mich die Verweise auf Russland als ein Land, das darauf brennt, Westeuropa anzugreifen. Verstehen die Leute das nicht? Unsere Differenzen im Kalten Krieg bestanden mit dem kommunistischen Sowjetregime. Und jetzt wenden wir uns von genau den Menschen ab, die die größte unblutige Revolution der Geschichte angezettelt haben, um das sowjetische Regime zu beseitigen.“

Meine Ansicht bis zum 24. Februar

Wie erwähnt, wird die Position Kennans im Westen bis heute von einem kleinen, aber vehementen Anhängerschaft vertreten. Auch ich gehörte zu diesem Personenkreis. Bis zum 24. Februar 2022 war ich der Ansicht gewesen, Russland habe das Recht, gegen die Expansion der NATO zu protestieren, die mit der Aufnahme Nordmazedoniens am 27. März 2020 eine fünfte Phase erlebt hatte. Noch am 17. Februar 2022 hatte ich bei Achgut einen Beitrag zu diesem Thema geschrieben. Darin setzte ich mich mit der russischen Position im Ukraine-Konflikt auseinander und analysierte die offenkundigen Doppelstandards der amerikanischen Außenpolitik. 

Ich kam zu dem Schluss, dass es fatal wäre, die russische Vergangenheit der Ukraine zu ignorieren und dass die NATO Russland kontinuierlich eingehegt habe. Mein Fazit lautete: „Wenn Moskau heute überzeugt ist, sich zur Sicherung seiner Interessen nur noch auf militärische Maßnahmen verlassen zu können, dann tut es das nicht, weil es die parlamentarischen Demokratien Europas beseitigen will, sondern weil man im Kreml die bittere Erfahrung gemacht hat, dass auf die Zusagen der NATO kein Verlass ist.“

Obwohl ich mich bis dahin vertieft mit dem Ukraine-Konflikt und der russischen Außenpolitik beschäftigt hatte, hielt ich es für abwegig, dass Moskau militärisch intervenieren würde. Nachdem Putin den Gegenbeweis angetreten war, musste ich jedoch erkennen, dass ich falsch gelegen hatte. Infolgedessen änderte ich meine Ansicht und spürte dem Verdacht nach, dass der Kreml den Krieg von langer Hand geplant hatte. Das bedeutet für mich aber nicht, die Argumente der Gegenseite nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen. Stattdessen halte ich es für wichtig, sich ernsthaft mit ihnen auseinanderzusetzen.  

Im Kern des Konflikts zwischen dem Westen und der Russischen Föderation liegt die Osterweiterung der NATO auf die Staaten Ost- und Südeuropas, die mittlerweile fünf Wellen erlebt hat und mit der Aufnahme von Schweden und Finnland eine sechste erleben wird. Nicht nur George Kennan, sondern vor allem auch Wladimir Putin hat wiederholt darauf hingewiesen, dass der Kreml dies als Bedrohung empfindet. In seiner programmatischen Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 äußerte er: 

„Ich denke, es ist offensichtlich, dass der Prozess der NATO-Erweiterung keinerlei Bezug zur Modernisierung der Allianz selbst oder zur Gewährleistung der Sicherheit in Europa hat. Im Gegenteil, das ist ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt. Nun haben wir das Recht zu fragen: Gegen wen richtet sich diese Erweiterung? Und was ist aus jenen Versicherungen geworden, die uns die westlichen Partner nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages gegeben haben? Wo sind jetzt diese Erklärungen?“

Das Drängen zum NATO-Beitritt kam von den Ost-Staaten

Ich möchte an dieser Stelle auf die Klärung der Frage verzichten, inwieweit die NATO tatsächlich verbindliche Zusagen gegenüber Russland gemacht hat (Michail Gorbatschow hat zuletzt das Gegenteil behauptet). Viel entscheidender ist, was als Tatsache gelten kann: nämlich, dass die Militärallianz ab 1999 neue Mitglieder in Osteuropa aufnahm und dass Moskau dies als Bedrohung empfand. Gleiches gilt für den Abzug des russischen Militärs vom Territorium der vormaligen Staaten des Warschauer Pakts einschließlich der DDR. Dadurch entstand eine Nische, die die USA rasch besetzten. Wladimir Putin drückte das 2007 mit folgenden Worten aus: „In Bulgarien und Rumänien entstehen so genannte leichte amerikanische Vorposten-Basen mit jeweils 5.000 Mann. Das bedeutet, dass die NATO ihre Stoßkräfte immer dichter an unsere Staatsgrenzen heranbringt, und wir, die wir uns streng an den Vertrag halten, in keiner Weise auf dieses Vorgehen reagieren.“

Aber war der Eindruck einer militärischen Bedrohung wirklich begründet? Fest steht, dass die neuen Mitgliedstaaten proaktiv an die NATO herantraten und um Aufnahme baten. Dies taten sie in dem Streben, ihre nationale Souveränität in Zukunft vor dem Einfluss eines wiedererstarkten Russlands zu schützen. Die Amerikaner wiederum betrachteten dies als günstige Gelegenheit, ihre Einflusssphäre in Europa auszudehnen. Insofern lässt sich sagen, dass die genannten Akteure jeweils die Gunst der Stunde für sich nutzten. Das gilt im Übrigen auch für Russland. Durch den Truppenabzug konnte Moskau dringend benötigte Ressourcen zur Bewältigung innerer Aufgaben freisetzen, die in der Konsolidierung von Wirtschaft und Politik bestand. Die freigesetzten Armeekapazitäten konnten beispielsweise schon im Dezember 1994 in Tschetschenien eingesetzt werden. 

Trotzdem ist nicht von der Hand zu weisen, dass die weitere Ausdehnung der NATO gegen den vehementen Protest Moskaus erfolgte. Man wird also sagen können, dass sie im Verhältnis zu Russland wenigstens ungeschickt, wenn nicht gar grob fahrlässig war. Es wäre durchaus möglich gewesen, die Aufnahme neuer Mitglieder auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Dies wäre ein klares Signal der Entspannung an Moskau gewesen und hätte die Stabilität auf dem Kontinent nicht beeinträchtigt. Dass ein solcher Modus durchaus praktikabel ist, zeigt aktuell der Umgang mit den Beitrittskandidaten der EU. Bis diese zu vollwertigen Mitgliedern werden, können mitunter Jahrzehnte vergehen. Die NATO wollte in den 1990er Jahren jedoch nicht so lange warten. Im Rückblick war das ein verhängnisvoller Fehler. 

Seit 1999 hat das nordatlantische Bündnis insgesamt 14 Staaten aufgenommen. Das jüngste Mitglied ist das 2020 hinzugekommene Nordmazedonien, dessen Wirtschaftskraft etwa der von Kiel entspricht. Dass die Aufnahme des Zwergstaates in Wahrheit womöglich dem Zweck dient, den russischen Einfluss in Serbien einzudämmen, scheint naheliegend. Wie auch immer man den Schritt betrachten will, steht doch fest: Sicherer geworden ist Europa durch die Aufnahme von Nordmazedonien nicht. Auch die Bündnissicherheit der NATO dürfte keine substanzielle Aufwertung erfahren haben, obwohl dies doch eigentlich die Voraussetzung für eine Aufnahme ist. 

Das Gewicht der Doppelstandards

Trotzdem gibt es keine Belege dafür, dass die NATO je geplant hat, die Russische Föderation anzugreifen. Stattdessen hat Russland zuerst die Schwelle militärischer Gewalt in Europa überschritten. Damit ist die Bedrohung Moskaus durch die NATO also weitaus geringer als die Gefahr, welche Schweden und Finnland gegenwärtig von Russland ausgehen sehen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass am 24. März 1999 die Bombardierung Belgrads begann. Insofern lässt sich die NATO also nicht von dem Vorwurf freisprechen, keinen Drittstaat in Europa angegriffen zu haben. Der Unterschied zur Ukraine besteht jedoch darin, dass Russland massiv mit Bodentruppen interveniert hat. 

Während man die Rolle der NATO im Verhältnis des Westens zu Russland also durchaus aus verschiedener Perspektive betrachten kann, wiegen die mitunter kruden Doppelstandards der amerikanischen Außenpolitik deutlich schwerer. In meinem Beitrag vom 17. Februar 2022 warf ich in diesem Zusammenhang folgende Fragen auf: 

„War es nicht Washington, das am 7. Oktober 2001 in Afghanistan einmarschierte, obwohl kein Afghane an den Anschlägen des 11. September 2001 beteiligt gewesen war? Und hatte nicht der amerikanische Außenminister Colin Powell der Weltgemeinschaft im UN-Sicherheitsrat am 5. Februar 2003 gefälschte Beweise vorgelegt, um mit der amerikanischen Besetzung des Iraks einen Krieg zu rechtfertigen, der hunderttausende Menschen das Leben kostete, eine ganze Weltregion in den Abgrund von Krieg und Gewalt riss und letztlich zum Erstarken des Islamischen Staates führte? Wer diese Fragen unbeantwortet lässt, hat kein Recht, Moskau moralisch zu verurteilen und es pauschal als Aggressor zu inkriminieren, wie es der scheidende NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Januar 2022 gegenüber dem ‚Spiegel‘ getan hat. Fakt ist auch: Nicht Russland unterhält auf der ganzen Welt Militärbasen, sondern die USA.“

Bis heute bin ich der Ansicht, dass diese Fragen legitim sind. Und nach wie vor stehe ich zu meinem Befund, wonach die internationale Gemeinschaft mit den USA sehr viel milder ins Gericht geht als mit Russland. Ich will hier daher aussprechen, was viele Menschen empfinden: Die USA können schalten und walten, wie sie wollen. Konsequenzen oder gar Sanktionen haben sie nicht zu befürchten. Darin kommt natürlich eine frappierende Ungleichbehandlung zum Vorschein. Aber wer hat eigentlich gesagt, dass Gerechtigkeit je ein Maßstab internationaler Politik gewesen ist? Sind es nicht vielmehr die ökonomische und militärische Potenz, die den Aktionsrahmen von Staaten definierten? Die USA haben faktisch keine regulative Instanz über sich, die sanktionierend auf sie einwirken könnte. Und militärisch sind sie heute die einzige Supermacht mit dem Potenzial, innerhalb von 72 Stunden weltweit massive Angriffe vorzutragen.  

Ungerechte Sanktionen?

All das ändert aber nichts daran, dass der Verweis auf das Fehlverhalten der USA kein überzeugendes Argument ist. Der Angriff auf den Irak widersprach allen Grundlagen des Völkerrechts. Er basierte nachweislich auf Lügen. Und er hatte keine negativen Konsequenzen für Washington zur Folge. Trotzdem gibt dies Russland nicht das Recht, die Ukraine anzugreifen. Und es darf auch nicht dazu führen, bei der Anwendung militärischer Gewalt zur Lösung von politischen Konflikten Konzessionen zu machen. Andernfalls würde Europa eine Rückkehr ins 19. Jahrhundert bevorstehen, als Krieg lediglich für eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln gehalten wurde.

Dass Russland im Gegensatz zu den USA nun massiv sanktioniert wird, hat in meinen Augen mehrere Gründe. Erstens liegt die Ukraine in Europa und befindet sich damit viel stärker im Fokus der westlichen Aufmerksamkeit, als Syrien, der Irak, Afghanistan oder der Irak es je könnten. Zweitens ist die Russische Föderation im Inneren kein demokratischer Rechtsstaat, sondern ein Land, dessen Eliten sich nicht im Geringsten um die verfassungsmäßigen Rechte der eigenen Bevölkerung scheren. Das mag auch ansatzweise in Europa so sein, allerdings sind die dortigen Ausprägungsformen nicht mit den russischen zu vergleichen. Drittens und schließlich bietet der Ukraine-Krieg den USA die einmalige Möglichkeit, Russland nachhaltig zu schwächen: und zwar nicht mehr nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Und dass die USA Deutschland schon in wenigen Jahren mit Flüssiggas beliefern dürften und dabei Milliarden verdienen, hat einen ganz faden Beigeschmack. 

Was aber ist im Kontext des Krieges in der Ukraine nun aus all dem abzuleiten? Legte man den Gleichbehandlungsgrundsatz zugrunde, wie viele Kritiker der westlichen Politik es wollen, müsste man zu dem Schluss kommen, dass die Sanktionen gegen Russland ungerecht sind. Und man käme nicht umhin festzustellen, dass sie der deutschen Volkswirtschaft massiven Schaden zufügen. Beides sind gewichtige Argumente, sich nicht gegen Moskau zu stellen. Die daraus abgeleitete isolationistische Position besagt, dass der Krieg in der Ukraine kein deutsches Problem ist. Man kann das so sehen sowie gute Gründe dafür finden. Und ja: Die gegenwärtige Energiekrise mit ihren katastrophalen Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft wäre ausgeblieben. 

Sich herauszuhalten, bedeutet aber auch zu akzeptieren, dass Russland seine Interessen in Europa mit militärischer Gewalt durchsetzt. Damit wäre zwangsläufig eine Zeitenwende eingeläutet, die nichts Gutes bedeutet. Deswegen sollte sich jeder Europäer die Frage stellen, ob er auf einem Kontinent leben möchte, auf dem Krieg eine reale Option der Politik ist. Wer sich unsicher ist, sollte einen Blick auf die Ukraine werfen.  

Meine Ablehnung der russischen Politik basiert auf der Erkenntnis, dass der Krieg in der Ukraine auf dem singulären Willen Wladimir Putins beruht, Russlands vormaligen Status als Weltmacht wiederherzustellen. Als Deutscher ist es mir am Ende des Tages immer noch lieber, dass wir in einer amerikanisch dominierten Weltordnung leben als unter dem Primat eines russischen oder chinesischen Hegemons. Denn nur die USA sind offenkundig dazu bereit, uns das gewohnte Maß an Freiheit, Wohlstand und Sicherheit zu garantieren. Ich bin überzeugt, dass weder Moskau noch Peking dies tun würden. Ein Blick auf die inneren Verhältnisse in diesen Ländern bestätigt dies. 

Aus diesem Grund können die Europäer kein Interesse daran haben, Russland zu gestatten, seine Interessen auf dem Kontinent mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Wer das heute zulässt, wacht morgen in einer Welt auf, in der es weniger Frieden, weniger Freiheit und weniger Wohlstand gibt. Daran ändert auch nichts, dass die Verminderung des Wohlstands in Deutschland leider bereits strukturell in der Politik der Bundesregierung angelegt ist. Das ist jedoch ein anderes Thema.

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