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Der Kindermussolini

Published On: 2. Oktober 2022 16:00

Eine junge Mutter steht mit ihrem sündhaft teuren Familienfahrrad mit Helmchen am Fahrradständer, und der ältere Spross ihrer Lenden, vielleicht fünf Jahre alt, steht daneben und brüllt wie Mussolini am Balkon. Ein Drama nimmt seinen Lauf.

Ein Büro in der Fußgängerzone – wenngleich in einem Obergeschoss – bringt es so mit sich, dass man gelegentlich Ohrenzeuge der Geschehnisse auf Ground Zero wird. Mal singt ein Angetrunkener, mal bepöbeln sich zwei Angetrunkene gegenseitig oder beide dann die Polizei, sobald diese eintrifft, mal dringt Musik aus fernen Ländern herauf, wenn ein Peruaner oder Rumäne ein Gastkonzert gibt. Mit immer dem gleichen Lied. Zwei Stunden in Dauerschleife. Bis ich ihm oder ihr 20 Euro gebe, damit er oder sie sich verziehen und einem anderen Büroarbeiter auf die blanken Nerven gehen. 

Nichts jedoch erreicht die Klasse und einsame Schönheit einer jungen Mutter mit einem Fahrrad, auf dem sich hintendrauf zwei Kindersitze befinden, auf dem bereits ein Kind auf dem vorderen Sitz angeschnallt hockt, vielleicht drei Jahre alt, und sein Bruder, vielleicht fünf Jahre alt, eben nicht. Aufmerksam werde ich auf das muntere Trio durch ein erbärmliches Gebrüll und Geschrei von etwa drei Minuten Länge, das so laut und eindringlich ist, dass ich mir meinen rumänischen Gastarschgeiger zurückwünsche.

Das Setting, als ich das Fenster öffne: Mama steht mit ihrem sündhaft teuren Familienfahrrad mit Helmchen am Fahrradständer, und der ältere Spross ihrer Lenden, im grauen Pulli mit Regenbogen-Banderole drumherum, steht daneben und brüllt wie Mussolini am Balkon. Was ist geschehen? Mama möchte gerne starten, aber Florian nicht. Ich weiß das, weil sie soeben energisch „Florian!“ sagt, und sofern sie nicht den Schutzpatron der Feuerwehr angerufen hat, kann sie damit nur Satans Sohn gemeint haben, der eine erstaunlich kräftige Lunge hat und dereinst zum Apnoetaucher prädestiniert sein wird. Florian steht nur da, Rotz und Tränen im Gesicht und nimmt sich soeben seinen Kinderfahrradhelm ab. 

Sie hat vielleicht studiert, Pädagogik oder „irgendwas mit Medien“

„Florian, wir wollen heim“, sagt Mama. Florian brüllt aus Leibeskräften, als habe sie ihm angedroht, ihn in den Knast zu bringen. „Florian, schau mal, die Lena sitzt ja auch schon im Fahrrad“, argumentiert Mama. Florian durchschaut das durchsichtige Scheinargument und brüllt noch lauter. „Florian, der Papa wartet.“ Florian brüllt, nimmt den Fahrradhelm ab und schmeißt ihn quer über die Straße. Mama sagt laut „Florian!“, setzt sich aber in Bewegung und hebt den Helm auf. Sie gibt ihn dem schreienden Satansbraten, worauf dieser noch 10 Dezibel drauflegt. 

Ich gäbe im Moment derzeit die 20 Euro für ihre Gedanken. Sicher hat sie sich das so schön vorgestellt: ein fröhlicher Ausflug mit den beiden kleinen Rackern in die Fußgängerzone, mal kurz beim „Kinderparadies“ rein und pädagogisch wertvolles Holzspielzeug mit ungiftigen Farben aus chinesischer Kinderarbeit gekauft und Habecks Kinderbuch vorlesen, vielleicht noch ein herbstliches Eis und dann mit dem klimaneutral-freundlichen Fahrrad zurück in die parkettierte 120-Quadratmeter-Altbauwohnung am Rande der Innenstadt. Nichts da. Florian hat eigene Pläne. Von denen allerdings niemand etwas erfährt, weil er brüllt wie der Ausguck der Titanic, als sie den Eisberg schrammt. *Zack*, der Helm fliegt ein zweites Mal. 

Sie hat vielleicht studiert, Pädagogik oder „irgendwas mit Medien“, war engagiert bei den „linken Frauen für Frauenrechte“ oder den Grünenden, hat für „mehr Kinderrechte“ und natürlich „mehr Klimaschutz“ gekämpft, Broschüren verteilt, sich von Schwachmaten wie mir im Wahlkampf anmachen lassen und dann endlich Florians Papa kennengelernt und mit ihm eine Familie gegründet. Also, mehr so CDU-mäßig. Und jetzt steht sie, die die Welt für ihre künftigen Nachkommen besser und lebenswerter gestalten wollte, neben einem brüllenden Fünfjährigen, dem das scheißegal ist und der den Idiotenhelm nicht aufziehen will. „IIICH WILLLL ABA NIIIICHT!!!“, gellt es ihr mit der Lautstärke eines Presslufthammers entgegen. 

Der alte „Ich gehe jetzt“-Trick funktioniert nicht

Sie stemmt die Hände in die Hüften und atmet durch. Geistig scheint sie ihre Optionen durchzugehen. Wenn sie das Höllenkind hier auf der Fußgängerzone, in Sichtweite unseres grünen Cafés „Kaffairtrade“, abdachtelt, hat sie sofort ihre Parteifreunde an den Hacken und ein paar Anzeigen am Hals. Kindesmisshandlung. So geht es nicht. Gibt sie aber nach, kommt sie nicht vom Fleck und nach Hause zu Papa. Und Lena kriegt nichts zu essen. Sie versucht es argumentativ: „Florian schau mal, die Leute schauen schon“. Das tun sie tatsächlich, die Leute, inklusive mir. Aber Florian kann sie nicht hören, weil er so laut schreit. Mama, die ich für mich „Emilia“ getauft habe, holt erst einmal wieder den Helm, um Zeit zu schinden. Diesmal ist sie clever genug, ihn nicht wieder dem brüllenden Balg zu geben, sondern befestigt ihn an dem hinteren Kindersitz des Fahrrads. Florian, die singende Sirene, unterzieht den Helm einen Härtetest und tritt mit Schmackes dagegen, ohne einmal Luft zu holen. Er scheint passionierter Autofahrer zu sein, was mit der antiautoritären Erziehung von Emilia soeben kollidiert. „FLORIAN!“, sagt sie ein drittes Mal, was Florian mit einem lauten „WAAAAAAA“ kommentiert. 

Sie besinnt sich eines alten Elterntricks: Dem „Ich gehe jetzt“-Trick, der aber nur funktioniert, wenn sie ihn wirklich ernsthaft durchzieht. „HAU AB“, kommentiert der clevere Florian das, und sie schiebt ihr Fahrrad mit der bemerkenswert ruhigen Lena ungefähr zehn Meter, während Florian Höllenkind am Fahrradständer steht und keine Anzeichen macht, ihr zu folgen. Allerdings macht er auch keine Anzeichen, mit dem Brüllen aufzuhören. Er steht nur einfach da und schreit aus erstaunlich guten Lungen und schwimmt in Rotz und Tränen. Sie stoppt. Nach zehn Metern. Florian hat längst geschnallt, dass sie nicht ohne ihn gehen wird, obwohl sie allen Grund dazu hätte. „FLORIAN, KOMM HER!“, befiehlt sie, was Florian zwar mit „WAAAATATATAAA“ kommentiert, aber sich keinen Millimeter vom Platz bewegt. 

Florian weiß es, ich weiß es. Wenn Mama jetzt auf ihn zugeht, ist er moralischer Sieger. SIE muss zu IHM, denn seit wann kommt der Knochen zum Hund? Und was macht Emilia? Sie bockt das Fahrrad auf, geht zu der singenden Nervensense, klemmt sie unter den Arm und trägt sie zum Fahrrad, während Florian, der clevere Hundesohn, ganz laut AUAAUAAUA brüllt. Das hat er sich vielleicht bei Mama abgeschaut, als sie der Polizist bei der Demo sanft zur Seite schob. Es bilden sich mittlerweile unabhängig voneinander kleine Menschentrauben, die den Machtkampf beobachten. 

Das war’s. Sie hat verloren.

Sie versucht nun, den brüllenden Florian auf den hinteren Kindersitz zu zwängen, aber der ist glitschig und beweglich wie ein Aal, windet sich unter Geschrei unter ihr weg, rennt ein paar Meter und hält sich an einem harmlosen Verkehrsschild fest. „WAAAAAAA!“ Mama beschließt, dass sie besser nicht ebenso schreit wie bei der Geburt von Florian, denn sie geht langsam wie auf einen knurrenden Kampfhund auf ihn zu und redet beschwichtigend auf ihn ein. Was er denn wolle? Ob er lieber laufen wolle? Wolle er noch nicht heim? Er möge doch mitkommen. Daheim gäbe es Schokolade aus fairem Anbau und Kaba und außerdem wäre die Mama sonst traurig und wie brav Lena sei… „WAAAAAAA!“ Es ist zwecklos. Florian hört sie wahrscheinlich eh nicht, und wenn er sie hört, dann will er sie nicht verstehen. Er weiß ja auch nicht, was er will, er weiß nur, was er NICHT will. Er will NICHT auf das Fahrrad und NICHT mit Mama nach Hause. Er will auch NICHT laufen. Eigentlich will er nur dastehen und lauter brüllen als eine Polizeisirene im Elbtunnel. Das will er. Das will aber Mama nicht.

Sie geht zurück zum Fahrrad mit der engelsgeduldigen Lena, die Florian vielleicht auch nur ins Koma geschrien hat, ich weiß es nicht. „So“, sagt Emilia bestimmt und engagiert, wie weiland im Arbeitskreis Queerfeminismus, „mir reicht es, wir gehen jetzt. Endgültig. Basta!“ „KOMM HEEER, ICH MUSS DIR WAS SAAAAGEN“, artikuliert sich Florian lautstark und unter Tränen. Und tatsächlich, sie kommt wieder her, kniet sich vor ihn hin und hört, was der kleine Dämon ihr zu sagen hat. Ich höre es auch, es ist nicht zu überhören: „WAWAWAWAICHWILLNICHTWAWAWAWAWA!“ Emilia ist etwas eingeschnappt, weil er sie schon wieder verarscht hat und klemmt sich das schreiende Bündel Zukunft unter den Arm. Sie will ihn einmal mehr in den Sitz zwingen, aber Florian DENKT nicht im Traum daran. Sie schnallt ihn fest, er schnallt sich ab. Sie schnallt ihn fest, er schnallt sich ab. Sie schnallt ihn fest UND DAS BLEIBT JETZT so. Sie geht an der katatonischen Lena vorbei und *schwupps*, ist Florian wieder abgeschnallt. Sie steht am Lenker. Florian steht auf dem Kindersitz. Und schreit sich die Lunge aus dem Leib. 

Sie hat verloren. Sie weiß es. Er weiß es. Ich weiß es. Die Umstehenden wissen es. Das war es. Dafür studiert, sich durch Prüfungen gekämpft, um Noten diskutiert, den Kassenbericht für die örtliche Frauenkampfgruppe in Excel gezwängt… Sie ist den Tränen nahe und in einem Dilemma. Schnallt sie ihn fest, befreit er sich, bis sie vorne am Lenker ist. Schnallt sie ihn nicht fest, rennt er entweder wieder weg oder sie gefährdet seine Gesundheit. Florian steht auf seinem Sitz wie der Führer auf dem Zeppelinfeld und brüllt. Vorsichtig, damit er nicht um- oder runterfällt, bockt sie das Fahrrad ab und geht langsam mit dem Fahrrad in Richtung Stadtpark, während sich Florian unter Geschrei erstaunlich gut ausbalanciert und so ein wenig wie der Papst in seinem Papamobil wirkt. 

Mit dem toxisch brüllenden Stehaufkindchen und der auf ihrem Sitz in sich zusammengesunkenen Lena geht sie Richtung Stadtpark und verschwindet hinter der Stadtmauer aus meinem Sichtfeld. Ich höre Florian noch geschlagene fünf Minuten weiter zornig schreien, dann wird es leiser. Ich werde nie erfahren, ob er schließlich doch aufgegeben hat oder sie ihn in einem der zahlreichen Weiher ertränkt hat oder ob er sich stolz und aufrecht stehend und schreiend wie ein Mann nach Hause hat schieben lassen. Oder ob Emilia einen Nervenzusammenbruch hatte.  Aber ich danke dem Herrn, dass ich seinerzeit ein Auto hatte. Das schalldicht war.   

(Weitere pädagogisch wertvolle Artikel des Autors unter www.politticker.de)  

Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.

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