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Der Sonntagsfahrer: Beim Ohren-TÜV

Published On: 16. Oktober 2022 6:15

Ich tippe wortlos mit dem Finger an die Stirn, dann drehe ich eine imaginäre Schraube an der Schläfe fest und zum Schluss simuliere ich eine energische Abtrennbewegung am Hals unterhalb des Kinns. Meinen ersten TÜV in Gebärdensprache hab ich somit schon mal bestanden. 

Angesichts mehrerer Altkarossen, die in verschiedenen ländlichen Garagen auf eine Ausfahrt hoffen, verliere ich bisweilen den Überblick über die jeweiligen TÜV-Termine. Neulich parkierte ich mit meinem Cadillac-Oldtimer vor einem soliden bayerischen Gasthof, gewissermaßen zur Henkersmahlzeit, denn demnächst dürfte man mit einem solchen Gefährt als Alleinschuldiger für die trockengefallenen Tanks der Nation geteert und gefedert werden. Ein alter Cadillac ist mindestens so verwerflich wie ein beheizter Swimmingpool und obendrein ein Gruß der kapitalistischen Hyänen aus Amerika. Also schnell noch mal um die Ecken blubbern und das Leben genießen. 

Das Ausflugslokal liegt nicht weit vom AKW Gundremmingen, und von der Terrasse konnte man bis letztes Jahr beobachten, wie die Wasserdampfwolken der Kühltürme in den blauen bayrischen Himmel stiegen. Ich fand das immer beruhigend, denn das leistungsfähigste deutsche Kernkraftwerk sorgte dafür, dass der Bäcker Brezel backen und der Metzger Weißwürste produzieren konnte. Unsere Berliner Panzerlimousinenfahrer hielten das irrtümlicherweise nicht für systemrelevant und ließen es abschalten

Der offenbar autobegeisterte Jung-Koch blickte durchs Küchenfenster, sah den alten Ami und stahl sich kurz davon, um die Fuhre auf dem Parkplatz näher in Augenschein zu nehmen. Der Mann bekundete große Sympathie für den Gas-Guzzler, sprach aber dabei leise, es könnte ja ein Veganer in der Nähe sein. Cadillacs sind nämlich Carnivoren und haben manchmal sogar Ledersitze. Außerdem hatte der Koch Erfahrung mit Verfallsdaten, zum Glück: „Übrigens, ihr TÜV ist seit zwei Monaten abgelaufen“ ließ er dezent in unsere kleine Autoplauderei einfließen. Damit ersparte er mir ein entsprechendes Verwarnungsgeld. Die Weißwürste mit süßem Senf, einer Brezel und einer Radlermaß waren also praktisch umsonst. Moderne Menschen werden per App an den TÜV-Termin erinnert, ich find es netter, wenn das ein bayerischer Wirtshauskoch übernimmt.

Je älter man wird, desto besser rät man

Als Fahrzeugführer achte ich selbstverständlich auch selbst auf meine eigene Fahrtauglichkeit. Erst kürzlich war ich beim Augenarzt, um herauszufinden, ob mein Sehvermögen noch den Erfordernissen der Zeit entspricht. Dabei muss man Buchstaben und Zahlen lesen, mitunter auch raten, da bin ich echt gut drin. Je älter man wird, desto besser rät man.  

Und dann gibt’s noch einen spannenden Apparat, um das Gesichtsfeld zu überprüfen. Man sitzt hinter einem Vorhang wie in einer Peepshow und blickt in so eine Art Satellitenschüssel, in der immer wieder blitzende Punkte erscheinen. Dabei rumpelt es im Inneren wie in einem Cola-Automaten, wenn die Flasche sich auf den Weg macht. Jedesmal wenn man einen Blitz entdeckt, muss man einen Knopf drücken. Ich stellte einen Zusammenhang zwischen Rumpeln und Blitzen fest, oder glaubte es zumindest. Jedenfalls drückte ich den Knopf oft schon beim nächsten Rums-Bums, bevor der Punkt überhaupt erschien. Bestleistung! Mein Gesichtsfeld liegt gewissermaßen bei 360 Grad, ansonsten schaffen das nur Fliegen mit ihren Facettenaugen (300 Grad) oder Frösche (330 Grad). Womit experimentell nachgewiesen ist, dass der Mensch im Alter nicht nur besser rät, sondern auch besser ahnt.

Apropos ahnen: Beim letzten Besuch in der Augenarztpraxis überkam mich so ein sonderbares Gefühl. Alle Arzthelferinnen liefen im gleichen adretten Dress herum, so eine Art Uniform. Und außerdem wuselten gleich mehrere junge Ärzte durch die Räume, ebenfalls in dieser Uniform. Ich hatte sie nie zuvor gesehen. Im Wartezimmer musste ich dann ein Formular ausfüllen. Dem entnahm ich: Die Praxis wurde von einem Augenarzt-Konzern übernommen, der „Augenheilkunde auf höchstem Niveau“ verspricht und als „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ (GmbH) operiert. Ich kann nicht meckern, mein Aufenthalt war durchorganisiert wie der eines Rindviechs im Schlachthof von Chicago. Bei der Fließfertigung werden die Produkte jeweils einzeln, oft kontinuierlich, zur weiteren Bearbeitung von einem Arbeitsplatz zum nächsten befördert, beschreibt Wikipedia die Arbeitsweise.

Steuerfahndung? BKA? Nein: GmbH

Somit war ich bereits vorbereitet auf den Besuch beim Ohrenarzt. Sabine sagt immer, ich höre nur, was ich will, aber das in letzter Zeit auch schlechter. Schon bei der Anmeldung überkam mich wieder eine Ahnung: Etwas ist anders. Auch hier trugen jetzt alle die gleiche Uniform und Turnschuhe, so weiß wie die Weste von Mutter Teresa. Und dann waren da noch junge Männer mit einem Dutt und eine recht energische junge Frau ohne Dutt. Die schauten den Arzthelferinnen am Empfang über die Schulter, zeigten mal auf den Bildschirm, gaben mal Anweisungen. Steuerfahndung? BKA? Nein: GmbH. Auch den Ohrenarzt hat es erwischt. 

Wieder kriegt jeder ein Formular, zwecks Übergabe der Akten an die Nachfolge-Gesellschaft. Sie wollen unter anderem wissen, ob ich täglich Alkohol trinke, und wenn ja, wie viel. Ich schreibe hin: „Daran kann ich mich leider nicht erinnern“. Eine alte Dame neben mir sagt: „Ich kann das nicht ausfüllen, ich habe meine Brille nicht dabei“. Die Sprechstundenhilfe sagt: „Das müssen Sie aber ausfüllen“. Dann dreht die Helferin sich um und will gehen. Ich frage sie: „Hören Sie schlecht?“, was bei einem HNO-Arzt ja möglicherweise therapierbar sein sollte. Sie guckt mich mit wundervollen Kulleraugen an, sagt aber nichts. Ich sage: „Die Dame kann das nicht lesen, also kann sie es auch nicht unterschreiben“. Antwort: „Dann muss sie einen neuen Termin machen“. Ich lerne: Bei der Fließfertigung werden die Produkte mitunter auch von einem Arbeitsplatz nach draußen befördert.

Irgendwann werde ich in eine schalldichte Kabine zwecks Hörtest verfrachtet. Eine Fließfertigungshelferin versucht, die Gerätschaft funktionstüchtig zu machen, scheitert aber. Eine zweite Artzhelferin kommt hinzu. Es wird allmählich sehr warm in der Stille meines Kabuffs. Der alte Arzt höchstselbst wird zu Hilfe gerufen. Diskussion, er geht wieder. Meine Zelle wird zwecks Luftzufuhr geöffnet: „Der Arzt muss noch Ihre Akte holen“. Ich: „Im Keller oder auf dem Speicher?“ 

Jetzt kommt einer mit Dutt hinzu. Die mit Dutt sind die IT-Spezialisten des neuen Inhabers und haben das System offenbar auf den neuesten Stand gebracht. Tür wieder zu. Gestikulieren, ob ich was höre. Ich gestikuliere zurück: „Nein“. Ich werde allmählich nervös: Steht es schon so schlimm mit mir? Dann Entwarnung: Nein, es liegt nicht an meinen Ohren, sondern an der offensichtlichen Inkompatibilität von alter und neuer Datenverarbeitung. Ein zweiter IT-Dutt kommt hinzu. Dafür gehe ich. Das kann jetzt nämlich dauern. Ich beschließe, dass die jungen Leute nichts dafür können und ziehe mich höflich aus der Affäre: „Tut mir leid, ich mache lieber einen neuen Termin, wenn Ihr Apparat wieder besser hört“.  

Andererseits war der Arztbesuch ja durchaus aufschlussreich. Aufgrund meines Aufenthalts in der Testanordnung weiß ich jetzt endlich, wie es ist, wenn man wirklich nix hört. Als Sabine mich zuhause besorgt fragt, warum es so lange gedauert habe, antworte ich mit einem wortlosen Stirntippen, dann drehe ich eine imaginäre Schraube an der Schläfe fest und zum Schluss simuliere ich eine energische Abtrennbewegung am Hals unterhalb des Kinns. Sabine hat die Übung sofort übernommen und kommentiert jetzt die Morgenlage beim Frühstück nonverbal. Unseren ersten TÜV in Gebärdensprache haben wir somit schon mal bestanden. 

Von Dirk Maxeiner ist in der Achgut-Edition erschienen: „Hilfe, mein Hund überholt mich rechts. Bekenntnisse eines Sonntagsfahrers.“ Ideal für Schwarze, Weiße, Rote, Grüne, Gelbe, Blaue, sämtliche Geschlechtsidentitäten sowie Hundebesitzer und Katzenliebhaber, als Zündkerze für jeden Anlass(er). Portofrei zu beziehen hier.

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