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Kultur-Kompass: „Populärer Realismus“

Published On: 30. Oktober 2022 16:00

Der Professor für Neuere Deutsche Literatur Moritz Baßler untersucht in  „Populärer Realismus“ die Qualität zeitgenössischer Bestseller. Und zwar nach ihrem literarischen Gehalt und nicht nach ihrer Haltung.

Sollten Sie zu denjenigen Lesern gehören, die Probleme haben Gegenwartsliteratur vom Kaliber eines Thomas Mann, Wolfgang Koeppen oder Hermann Broich zu finden, dann müssen Sie zu Moritz Baßlers „Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens“ greifen. Der Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschat an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster kann Abhilfe schaffen. Wieso?

Vom Credo „Was-ist-gute-Literatur?“ (und nicht „Die-richtige-moralische-Haltung?“) geleitet, taucht Baßler, auf etwa 400 Seiten, in die Welt deutschsprachiger Bestsellerromane ein. Hierbei leiten ihn Fragen, wie „Was macht diese Romane so populär“? oder „Was kennzeichnet diese Werke?“

Sein Fazit: Ein „Populärer Realismus“, wie er ihn nennt, dominiert den gegenwärtigen Literaturbetrieb. Nicht die Form zähle hier, sondern der Inhalt. Charakteristisch seien dabei (1) fehlende nationalsprachliche Eigenheiten, die das Übersetzen länderübergreifend immens vereinfachen, (2) fehlende begriffliche Eigenheiten, die unterschiedliche Milieus und somit ein breites Publikum ansprechen, (3) eine fehlende Grenze zwischen Erwachsenen- und Jugendliteratur und (4) Transmedialität, ihre leichte Übertragung auf andere Medien, wie etwa auf Film oder Videospiel.

„Kitsch sells“

Das Publikum liebt es offensichtlich: Die Verkaufszahlen sprechen für sich. Der Erfolg auch. Denn erfolgreich ist, was „Bekanntes, Beliebtes und Bewahrtes“ miteinander kombiniere. Auch international, weswegen Baßler vom „International Style“ spricht. Um es auf den Punkt zu bringen: „Kitsch sells.“ Baßler sagt es verhaltener und wohlwollender. Aber im Grunde ist das der Kern seiner Aussage. So kritisierten bereits am „Populären Realismus“ André Breton die „ungeduldige Langeweile“, Roland Barthes die „ideologischen Stereotype“, Theodor W. Adorno verdammte das „Warenförmige“ und Wolfgang Hildesheimer die „Verfremdung“.

Doch wer für die Massen schreibe, müsse nicht notgedrungen auf literarische Qualität verzichten. Einige Autoren zeigten, dass literarisch anspruchsvoller „Populärer Realismus“ durchaus machbar sei: Leichte Unterhaltung und Ästhetischer Anspruch. Baßler spricht hier von „Midcult“, einem Begriff, den er von Umberto Eco aufgreift. Ein Beispiel für den „Midcult“ wäre zum Beispiel Daniel Kehlmanns weltweit erfolgreicher Roman „Die Vermessung der Welt“ aus dem Jahr 2005.

„Midcult“ sei jedoch nicht gleich „Midcult“. Das gelte für seine zeitliche Entwicklung. Pointiert verdeutlicht Baßler dies am, so muss man es nennen, „chronologischen Zerfall“ des Literarischen Quartetts. Trafen sich zu Anfang die drei Literaturkritikgrößen, Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karrasek und Sigfrid Löffler jeweils mit einem Literaturexperten, so lud etwa die Krimi-Autorin Thea Dorn in der Dezembersendung 2020 drei „Literaturexperten“ ein: eine Comedienne, einen Schauspieler und eine schreibende Tischtennisspielerin.

Auch qualitativ hochwertige Literatur

Nicht mehr nur der Inhalt zähle, sondern heutzutage auch der „richtige“ Inhalt. Wie es Baßler formuliert: „Was wir […] beobachten können, ist jedoch eine Verschiebung vom alten Midcult, in dem es um die Teilnahme an Hochkultur ging, hin zu einer neuen Spielart, in der im Vordergrund steht, dass die eigenen ethischen Anliegen und Überzeugungen bestätigt werden.“ Diese neue Form von Literatur könne man grundsätzlich als weiblich und divers klassifizieren, gegenüber der klassischen Literatur, die eher männlich und weiß war.

Nichtsdestotrotz gäbe es auch qualitativ hochwertige Literatur innerhalb des „Populären Realismus“. Hierzu geht Baßler zum Beispiel auf Lisa Krusches „Unsere anarchistischen Herzen“ (2021), Rainald Goetz‘ „Subito“ (1983) oder Dietmar Daths „Gentzen oder: Betrunken aufräumen“ (2021) näher ein. Neben einem inhaltlichen Überblick, kommen originäre Textpassagen, Rezeptionen und die Bewertung Baßlers hinzu. Konkret Dietmar Daths Roman betrachtet er als Beispiel für eine neue literarische Strömung, den „Paradigmatischen Realismus“, wie er es bezeichnet. Im Gegensatz zum schablonenhaften und vorausschauenden „Populären Realismus“ sei dieser inhaltlich überraschend und ergebnisoffen.

Summa summarum: Leicht verständlich, jedoch nicht banal bietet Baßler dem Leser eine spannende Reise durch den „Populären Realismus“. Womöglich findet der ein oder andere (schon verzweifelte) Leser dort einen Autor der Gegenwartsliteratur, dem der Seilakt zwischen trivialem Schreibstil und ästhetischem Anspruch gelingt. Vorschläge sollten zu Genüge vorhanden sein.

„Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens“ von Moritz Baßler, 2022, München: C. H. Beck. Hier bestellbar.

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