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Die Augenwischerei mit den Wachstumszahlen

Published On: 11. Dezember 2022 10:30

Urs P. Gasche /  Regierungen und Wirtschaftsvertreter gaukeln ihren Bevölkerungen vor, dass es wirtschaftlich viel besser geht, als es der Fall ist.

Wachstumskritiker und Konsumentenorganisationen beanstanden schon seit Jahrzehnten, dass das Wachstum des Bruttoinlandprodukts BIP das oberste Ziel des Wirtschaftens sein soll, dem alles andere untergeordnet wird: Lebensqualität, Schutz der Natur, eine möglichst gerechte Sozial- und Steuerpolitik, das Verursacherprinzip oder ausgeglichene Staatsfinanzen.

Alle diese Nachteile müssen sich aus Sicht von Wachstumspredigern lohnen: Die Wirtschaft soll wenigstens tatsächlich stark wachsen. Dann schlucken es vielleicht die Bevölkerungen ohne Aufmucken, wenn die Natur weiter ausgebeutet und verschandelt wird, Steuern die Reichen und Konzerne begünstigen («sie sorgen für Wachstum») oder die Defizite von Staaten immer grösser werden – all dies zu Lasten künftiger Generationen.

Um ihren Erfolg schönzureden greifen Wachstumsprediger – dazu zählen auch internationale Organisationen wie die OECD oder nationale Behörden – zu zwei einfachen Schlaumeiereien. Das Wachstum des BIP erscheint damit in einem viel positiveren Licht, als es in Wirklichkeit ist. Bei dieser Augenwischerei machen die meisten Medien – vierte Gewalt hin oder her – mit:

  1. Häufig wird das erfolgte Wachstum des BIP nominal und nicht real (nach Abzug der Inflation) angegeben. Was soll eine Bevölkerung davon haben, wenn das BIP um drei Prozent gewachsen ist, wenn sich gleichzeitig auch die Preise um drei Prozent erhöhten? Besonders elektronische Medien unterlassen es meistens, bei ihren Wachstumsmeldungen anzugeben, ob von einem nominellen oder von einem realen Wachstum die Rede ist.
  2. Fast immer wird das Wachstum des BIP pro Land angegeben und nicht pro Kopf der im Land lebenden Bevölkerung. Was soll eine Bevölkerung davon haben, wenn das BIP um fünf Prozent gewachsen ist, wenn gleichzeitig auch fünf Prozent mehr Menschen im Land leben? Pro Kopf ist das Geldeinkommen um keinen Cent gestiegen. Die Bevölkerung leidet lediglich an einem etwas grösseren Dichtestress, an gestiegenen Mieten, Land- und Bodenpreisen.

Am 10. Dezember 2022 tat die NZZ so, wie wenn sie überrascht wäre, und titelte als Neuigkeit: «Betrachtet man die Zunahme der Wirtschaftskraft pro Kopf, vermag die heimische Leistung nicht zu überzeugen». Es war Chefökonom David Marmet der Zürcher Kantonalbank, der die Wachstumszahlen unter Berücksichtigung der Inflation und der Bevölkerungszunahme in der Schweiz ausgerechnet hat.

Sein Fazit: Das reale BIP der Schweiz stieg in den letzten dreissig Jahren über 60 Prozent – pro Kopf allerdings nur um 29 Prozent. Das waren deutlich weniger als das reale Pro-Kopf-Wachstum etwa in Deutschland mit 39 Prozent.

Keine neue Erkenntnis

Besonders in der Schweiz mit ihrer überdurchschnittlichen Netto-Zuwanderung zeigten die nationalen BIP-Zahlen schon immer ein stark verzerrtes Bild. Das Buch «Schluss mit dem Wachstumswahn – Plädoyer für eine Umkehr»* führte im Jahr 2010 folgende Zahlen an:

Von 1990 bis 2009 wuchs die Schweizer Wirtschaft, gemessen am teuerungsbereinigten Bruttoinlandprodukt, total um 26 Prozent. Dieses Wachstum kam zustande, weil die Einwohnerzahl seit 1990 um 15 Prozent zunahm, während das BIP pro Kopf im gleichen Zeitraum um weniger als zehn Prozent anstieg.

Ende 2009 zum Beispiel gab das Staatsekretariat für Wirtschaft (Seco) bekannt, das reale BIP in der Schweiz sei im vorangehenden Quartal um 0,3 Prozent gewachsen. Einige Wirtschaftsjournalisten jubelten: «Die Schweiz sagt der Rezession ade», lautete eine Schlagzeile. Eine andere: «Rezession in der Schweiz beendet». Das stand ähnlich auch in der Pressemitteilung des Seco. Die Behörde wollte gute Stimmung verbreiten. Doch dieses Wachstum um 0,3 Prozent entsprach ziemlich genau der Zunahme der Bevölkerung im gleichen Quartal. Pro Kopf der Bevölkerung hatte sich also am BIP nichts geändert. Die Zunahme an Produkten und Dienstleistungen, gemessen in Geldwert, musste einfach auf mehr Köpfe verteilt werden.  

Auf die Frage, warum eine Behörde wie das Seco die Wachstumszahlen nicht pro Kopf publiziere, hatte ein Sprecher eingeräumt: «Das ist eine sehr gute Frage, aber es wird international nicht so gemacht.»

Dass die Schweiz ihre Wirtschaft primär mit Bevölkerungszuwachs ankurbelt, scheint die Wachstumsfreunde nicht zu grämen. «Volkswirtschaften mit Zugriff auf eine wachsende Bevölkerung erhalten die Chance auf zusätzliche Nachfrage», formulierte ein Leitartikler der NZZ und freute sich: «Die Schweiz ist das beste Beispiel.»

Die Zürcher SP-Politikerin Jacqueline Badran stimmte zu: «Solange wir eine auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaftsordnung haben, brauchen wir die Zuwanderung.» Das ist neu. Denn bisher setzten wachstumsorientierte Ökonominnen in der dicht besiedelten Schweiz mehr auf Produktivitätssteigerung als auf Bevölkerungswachstum. 

Unterstützung erhielt Jacqueline Badran von Serge Gaillard, dem früheren Gewerkschafter und Arbeitsmarkt-Experten im Seco und von 2012 bis 2021 Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung: «Ohne Einwanderung wäre das starke Wachstum nicht möglich gewesen», konstatierte Gaillard in einem Interview. Die Einwanderung habe namentlich die Bautätigkeit unterstützt. Wie lange noch mehr Überbauungen für noch mehr Zuwanderer wünschenswert sind, um ein starkes Wachstum zu ermöglichen, sagte Gaillard nicht.

Die Autoren des Buches «Schluss mit dem Wachstumswahn» meinten damals:

«Ein Wirtschaftswachstum oder ein ‹Konjunkturaufschwung›, der auf dem Bevölkerungswachstum beruht, bringt dem einzelnen Bürger keine materiellen Vorteile. Der Kuchen wird einfach auf mehr Köpfe verteilt. Wir bekommen nur die Nachteile zu spüren, vor allem in dicht besiedelten Ländern wie der Schweiz: Man tritt sich überall noch mehr auf die Füsse. Die Landschaft wird stärker verschandelt, auf Strassen und Schienen stockt der Verkehr. Vor sechzig Jahren teilten sich noch 4,7 Millionen Menschen das begrenzte Land. Heute leben 7,8 Millionen Menschen in der Schweiz. Wenn wir den Trend nicht wenden, so prognostiziert das Bundesamt für Statistik, werden im Jahr 2050 neun Millionen Menschen in der Schweiz leben.»

Das war eine Fehlprognose des BFS: Die Zahl der Einwohner ist bereits heute auf 8,7 Millionen gestiegen. Entsprechend mehr wird in der ganzen Schweiz konsumiert und investiert, so dass stets mit Freude verkündet werden kann, wie stark die Wirtschaft wieder gewachsen sei.

Behörden und Medien werden höchstwahrscheinlich versuchen, auch in Zukunft mit schweizweiten Wachstumszahlen für gute Stimmung zu sorgen – wenn möglich mit nominalen Zahlen (ohne Berücksichtigung der Inflation) und unter Verschweigen des realen Pro-Kopf-Wachstums.

Den Wachstumspredigern ist es egal, was denn überhaupt wächst

Wenn Wachstumszahlen vergangener Jahre veröffentlicht werden, wird geflissentlich verschwiegen, was zum so ersehnten Wachstum beigetragen hat. Nur zwei Beispiele:

  • Haben etwa noch kurzlebigere oder doch langlebige Produkte zum Wachstum beigetragen? Kleider, Möbel, elektronische Geräte? Haben die Kosten der Müll-Entfernung zugenommen? Je grösser die unerwünschte Wegwerfwirtschaft, desto stärker wächst die Wirtschaft.
  • Wurden mehr tonnenschwere Autos gekauft oder viel mehr von den kleinen? Je schwerere und teurere Autos, desto stärker wächst die Wirtschaft.

Wenn Wachstumszahlen vergangener Jahre veröffentlicht werden, wird ebenso verschwiegen, wer vom Wachstum am meisten profitiert hat:

  • Waren es die sozial und wirtschaftlich Schwächsten? Oder vor allem Reiche und Superreiche?

Wachstumsprediger reden sich heraus: Jedes beliebige, möglichst hohe Wirtschaftswachstum sei auch in reichen Ländern weiter nötig, um Armut und Hunger zu beseitigen, Renten zu sichern, genügend Erwerbsarbeit zu schaffen sowie die nötigen Mittel für den Umweltschutz und die Gesundheitsversorgung bereitzustellen.

Wäre dies wirklich der Fall, würden wir längst im Paradies leben. Dies gilt ganz besonders für die USA mit dem fünfthöchsten Pro-Kopf-BIP. Der dortigen Bevölkerung müsste es ausgezeichnet gehen. Doch die Realität zeigt, dass in den entwickelten Industriestaaten das weitere Wachstum des Bruttoinlandprodukts BIP untauglich ist, um den allgemeinen Wohlstand zu messen, geschweige denn Glück und Lebensqualität.

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  • *Hanspeter Guggenbühl und Urs P. Gasche: 
    «Schluss mit dem Wachstumswahn – Plädoyer für eine Umkehr», Rüegger Verlag, 2010, 16.80 CHFca. 10 Euro (gebraucht), 15 Euro (neu).

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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