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Russen, Ukrainer und der kleine Unterschied

Published On: 27. Februar 2023 19:01

Vor dem Krieg ging es mir großartig. Ich bin in Kiew geboren, und habe dort auch gelebt, meine Eltern und mein Freund leben jetzt dort. Er ist aus der Westukraine, aus Riwne, deshalb spricht er ukrainisch. Ich war gewohnt, russisch zu sprechen, weil meine Mutter aus Saporischschja stammt, das war im wesentlichen russischsprachig.

Ich bin selbständige Fotografin, ich habe Porträts gemacht, Werbefotografie für Gewerbetreibende; außerdem habe ich für verschiedene Magazine gearbeitet. Ich hatte die Kiewer Schule für Fotografie besucht, aber vor allem schöpfe ich aus meiner persönlichen Erfahrung und aus der Erfahrung der Zusammenarbeit mit anderen Fotografen.

Kurz vor dem Krieg wollte ich mein eigenes Modelabel auf den Markt bringen, es war schon alles vorbereitet. Am Donnerstag sollte ich mich mit einem Produktionsmanager treffen, die ersten Muster sollten in die Schneiderei gehen. Aber daraus wurde nichts.

Ich habe in der Schule Deutsch gelernt und immer davon geträumt, irgendwann nach Deutschland auszuwandern. Meine beste Freundin ist vor 22 Jahren nach Deutschland gegangen. Das war mein Ziel – auswandern.

Aber zuletzt war alles so gut gelaufen, dass ich mich fragte: „Muss ich wirklich auswandern? Dort wohne ich in einer Mietwohnung und zahle irrsinnige Steuern…“

Mir war klar, dass mein Lebensstandard in der Ukraine ziemlich hoch war. Ich wollte mein Modelabel herausbringen, nur noch fotografieren, was mir Spaß macht, darüber nachdenken, welche Handtasche ich kaufen möchte und wohin ich reisen will. Mir ging es sehr gut. Deshalb war für mich ein Umzug überhaupt keine Frage mehr. Aber dann war ich doch gezwungen umzusiedeln.

Der 24. Februar: Wir waren in der Westukraine

Im Februar waren wir im Urlaub in der Türkei. Wir sind absichtlich zu diesem Zeitpunkt gefahren, weil sich im Informationsraum der Krieg schon ankündigte. Und ich bin ein ängstlicher Mensch, mir macht alles Angst. Ich hatte immer Angst, denn Krieg assoziiere ich immer mit Brutalität, Folter, Hunger und Kälte.

Also beschlossen wir – mein Freund, meine Tochter und ich –, zeitig vorher zu verreisen; wir wählten einen günstigen Zeitraum, um alles abzuwarten. Aber solange wir dort waren, hat der Krieg nicht angefangen.

Deshalb überlegten wir, ob wir nach Kiew zurückgehen sollten oder nicht. Wir fuhren zurück, und zwei Wochen später begann der Krieg.

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Am Mittwochabend wurde es total beunruhigend, die Lage spitzte sich zu. Bekannte von uns, die bei der Armee sind, warnten uns, dass es in der Nacht Bombardierungen geben würde. Wir fuhren in die Westukraine zu den Eltern meines Freundes, am 24. Februar nachts waren wir schon in Riwne.

Wir dachten, dass wir gleich zur Grenze fahren sollten, aber weil dort schon so lange Schlangen waren, standen wir zwölf Stunden. Die Männer wurden schon nicht mehr rausgelassen. Man ließ dann nur mich und meine Tochter raus. Mein Freund fuhr zurück, war noch drei Monate bei seinen Eltern, und dann, als die Truppen schon Kiew verließen, beschloss er, nach Kiew zurückzugehen.

Ich hatte an der Grenze Glück. Es war nachts, kalt, wir mit unseren Koffern, schon ziemlich müde. Wir hatten nichts zu essen und überlegten, wie wir zu Fuß über die Grenze kommen sollen. Und da war noch eine Frau mit zwei Kindern, deren Mann plötzlich entschied, ihr das Auto zu überlassen. Aber sie hatte keinen Führerschein, und er fragte mich, ob ich einen Führerschein habe. Ich habe einen. Wir reisten aus, übernachteten in Polen. Wir hatten wirklich Glück.

Soll ich bleiben oder zurückkehren

Ich weiß im Moment nicht, ob ich in Deutschland bleiben oder in die Ukraine zurückgehen soll. Im Moment habe ich mein Leben ganz gut organisiert, Bekannte haben eine Wohnung für mich gefunden. Und hier wohnt eine Freundin von mir. Sie war damals als Austauschschülerin bei uns, wir sind schon seit 20 Jahren befreundet.

Die Deutschen sind alle so hilfsbereit, ich bin völlig überrascht. Ich habe noch nie in meinem Leben so hilfsbereite Menschen getroffen. Menschen, die ich noch nie gesehen habe, sind bereit zu helfen. Darüber freue ich mich.

Die Wohnung, in der wir wohnen, gehört einer Frau, die während der Corona-Zeit zu ihrem Freund gezogen ist. Die Wohnung stand leer, und jetzt wohnen wir dort. Ob es für länger ist, weiß ich nicht.

Ich bekomme staatliche Unterstützung. Meine Tochter geht zur Schule. Mit einer Arbeit hat es bisher noch nicht so geklappt, weil ich noch mit behördlichen Formalitäten zu tun habe. Es ist im Moment meine Hauptbeschäftigung, das alles zu regeln.

Aber ich hatte auch ein paar Fotosessions. Bei den Rechnungen hat mir ein Bekannter aus Münster geholfen. Eine Session war für eine Produktionsfirma, für Sänger. Außerdem ein paar Retuschier-Aufträge.

Meine Eltern sind in Kiew geblieben

Ich spreche sehr gut Deutsch, darüber wundern sich alle. Vor dem Krieg wussten viele Deutsche nicht einmal, wo die Ukraine liegt und was das überhaupt ist, die Ukraine. Viele dachten, das sei ein Teil von Russland. Ich glaube, deshalb haben viele, auch Russland, die Ukraine unterschätzt. Und weil man sie unterschätzt hat, hat man falsche Voraussagen getroffen.

Die Ukraine ist ein großer eigenständiger demokratischer Staat. Aber viele denken anders, die meisten denken, sie sei eine Art russischer Appendix. Ich glaube, auch die meisten Leute in Russland denken das. Aber das stimmt nicht.

Gerade unser Freiheitswille, unsere Eigenart, die Demokratie geben dem Volk die Kraft zu kämpfen. Wir haben die größere Motivation.

Keine Probleme mit der russischen Sprache

In der Ukraine gibt es keine Probleme mit der ukrainischen und der russischen Sprache, worüber so viel geredet wird. Das sage ich als jemand, der von klein auf gewohnt ist, russisch zu sprechen. Mein Freund spricht ukrainisch, und wir haben kein Problem damit. Ich habe Bekannte, bei denen es genauso ist. Das ist ganz normal. Ich wechsle jederzeit ganz einfach ins Ukrainische. Als ich in die Westukraine kam, hatte ich dort auch keine Probleme.

Die Propagandisten sagen, wenn man russisch spricht, dann ist man Russe. Aber wenn man mich fragt, als was ich mich fühle, wenn ich russisch spreche, dann sage ich, ich fühle mich als Ukrainerin, klare Sache. Warum soll ich mich als etwas anderes fühlen, wenn ich Russisch spreche?

Man kann dieselbe Frage ja auch, zum Beispiel, einem Australier stellen: „Fühlen Sie sich als Amerikaner oder als Engländer?“ Und man kann die Deutschen fragen: „Fühlen Sie sich als Österreicher?“ Ein Teil der Ukrainer spricht Russisch. aber das hat einen historischen Hintergrund. Aber trotzdem: Die Mentalität von Russen und Ukrainern ist unterschiedlich.

Ich denke, dass Russland ein totalitäres Regime hat, das hat sich historisch so ergeben. Wir in der Ukraine haben ein demokratisches Regime. Es ist auch wichtig, das zu verstehen. Wir haben ein etwas anderes Verhältnis zur Macht und zur Meinungsfreiheit. Zu allem. Wir sind frei.

Bei uns gibt es sogar ein Video, wo ein junger Mann unseren ehemaligen Präsidenten Poroschenko übel beschimpft, aber ihm ist deshalb nichts passiert. Wenn einer es will, dann kann er Selensky, wenn er ihm auf der Straße begegnet, irgendwelche Scheußlichkeiten ins Gesicht sagen, das bleibt auch unbestraft. Wir haben protestiert, wir haben den Maidan veranstaltet, als uns etwas nicht gefallen hat.

Die Russen haben eine Opferpsychologie

Psychologisch gesehen besteht der Unterschied verallgemeinert gesagt darin, dass die Russen ein wenig eine Opferpsychologie haben. Die Ukrainer dagegen sind eher der Psychotyp des rebellischen Kindes.

Die Leute in Russland sind so, dass sie die Dinge eher hinnehmen und ertragen und Angst haben, ihre Meinung zu sagen oder auf die Straße zu gehen, wir in der Ukraine dagegen, als rebellische Kinder, machen sofort Stress, wenn uns etwas nicht gefällt. Genau wie Kinder: „Nein, ich will das nicht!“

Wir bewegen uns immer mehr in Richtung Demokratie. Die ältere Generation, die ihr gesamtes bewusstes Leben in der Sowjetunion verbracht hat, denkt lieber an die Stabilität von damals, nicht so gern an das, was jetzt ist. Aber alle diese Revolutionen und Kriege sind ein Weg vorwärts.

Die Persönlichkeit wächst durch den Schmerz. Das gilt auch auf der Ebene des Staats. Um endgültig unabhängig und eigenständig werden zu können, müssen wir leider diesen Weg der Separierung beschreiten.

Der Unterschied zwischen Ost- und Westukraine

Zwischen der Westukraine und der Ostukraine gibt es einen kleinen Mentalitätsunterschied. Der Westteil ist mehr ukrainisch, dort sprechen praktisch alle ukrainisch. In den Karpaten wahrt man noch die alten Traditionen, man trägt sogar alltags die Wyschywanka. Auch die alten Heiratsbräuche, die Lieder und die Musik sind erhalten geblieben. Besonders auf dem Land hat sich das alles erhalten.

Kiew ist, wie alle zentralen Städte, mehr europäisiert, dort mischt sich alles. So richtig im Osten war ich noch nie. Das sind ganz normal Industriestädte, ich hatte nie Lust, dorthin zu fahren. Ich denke, da ist die Mentalität mehr russisch.

Mit Viktoria Owtscharenko sprach Tatiana Firsova am 9.9.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine, Russland und Belarus zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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