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„Ich will Politiker in Russland sein“

Published On: 13. März 2023 19:13

Ich wohnte seit 2003 in Petersburg. Aber nach Beginn des Kriegs, Anfang März, fuhr ich nach Usbekistan. Dort war ich sieben Monate lang. Von dort bin ich schließlich nach Deutschland geflogen, über Georgien und die Türkei. In Georgien habe ich sehr viele Freunde und Bekannte, dort blieb ich zwei Wochen.

Ich habe zwei Ausbildungen. Meiner ersten Ausbildung nach bin ich Metallurg, meiner zweiten nach Organisationsmanager. In Petersburg bin ich kommunaler Abgeordneter im Zentralbezirk. Mein Haupttätigkeitsfeld ist die Politik. Ich habe an verschiedenen Wahlkämpfen teilgenommen und habe die Kandidaten unterstützt, die mir nach ihren Auffassungen nahe waren. 2021 war ich Leiter des Wahlkampfteams eines oppositionellen Kandidaten.

Der 24. Februar: „Ich war auf allen Protestmeetings“

Am 24. Februar war ich zu Hause in Sankt Petersburg. Als Russland die Invasion begonnen hatte, konnte ich lange nicht schlafen, ich las die Nachrichten. Als ich begriffen hatte, dass Russland die Ukraine angegriffen hat, habe ich alles abgeschaltet und gedacht: Das wird die letzte Nacht sein, in der ich normal schlafe.

Dann begannen die Meetings, ich war immer dabei. Ich wurde nicht verhaftet. Anschließend fuhr ich aufs Polizeirevier und versuchte, den Verhafteten zu helfen. Als die Meetings nicht mehr so zahlreich besucht wurden und all diese repressiven Gesetze verabschiedet wurden, dachte ich, jetzt wird es in diesem Land ziemlich übel werden, und ich sollte wohl besser ausreisen. Mein Plan war, für etwa zwei Monate wegzufahren, aber die Lage wurde immer schlimmer und schlimmer, deshalb bin ich immer noch nicht wieder in Russland.

Petition über Putins Absetzung unterschrieben

In Petersburg gibt es den Gemeinderat des Bezirks Smolninskoje. Sie haben einen Appell an die Staats-Duma verabschiedet, es ging darin irgendwie um Putins Aktivitäten, genau erinnere ich mich nicht. Sie wurden zur Polizei einbestellt. Alle, die für diesen Beschluss gestimmt hatten, bekamen Vorladungen. Und wir überlegten, wie wir sie unterstützen können. Wir haben eine Petition über die Absetzung Putins aufgesetzt und den Abgeordneten vorgeschlagen, sie zu unterschreiben. Am Ende haben 75 Abgeordnete in ganz Russland unterschrieben.

In der Petition ging es darum, dass Putins Handeln nicht zur Fortentwicklung Russlands beiträgt, sondern das Gegenteil sei der Fall, und wir forderten Putin zum Rücktritt auf. Wir achteten sehr sorgfältig auf die Formulierungen, um nicht unter irgendwelche Gesetze über Falschinformationen und Diskriminierung der Armee zu fallen. Damit eine möglichst große Zahl von Abgeordneten gefahrlos ihre Position äußern konnte.

Diese Petition schlug in den Medien große Wellen. Ich habe danach sehr viele positive Rückmeldungen erhalten. Es folgten keine Konsequenzen. Ich dachte, dass wir wenigstens eine Geldstrafe bekommen würden. Aber man ließ uns in Ruhe. Ich denke, deshalb, weil das so ein Massending war. Wenn sie 75 Abgeordnete zur Miliz einbestellt hätten, das hätte wieder dicke Schlagzeilen gegeben.

Als wir die Petition unterschrieben, war ich schon nicht mehr in Russland. Aber mir ist klar, dass ich jetzt wohl in Russland auf irgendwelchen Listen stehe.

„Die Gesellschaft will nicht in den Krieg“

Meinungsumfragen unter den Bedingungen einer totalen Zensur und der völligen Einschüchterung der Menschen kann man nicht vertrauen. Nach meinem Eindruck ist ein Teil der Gesellschaft, 20 bis 30 Prozent kategorisch gegen den Krieg. Weitere 20 bis 30 Prozent sind für den Krieg. Aber ein großer Teil schließt sich einfach irgendeiner Meinung an.

Es gibt Umfragen, die besagen, dass die russische Gesellschaft möchte, dass der Krieg beendet wird. Es gibt viele Menschen, die gegen den Krieg sind. Nur darf man sich jetzt nicht dagegen äußern. Man sieht das daran, wie die Menschen vor der Mobilmachung fliehen. Die Gesellschaft will nicht in den Krieg ziehen.

Gegenwärtig können wir die Richtung, in die sich unser Land bewegt, nicht wesentlich beeinflussen. Aber man muss bereit sein, wenn sich die Möglichkeit ergibt. Die gesellschaftliche Stimmung wird sich ändern. Der Krieg zieht sich in die Länge. Die Gesellschaft wird die Verschlechterung ihrer finanziellen Lage zu spüren bekommen, die Stimmung der Eliten wird sich ändern.

Wenn Russland verliert, und es wird bestimmt verlieren, dann sind Veränderungen möglich. Ich würde gern nach Russland zurückgehen und im legalen Politikfeld mitwirken. Ich weiß, dass ich im Bereich Wahlkampf große Kompetenzen habe, und diese möchte ich in Russland anwenden.

Ich leide nicht, weil ich weiß, dass wir in diesem Moment nichts beeinflussen können. Wir müssen abwarten, unsere Kräfte sparen und dann zurückgehen. Ich glaube, das wird nicht sehr lange dauern. Vielleicht fünf Jahre.

Ich habe den Eindruck, dass das Regime immer weniger monolithisch geschlossen ist. Vor Beginn des Kriegs wusste man nicht, wie lange es noch durchhält. Aber jetzt hat es schon Risse bekommen.

In Deutschland im Stadium eines Touristen

In Deutschland befinde ich mich im Stadium eines Touristen. Es ist alles neu für mich, mysteriös, interessant. Mir gefällt die Architektur, mir gefallen die gesellschaftlichen Regeln, mir gefällt der respektvolle Umgang mit Fußgängern und Fahrradfahrern.

Was mir nicht gefällt, das ist die Bürokratie, da gibt es mehr als in Russland. In dieser Hinsicht habe ich die Mentalität noch nicht wirklich verstanden, da habe ich noch gewisse Probleme. Ich werde mich auch weiterhin an politischen Aktionen beteiligen, vielleicht irgendwelche Appelle oder Antikriegsprojekte, ich möchte aufmerksam machen. Vielleicht werde ich mich mit Bildungsprojekten befassen. Ich werde Deutsch lernen. Was sonst noch? Das muss ich mir erst überlegen.

Mit Andrei, der anonym bleiben will, sprach Tatiana Firsova am 28.12.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine, Russland und Belarus zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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