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„Eine Granate zerfetzte meinen Fuß“

Published On: 13. März 2023 19:15

Ich verließ Belarus am 1. November 2020 und fuhr nach Polen, wo ich zwei Monate in der Reha verbrachte. Danach beschloss ich, in Polen zu bleiben. 2021 beantragte ich dort subsidiären Schutz, und nach vier Monaten bekam ich die Zusage.

Nach Berlin kam ich über eine Bekannte. Sie ließ mich einen Antrag auf Hilfeleistung ausfüllen, und im September fuhr ich zum ersten Mal nach Berlin zu einer Untersuchung. Dann fuhr ich zurück nach Polen, und am 1. November kam ich schon für die Operation her.

Ich habe in Minsk gelebt. Ich habe in Moskau gelebt, was ich jetzt für einen schweren Fehler halte. Ich gebe mir Mühe, das nicht an die große Glocke zu hängen. In Minsk habe ich als Autoschlosser bei den Minsker Traktorenwerken gearbeitet, dort waren 50 000 Leute beschäftigt.

Demo in Minsk: Eine Granate traf meinen Fuß

Am 9. August 2020, am Tag nach der Präsidentenwahl, sah ich, dass 79 Prozent für Lukaschenko „gestimmt“ hatten. Ich beschloss, zu dem Meeting auf dem Puschkinplatz zu gehen. Auf diesem Meeting warfen sie Blendgranaten in die Menge. Es gab auch Gummigeschosse und Tränengas. Sie fingen die Leute ein, prügelten mit Schlagstöcken auf sie ein und wandten sehr grobe Verhaftungsmethoden an. Richtig brutale.

Eine Granate zerfetzte mir den Turnschuh. Sie luden mich in den erstbesten Wagen, den sie fanden, denn für eine Ambulanz war durch diesen Ring von OMON, Miliz und Militär kein Durchkommen. Ich wurde ins Krankenhaus gebracht und sofort operiert. Sie haben mir einen Fuß amputiert.

KARENINA-Serie

Flucht und Exil

Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Den Monat danach war ich in Minsk. Anschließend fuhr ich nach Warschau zur Reha. Ich fuhr mit einem polnischen humanitären Visum. Wir waren zu sechst. Alles Leute, die verletzt wurden.

Politik? Eine schmutzige Sache

Ich war kein Aktivist, ich war immer apolitisch. Aber als ich anfing, mich mit Politik auseinanderzusetzen, merkte ich schnell, dass mich das in die falsche Richtung bringt. Ich habe einfach die Finger von der Politik gelassen. Ich will damit nichts zu tun haben, das ist eine schmutzige Sache, dort wird sehr viel rumgemauschelt. Das nimmt einen so sehr mit, dass man glatt anfängt zu trinken. Wenn meine Freunde anfangen, über Politik zu sprechen, unterbreche ich sie.

Meine erste Revolution war der Maidan, wo ich im Dezember 2013 war. Damals fing ich an, mich dafür zu interessierten, warum das passierte. Zu der Zeit war Janukowitsch an der Regierung, der unfähigste ukrainische Präsident. Damals wurden die Studenten verprügelt, weil sie der Meinung waren, dass die Ukraine einen europäischen Weg einschlagen sollte. Ich habe dort Leute kennengelernt und mit ihnen geredet.

Als ich damals dahinfuhr, sagte meine Oma, da würden Menschen getötet. Sie würden sich da gegenseitig auffressen. Sie schaute damals zu viel russisches Horrorfernsehen. In Belarus senden sie den russischen „Ersten Kanal“. Natürlich kann man sich auch was anderes ansehen, es gibt Internet.

Friedliche Proteste? Das nutzt nichts

Jetzt sehe ich noch ab und zu Nachrichten. Aber um die belarussische Opposition kümmere ich mich nicht. Sie hat kein Rückgrat. Sie hat noch weniger Rückgrat als die Nawalny-Bewegung. Trotz Nawalnys Ermittlungen hat sich nichts geändert. Es wird nicht weniger geklaut.

Ich glaube nicht, dass man auf friedliche Weise irgendetwas machen kann, weder in Kiew noch in Georgien. Man denke nur an den arabischen Frühling. Wo hat man mit friedlichen Protesten je etwas erreicht? Die Miliz geht derart brutal vor. Da kann man doch nicht einfach dastehen und applaudieren. Man kann das entweder hinnehmen, es erdulden, oder man geht ins Gefängnis.

In Belarus sind jetzt die Zeiten des NKWD zurück, die 30er-Jahre, man holt die Menschen aus ihren Wohnungen.

Ich bleibe in Polen, solange dieser schnurrbärtige Kettenhund noch da ist. Dann will ich zurück, denn das ist meine Heimat. Mein Vater und meine Mutter wurden in Minsk geboren. Ich will nach Hause. Ich bin niemandem böse.

Mit Georgi Saikovski sprach Tatiana Firsova am 14.11.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine, Russland und Belarus zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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