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Kassandras gegen den Kreml

Published On: 14. März 2023 6:16

Viele warnende Prognosen über Kriegsfolgen von russischen Militärangehörigen und Wissenschaftlern, ausgesprochen vor dem 24. Februar 2022, haben sich bestätigt. Drei Beispiele:

Am 31. Januar veröffentlichte Generaloberst a. D. Leonid Grigorjewitsch Iwaschow, Vorsitzender der Allrussischen Offiziersversammlung, auf deren Website einen Appell an Präsident Putin und die russischen Bürger, in dem er im Gegensatz zur Kreml-Propaganda schrieb: „Insgesamt ist die strategische Stabilität gewahrt, Atomwaffen sind zuverlässig unter Kontrolle, Nato-Streitkräfteverbände bauen sich nicht auf und zeigen keine bedrohliche Aktivität.“

Geradezu wachrüttelnd skizzierte er das wahrscheinliche, bevorstehende Lagebild: „Der Einsatz militärischer Gewalt gegen die Ukraine wird erstens die Existenz Russlands selbst als Staat in Frage stellen; zweitens wird es Russen und Ukrainer für immer zu Todfeinden machen. Drittens wird es Tausende (Zehntausende) von toten jungen, gesunden Männern auf der einen und auf der anderen Seite geben, was sicherlich die zukünftige demografische Situation in unseren sterbenden Ländern beeinflussen wird.“ Darüber hinaus werde „Russland definitiv in die Kategorie der Länder aufgenommen, die den Frieden und die internationale Sicherheit bedrohen, wird den schwersten Sanktionen unterliegen“.

Der Aufruft endete mit der Aufforderung an den Präsidenten „die kriminelle Politik der Provokation eines Kriegs, in dem die Russische Föderation allein gegen die vereinten Kräfte des Westens steht, aufzugeben und  nach Artikel 3 der Verfassung zurückzutreten“.

Aus seinem Interview dann am 12. Februar mit der zu dem Zeitpunkt noch nicht geschlossenen liberalen Nowaja Gaseta sollen hier nur zwei weitere massive Kritiken herausgestellt werden. Der ehemalige Drei-Sterne-General empörte sich über die Leichtfertigkeit, mit der „das Mitglied von Einiges Russland (UR) Fjodorow offen über einen Atomschlag gegen die USA spricht. … Wenn eine solche Aussage von einem UR-Abgeordneten gemacht wird und ihr später weder von der Partei noch von Peskow (Kremlsprecher, W.L.) widersprochen wird, wird die Drohung dort (USA, W. L.) sehr ernst genommen. Es ist die Regierungspartei, also schreiben die Amerikaner solche Worte zu Recht dem Präsidenten, der Führung des Landes zu.“

Nicht minder erzürnte er sich über ein Ultimatum an die Ukraine von Außenminister Lawrow auf einer Pressekonferenz. „Ich sehe und verstehe, dass diese Forderungen unrealistisch sind, und dann erklärt der stellvertretende Außenminister, dass es keine Wahl gibt und sie akzeptiert werden müssen. Auf die Frage, was passieren würde, wenn sie sich weigerten, lautete die Antwort: „Russland wird das militärisch-technische Argument verwenden.  Ich habe geschaut, wer in Europa zuletzt in einem solchen Ton gesprochen hat. Und es war Hitler, der den Dänen ein selbes unmögliches Ultimatum stellte, wir kehrten zu jenen Zeiten zurück.“

Notabene, Iwaschow gehörte in seiner gesamten Militärkarriere in seiner Beurteilung der Nato immer zu den „Falken“. Und als langjähriges Mitglied im nationalistischen Think Tank des Isborsk-Klubs und dessen guten Verbindungen zum Kreml sind ihm liberale Reformgedanken für Russland völlig fremd.

Kein Blitzkrieg in der Ukraine

Mit seinen Mahnungen stand er nicht allein. Am 3. Februar 2022 verurteilte Oberst a. D. Mikhail Khodarenok, Militärkolumnist von Gazeta.ru und des Radiosenders Vesti FM, in der Moskauer Zeitung Nesawissimaja gaseta unter dem Titel „Begeisterte Falken und hastige Kuckucke“ die Arroganz von Kriegsprognosen in der Politik: „Einige Vertreter der russischen politischen Klasse argumentieren heute, dass Russland der Ukraine in wenigen Stunden (kürzere Fristen werden auch genannt) eine vernichtende Niederlage zufügen kann, wenn ein militärischer Konflikt ausbricht. … Niemand wird die russische Armee in der Ukraine mit Brot, Salz und Blumen treffen. … Im Allgemeinen wird es keinen ukrainischen Blitzkrieg geben.“

Zur Untermauerung verglich er ausführlich die beiderseitigen militärtechnischen und logistischen Stärken wie Schwächen. Realistisch beurteilte er auch, dass der Westen aller Voraussicht nach nicht mit eigenen Soldaten in den Kampf in der Ukraine eintreten werde. Aber: „Im Fall einer russischen Invasion schließt dies jedoch keineswegs eine massive Unterstützung der Streitkräfte der Ukraine durch den kollektiven Westen mit einer Vielzahl von Waffen und militärischer Ausrüstung sowie Massenlieferungen aller Art von Material aus. … Es besteht kein Zweifel, dass die Vereinigten Staaten und die Länder der Nordatlantischen Allianz eine Art Reinkarnation von Lend-Lease nach dem Vorbild des Zweiten Weltkriegs beginnen werden, daran besteht kein Zweifel.“

Sein Fazit lautete plausibel und eindeutig: „Ein bewaffneter Konflikt mit der Ukraine liegt derzeit grundsätzlich nicht im nationalen Interesse Russlands. Daher ist es für einige überdrehte russische Experten am besten, ihre Hassfantasien zu vergessen. Und um weiteren Reputationsverlusten vorzubeugen, nie wieder daran zu erinnern.“  Seine Kriegsanalyse am 16. Mai im staatlichen Sender Rossija-1 fand etliche Bestätigungen der Vorkriegsaussagen. Doch schon zwei Tage später vollzog er im selben Sender eine plötzliche 180-Grad-Kehrtwendung, lobte nun die russische Übermacht und demonstrierte Siegeszuversicht. Dass er zwischen beiden diametralen Beurteilungen einen „staatlichen Hinweis“ bekommen hat, erscheint plausibel.

Der sinnloseste Krieg der Geschichte

Am 22. Februar, zwei Tage vor Kriegsbeginn, veröffentliche Grigory Yudin, Soziologe und Philosoph an der renommierten Moscow School of Social and Economic Sciences, auf der millionenfach genutzten, spendenfinanzierten unabhängigen britischen Medienplattform openDemocracy den Beitrag „Putin steht kurz davor, den sinnlosesten Krieg der Geschichte zu beginnen“.

Einleitend schrieb er: „In naher Zukunft wird ein großer Krieg beginnen – ein Krieg, den wir zu Lebzeiten meiner Generation und vielleicht auch der vorherigen Generation nicht gesehen haben.“ Er deutete korrekt die Beurteilungen einheimischer Militärexperten, dass der voraussichtliche Hauptangriff sich nicht auf den Donbas richten werde: „In der russischen Region Rostow, die an die ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk grenzt, sind die Streitkräfte relativ bescheiden, aber Kiew, Charkiw und Odessa sind alle von direkten Angriffen bedroht.“

Hoffnungen des Westens, mit Sanktionen ein funktionierendes Stoppschild für Putin aufstellen zu können, erteilte er eine deutliche Absage: „Putin hat jedoch wiederholt gesagt, dass Sanktionen keine Rolle spielen werden. Das bedeutet, dass der aktuelle Plan des Kremls alle schlimmsten Szenarios berücksichtigt. Es gibt keine Sanktionen, die Putin zwingen würden, die Ukraine zu verlassen.“

Ungeachtet seiner Auffassung, dass die Nato „kein friedliches und unschuldiges Bündnis“ sei und die Osterweiterungen eine respektlose Missachtung russischer Interessen, seien Putins Reaktionen falsch gewesen. „Das Problem ist, dass Putin nur an ein Werkzeug glaubt: rohe militärische Gewalt. Er handelte und handelt weiterhin aggressiv, ausgehend von der Tatsache, dass der einzige Weg, ein Land dazu zu bringen, die Nato-Mitgliedschaft abzulehnen, gewaltsam ist.“

Das wiederum würde in eine Beitrittsspirale münden, die er perspektivisch richtig deutete und dem Präsidenten ein fehlleitendes sicherheitspolitisches Management attestierte: „Dank Putins Politik wollen immer mehr Länder dem Block beitreten, und Russlands Position verschlechtert sich. Das Ergebnis des kommenden Kriegs wird wahrscheinlich den Beitritt Schwedens zur Nato beinhalten, und auch die öffentliche Meinung in Finnland hat sich geändert. … Unter Putin ist der Nato-Block stärker denn je geworden.“

Die Allianz stelle auch aus russischer militärischer Beurteilung keine direkte, nicht einmal eine mittelbare Bedrohung dar. „Gleichzeitig geben russische Generäle, die den Mut haben, sich ehrlich zu äußern, zu, dass die Nato keine unmittelbare Bedrohung für Russland darstellt. Die Nato ist ein möglicher Gegner, aber ein Angriff der Nato ist keine Herausforderung erster oder gar zweiter Ordnung.“

Insofern wertete er Warnungen vor einer militärischen Einnahme Russlands durch das westliche Bündnis als Popanz und Kreml-Chimäre: „Die Eroberung Russlands durch die Nato hingegen ist die persönliche Angst Putins, der Angst davor hat, das Schicksal von Oberst Gaddafi in Libyen zu teilen. Er hat Angst, dass er keinen Aufstand um jeden Preis niederschlagen kann. Russlands Interessen stehen Putins Interessen entgegen. Und so handelt er in seinem eigenen Interesse, stärkt die Nato und drängt sie näher an die Grenzen Russlands.“

Warum ignorierte Putin die Warnungen?

Alle diese schlüssigen Bedenken, Kritiken und Gefahrenhinweise waren dem Kreml bekannt. Warum also schlug Putin sie in den Wind und entschied sich doch für den Angriff?

Derartige Warnprognosen waren eben sehr vereinzelt. Sie stammten nicht von Personen, welche die öffentliche Meinung beeinflussen konnten, und wurden ohnehin nur in Nischenpublikationen oder im Ausland publiziert. Die geballte Macht der gelenkten Medien sollte ein anderes Bild vermitteln. Die in der Ukraine geheim operierenden Aufklärungsdienste von GRU und FSB gaben außerdem eine optimistische, aber falsche Lageeinschätzung. Insbesondere jedoch wollte Putin diesen von ihm nationalistisch aufgepumpten Krieg für sein geopolitisches Machtprojekt einer künftigen staatlichen Dreieinigkeit aus Russland, Belarus und der Ukraine. Der Propaganda fällt gleichwohl die Aufgabe zu, den Angriff als „heiligen Krieg“ (Svyashchennaya voyna) des russischen „Gut“ gegen westliches „Böse“ zu sakralisieren.

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