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‚Gayropa‘ in Belarus

Published On: 17. März 2023 9:57

Wenn ein Mensch in einer ausweglosen Situation steckt, kann er verzweifeln (russisch: ottschajat’sja) oder tollkühn (russisch: ottschajanno) versuchen, aus ihr herauszukommen. Das Russische markiert den Gegensatz der zwei Haltungen mit wenigen Buchstaben.

Als in diesem Sinn tollkühn in verzweifelter Lage kann der in Deutschland lebende russische Musiker Vasiliy Antipov gelten, ein hochgebildeter, mit außerordentlicher Körperkraft begabter Mann, der heute als Fahrer physische Arbeit unter hohem Zeitdruck leistet, aber auch als klassischer Gitarrist und Lautenspieler auftritt und nebenher eine Symphonie komponiert, die er im vergangenen Jahr begann, als er mehr als acht Monate lang in belarussischen Haftanstalten einsaß.

Der vierzig Jahre alte, 1,92 Meter große Antipov wuchs mit elf Geschwistern in einer Moskauer Wissenschaftlerfamilie auf, die ihm in den prekären Neunzigerjahren eine Ausbildung an der angesehenen Gnessin-Akademie organisieren konnte. In den späten Nuller- und frühen Zehnerjahren arbeitete er mit dem Dirigenten Teodor Currentzis, spielte etwa den Gitarrenpart in Alban Bergs „Wozzeck“ am Bolschoi Theater oder die Laute, als Currentzis in Nowosibirsk die Purcell-Oper „Dido und Aeneas“ herausbrachte.

Doch weitaus lukrativer waren in jener Zeit seine Jobs als Industriekletterer, etwa beim Hochhausbau in der Moskauer City oder beim Installieren von Werbebannern. Später zog der Musiker, den seine Freunde Wassja rufen, um künstlerisch weiterzukommen, nach Frankfurt, von wo er im Januar vorigen Jahres eine Busreise nach Moskau antrat, um seine Familie zu besuchen.

Ob Antipov seine Verwandten in Russland je wiedersehen wird, ist völlig unklar. Denn an der polnisch-belarussischen Grenze wurde er an jenem Wintertag von belarussischen Grenzbeamten festgehalten, die ihn für Stunden in einen Arrestantenkäfig einsperrten, erzählt Antipov bei unserem Treffen. Seine Gefängniserinnerungen werden unter dem Titel „Eingesperrt“ („W sakljutschenii“) in der neuen exilrussischen Literaturzeitschrift Fifth Wave, die im Mai in Amsterdam herauskommt, auf Russisch und Englisch publiziert.

Er habe sich bei den Polizisten über solche Behandlung beklagt, sagt Antipov, was jene zum Anlass für ein „kurzes Erziehungsgespräch“ genommen hätten, wie es im Milizjargon heißt. Sie brachten ihn in einen Korridor ohne Überwachungskameras, wo vier oder fünf Beamte auf ihn einschlugen und ‑traten.

Entscheidend dafür, dass er die Haft ohne bleibende Gesundheitsschäden überstand, sei, dass er Prügel stets frontal stehend, in der Körpersprache der Offenheit, aufgefangen habe, betont der athletische Musiker. Dabei habe ihm auch sein Boxtraining geholfen, sagt er und nimmt zur Verdeutlichung die Boxergrundhaltung mit leicht gespanntem Torso ein. Dann läuft er auf Händen durch meine Wohnung, später demonstriert er mir einarmige Klimmzüge. Er habe oftmals Mithäftlinge erlebt, denen die Rippen gebrochen wurden, die blutig urinierten – sie waren oft unter Schlägen hingestürzt oder hätten sich zusammengekrümmt und von ihren Peinigern weggedreht, woraufhin diese sich manchmal in einen regelrechten Prügelrausch hineinsteigerten.

Gefangen als „Politischer“

In Belarus werde jedem Angeklagten ein Pflichtverteidiger zugeteilt, sagt Antipov. Er habe den klassischen Fehler begangen, der Anwältin zu vertrauen, als sei sie eine Verteidigerin. In Belarus kooperieren die Anwälte mit den Ermittlern, Staatsanwälten und Richtern als repressives Team. Seine Anwältin redete ihm zu, ein Geständnis abzulegen, um die Minimalstrafe zu bekommen, und verkündete ihm dann, sein Straftatbestand sehe sechs Jahre Haft vor. Vergleichbare Geschichten erzählten ihm mehrere Mithäftlinge.

Im Untersuchungsgefängnis saßen viele „Politische“ mit ihm ein, erinnert sich Antipov, vor allem „Kommentatoren“, die Nachrichten über Regime-Gegner verbreitet oder gelikt hatten, aber auch Ärzte, die Polizeiopfer behandelten, Journalisten, IT-Spezialisten oder Geschäftsleute. Das Zusammensein mit solchen Gebildeten sei, obwohl sie oft in überfüllte Zellen mit einem Loch im Boden als Abort gepfercht wurden, für ihn erholsam gewesen, sagt Antipov.

Das Regime erniedrigt seine Kritiker maximal. Diese Häftlingskategorie wird, auch wenn das Urteil noch aussteht, mit gelben Schildern als „zum Extremismus neigend“ qualifiziert, sie müssen auf Kommando des Aufsehers alle halbe Stunde zum Appell antreten und rufen: „Ich neige zu extremistischen und sonstigen destruktiven Handlungen.“

Bei Transporten erlebte Antipov, dass man ihnen besonders enge Handschellen anlegte, von denen ihre Hände gefühllos wurden, sie in eine gekrümmte Haltung zwang, auch wurden sie vermehrt geschlagen. Als er gegen Ende seiner Haft einmal an einen „humanen“ Dorfpolizisten geriet, der ihn nach seiner Gefängniserfahrung fragte, habe er geklagt, dass dort Leute für Likes und Kommentare einsäßen, sagt Antipov. Dem habe der „nette“ Beamte zugestimmt, zugleich aber versichert: Wenn seine Kollegen diese Leute nicht unterdrückten, dann würden sie von Leuten wie diesen unterdrückt werden – und das wäre noch schlimmer! Die Logik des Banditenstaats ist kristallklar.

Im Gefängnis, als der Krieg begann

Der Beginn der russischen Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 wurde im Gefängnis per Staatsradio als „Spezialoperation“ verkündet, die das Nachbarland entnazifizieren und demilitarisieren würde. Seine Mithäftlinge erwiesen sich entweder als aggressive Putinisten oder gleichgültig, sagt Antipov; entsetzt wie er selbst war nur eine Minderheit. Offenbar weil die Erfolge stockten, verschwand der Krieg dann aus den Nachrichten.

Viele Gefangene baten ihre Verwandten, zu schreiben, was in der Welt geschah, doch immer weniger Briefe kamen an. Auch die Verpflegung verschlechterte sich, die Preise im Gefängnisladen stiegen, und die Gefangenen wurden häufiger geschlagen.

Wie im sowjetischen so bilden auch im postsowjetischen Gefängnis Berufsverbrecher die Aristokratie. Einmal wurde er in die Zelle von einem „Boss“ verlegt, der zarengleich auf seinem Spind thronte, so Antipov. Seine Zelle hatte heißes Wasser und eine Toilette, die Luke in der Tür stand immer offen. Der Boss, der wegen Raubs einsaß, worauf er sehr stolz war, verhörte den Neuling nach den Kriminellenregeln und bezeichnete seinen Haftgrund als „Scheiße“. Dem habe er widersprochen, sagt Antipov, mit dem Argument, dass durch ihn niemand geschädigt worden sei, durch den Boss aber sehr viele – woraufhin dieser einen Wutanfall bekam.

Die Entmenschlichung im Gefängnis hat die dialektische Folge, dass Kriminelle allergisch auf Diskurse und Literatur reagieren, die das Tier im Menschen vor Augen führen, beobachtete Antipov, insbesondere auf Darwins Evolutionslehre oder die Geschichte der Entstehung der Arten. Die Ganoven wollen sich unbedingt als Ebenbilder Gottes fühlen. Um diesen Wunsch umzusetzen, wurde im Gefängnis die Kaste der Nichtmenschen geschaffen: Das sind durch Vergewaltigung oder die Berührung ihres Mundes durch das Glied eines „echten Kerls“ erniedrigten „Hähne“ (Petuchi). Ihnen darf man alles antun, man darf sie aber keinesfalls grüßen und ihnen weder die Hand geben noch von ihnen etwas annehmen.

Die Grenze zwischen den Kasten wird strikt eingehalten und symbolisch betont, vor allem durch „Hygieneregeln“, die eigentlich eine rituelle Purifikation sind. Waschbecken und Abort, die ein „Hahn“ benutzt hat, müssen desinfiziert werden, zugleich gilt die rektale Penetration als für den aktiven Part nicht kompromittierend. Er habe kriminellen Mitgefangenen erklärt, dass man sich durch den Analverkehr mit einem Menschen viel stärker verunreinige als durch dessen Händedruck oder das gemeinsame Benutzen der Toilette, sagt der Musiker. Die Diebe erklärten ihn für verrückt.

Zugleich suchen die Diebe nach Symbolen, anhand derer sie Mitgefangene den „Nichtmenschen“ zuordnen können. Als der Boss erfuhr, dass Antipov in Deutschland lebte, fragte er, ob er schon ein „Hahn“ sei – in Gayropa (so wird Europa in der russischen Propaganda genannt) liefen ja nur noch Schwule mit Regenbogenfahnen herum.

Bei dergleichen Disputen komme es darauf an, nicht klein beizugeben, sagt Antipov. Er fand einen Weg, den Kodex der Diebe gegen sie zu wenden. Einmal wollten Kriminelle einen jungen Mitgefangenen, dem sein Pantoffel in die Latrine gefallen war – nach den „Regeln“ ein gewichtiger Fehltritt –, zum „Hahn“ degradieren. Da warf der Musiker ihnen vor, mit ihrem Gerede von Gayropa wollten sie nur darüber hinwegtäuschen, dass sie selbst Päderasten seien, die einen Vorwand suchten, ihre geheimen Neigungen auszuleben. Die Räuber gaben nach und behaupteten später, sie hätten den Jungen keineswegs „herabstufen“, sondern nur ein bisschen erschrecken wollen.

Die geschlossene Psychiatrie als Ausweg

Der Musiker wurde aus der Komfort-Zelle in den Keller zu den „Politischen“ verlegt, wo ihn ein offenbar instruierter Provokateur weiter mit Gayropa und den Regenbogenfahnen löcherte. Er habe geantwortet, die störten ihn nicht, woraufhin der Provokateur sagte: „Dann bist du also ein Hahn?“ Als er nicht von ihm abließ, habe er den Störenfried mit zwei harten Kopfnüssen ruhiggestellt. Der drohte, er werde alle Haftanstalten instruieren, Antipov das Gefängnisleben schwer zu machen.

Sein eigener Widerstand gegen das Gefängnis habe darin gelegen, Drohungen sadistischer Wärter mit Humor und Freundlichkeit zu begegnen (was solche Leute beruhige), bezeugt Antipov. Er verfasste einen Aufsatz über die Musik Mozarts, was ihm den Spitznamen „Mozart“ einbrachte. Vor allem habe er viel gelesen, zumal Klassiker, aus denen er Stellen, die er genial fand, zur allgemeinen Erbauung rezitierte, etwa von dem Satiriker Michail Saltykow-Schtschedrin – womit er allerdings seine Mithäftlinge, die Kollektivstrafen befürchteten, gegen sich aufbrachte.

Antipovs Anwälte erkannten bald, dass er als psychisch krank, also schuldunfähig eingestuft werden musste, um freizukommen. Um diese Diagnose bemühten sich auch andere. In der geschlossenen Psychiatrie, wo man den Musiker auf seine Zurechnungsfähigkeit testete, wurden die Häftlinge daher ständig beobachtet, um Simulanten auszusortieren. Antipov kam in eine Zelle, in der ein „Patient“ saß, der permanent quiekte und lallte, von Protesten und der Oppositionspolitikerin Tichanowskaja faselte und bei Sprachtests das Papier aß. Der Mann, der für den gleichen Straftatbestand einsaß wie Antipov, war, wie sich später herausstellte, gebildet und polyglott, doch er bekam seine Bescheinigung.

Eine Taube rettet eine Ameise

Antipov ging einen anderen Weg und produzierte bei den Sprachtests manische Textmengen. Beim Lückentest musste er einen Text über eine Ameise vervollständigen, die in den Bach gefallen und am Ertrinken war, aber gerettet wurde, weil eine vorbeifliegende Taube ihr ein „…“ zuwarf. Antipov ergänzte, das müsse eine Leiter gewesen sei. Auf die Frage der Ärztin, ob er glaube, dass es Tauben gebe, die Leitern bei sich trügen, antwortete er, wenn sie annehme, dass es Tauben gebe, die Ameisen vor dem Ertrinken retteten, warum nicht?

Ein Test, der nur Ja- oder Nein-Antworten vorsah, enthielt Fangfragen wie: „Wenn Sie mit Freunden ein Verbrechen begangen hätten, könnten Sie die Schuld auf sich nehmen, um die Freunde zu retten?“ Antipov notierte: „Ich würde weder allein noch mit Freunden Verbrechen begehen.“

Obwohl die Anstaltsärzte Teil des Unterdrückungssystems sind, gebe es große Unterschiede zwischen ihnen, berichtet Antipov, und das Schicksal eines Patienten hänge davon ab, welcher Mediziner gerade Dienst tue. Da die Insassen der Klinik sehr wenig zu essen bekamen, klagten einige über Hunger oder Gesundheitsprobleme. Manche Ärzte hätten solche Patienten durch die Injektion von sedierenden Neuroleptika bestraft, so der Musiker, andere hingegen hätten die Zwangsbehandlung zu minimieren versucht. Er selbst habe sich benommen, als sei er ruhiggestellt und mit allem zufrieden.

Es gab unter den Medizinern Sadisten, so Antipov. Wie jener, der ihn für zehn Tage in den Psychiatriekarzer sperrte, weil er ein Spottgedicht von Puschkin rezitiert hatte. Dort wird allen Insassen das die Hirnaktivität und Motorik herunterfahrende Chlorpromazin in solchen Dosen gespritzt, dass sie sich weder bewegen noch sprechen können. Der Straftrakt wird daher „Gemüselager“ (Owoschtschebasa) für menschliche „Vegetables“ genannt. Er habe etwa die Hälfte des Injektats aus seinem Körper herausquetschen können, sagt Antipov, doch der Rest habe ihn in einen 36 Stunden währenden Albtraum versetzt. Am Ende bekam aber auch er seinen Schein.

Komponieren gegen die Hafterfahrung

Für die Entlassung bedurfte es außer dem ärztlichen Zeugnis noch eines Gerichtsbeschlusses. Diesen erwartete Antipov in einer milderen Anstalt, wo er eine Gitarre erhielt und ein Tablet, womit er die Symphonie, die er im Gefängnis zu schreiben begonnen hatte, fixierte und instrumentierte. Es ist ein filmmusikalisches Orchesterstück, das mit schillernden Streicherflächen, strengem Fugato und dräuenden Clustern die Hafterfahrung sublimiert und von der Düsseldorfer Neuen Philharmonie uraufgeführt werden soll. Vogelgleiche Flötenmelismen klingen wie eine Hommage an seine Frau, die Flötistin Asia Safikhanova, deren titanischem Einsatz – und der Mithilfe zahlreicher engagierter Menschen in Deutschland, Belarus und Russland – Antipov seine Freiheit verdankt.

Doch wieder sind seine großen Kräfte gefragt. Um den Berg seiner Schulden für Anwalts- und sonstige Kosten abzutragen, wollte er seinen alten Beruf als Industriekletterer wiederaufnehmen, musste jedoch feststellen, dass er in Deutschland dafür eine Lizenz braucht. Also wurde der starke Wassja Fahrer, als welcher er Spitzenleistungen erzielt.

Doch die Kultur seines Unternehmens erinnert ihn manchmal an die Schikanen in geschlossenen Unrechtssystemen: Wer nicht schnell genug ist, dem drohen die Administratoren mit Entlassung, sie beschimpfen ihn (wovon ich mich überzeugen konnte), sie entlohnen abgeleistete Stunden nicht; wenn jemand effizient arbeitet, machen sie dessen Höchstleistung zur Norm für alle und erklären den Langsameren, die Effizienteren seien schuld. Daher stumpfen seine Vollzeitkollegen ab und werden krank, berichtet Antipov.

Der Musiker selbst darf nur eine begrenzte Stundenzahl als Fahrer arbeiten. Daher nimmt er allmählich die Konzerttätigkeit wieder auf, vor allem aber das Komponieren und hat außer der noch unvollendeten Symphonie schon den ersten Satz eines Quintetts auf Youtube gepostet.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 17.3.2023 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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